Fiktion und Hypothese
Fon Dr. M, Kronenberg, Berlin.
Wenn man die vergangene Kulturperiode, insbesondere die letzten zwei bis drei Menschenalter, nach ihrem besonders hervorstechenden Zuge charakterisieren wollte, so pflegte man sie mit gutem Grunde als das Zeitalter der Technik zu bezeichnen. Dieser Ausdruck wird nicht immer in genau demselben eindeutigen Sinne genommen. In seiner allgemeinsten, umfassendsten Bedeutung weist er jedenfalls zunächst auf die Tatsache hin, daß in dieser Periode der Sinn der Menschen in ganz besondrem Maße auf das Praktisch-Nützliche. auf das, was unmittelbar dem Leben dienen könnte, gerichtet war, und daß daher auch das theoretische Interesse dem praktischen überwiegend untergeordnet, die Erkenntnis von der Trage nach ihrer praktischen Verwertbarkeit teils veranlaßt, teils wenigstens stark mitbestimmt wurde. Das gilt nicht bloß, wie man häufig- meint, für die Technik im engeren Sinne, derjenigen nämlich, die mit den theoretischen Naturwissenschaften verschwistert ist; es gilt z. B. ebenso für die Technik des sozialen Lebens, deren Aufgaben und Bedürfnisse zahlreiche Zweige der Sozialwissenschaft teils in stärkster Weise beeinflußt und bestimmt, teils überhaupt erst ins Leben gerufen haben.
Unter solchen Umständen ist es erklärlich genug, daß allmählich in immer stärkerem Grade die Meinung um sich griff, nicht bloß dieses oder jenes einzelne Erkenntnisgebiet, sondern die Erkenntnis überhaupt sei unter technischen Gesichtspunkten zu betrachten, das Denken werde nicht nur tatsächlich von den praktisch-nützlichen Lebenszwecken bestimmt, sondern müsse ihnen auch immer bewußter untergeordnet und in ihren Dienst, gestellt werden. Ja, für diese Auffassung mußte so schließlich das Denken selbst einen technischen Charakter annehmen, als ein Mechanismus, eine Maschine, ein Instrument im Dienste des Lebens betrachtet werden, die Logik also als eine Art Technologie des Erkennens zu gelten haben
Diese Auffassungsweise ist denn auch in der jüngsten Vergangenheit vielfach schon hervorgetreten, bald mehr, bald weniger deutlich und bestimmt, das eine Mal innerhalb engerer Grenzen, und dann wieder in ausgedehnterem Maße. Aber sie hat bis jetzt wohl noch keinen so klaren und konsequenten Ausdruck gefunden wie in dem unlängst erschienenen Werke des Hallenser Philosophen Hans Vaihinger über die Philosophie des Als Ob1). Es hat in dieser Hinsicht auch
'} Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Diktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit von verschiedenen Seiten her berechtigte Aufmerksamkeit gefunden, so daß der umfangreiche Band von 800 Seiten schon nach kurzer Zeit in der eben vorliegenden zweiten Auflage erscheinen konnte.
Zu diesem Erfolge des Buches haben wohl seine Schicksale und die eigenartigen Umstände, unter denen es ans Licht trat, einiges beigetragen. Es ist seinen wesentlichen Hauptstücken nach bereits vor mehr als einem Menschenalter, Ende der .siebziger Jahre, entstanden und alsdann infolge mannigfacher innerer und äußerer Hemmungen, über die im Vorwort eingehend berichtet wird, liegen geblieben. Dies war der Grund, weshalb der Verfasser sich beim ersten Erscheinen zunächst nur als Herausgeber, also mit der Fiktion, daß ein anderer das Buch verfaßt habe, bezeichnete und erst nachträglich, als das Werk Anklang fand und vielfach sehr beifällig begrüßt wurde, sich zu seiner Autorschaft bekannte. Denn „was der Fünfundzwanzigjährige geschrieben hat, dem steht der Sechzigjährige ganz anders und als ein ganz anderer, ja. als ein Fremder, gegenüber. Mit gereifter Kritik sieht der Ergraute die vielen Unvollkommenheiten des Jugendwerkes, und er mußte es daher für eine Art Anmaßung halten, wenn er ohne weiteres der wissenschaftlichen Welt zumutete,. das als sein Werk aufzunehmen, was nicht mehr sein Werk ist, und das doch seinen unterdessen bekannt gewordenen Namen getragen hätte.". Dazu kommt dann als weiterer bestimmender Grund, daß dem Verfasser eben erst' jetzt die Zeitdisposition günstig erschien für die Aufnahme seiner Gedanken. Er nennt in dieser Hinsicht zahlreiche Namen und literarisch-wissenschaftliche Erscheinungen, die sich mit seiner Auffassung im ganzen oder im einzelnen nah berühren, und er zieht diese auch im Fortgang des Werkes immer wieder zur Stütze seiner Darlegungen heran.
Indessen ist es doch natürlich vor allem der innere Wert des Buches, der die weitgehende Beachtung, die es gefunden, durchaus rechtfertigt. Es verdient solche auch an dieser Stelle um so mehr, als der Verfasser ausdrücklich hervorhebt und weiterhin erweist, daß zu jener Zeit, als seine Gedanken bereits feststanden, sie „im wesentlichen beeinflußt waren durch mathematische und naturwissenschaftliche Studien, besonders durch den damals in seiner Vollblüte stehenden Darwinismus und dessen erste Anwendungen aut einem Anhang über Kant und Nietesche; von Hans Vaihinger. 2. durchgesehene Auflage. Berlin 1913-, Verlag von Reuther & Reichard.
das geistige Leben". Ei nennt dann als diejeni- gen Philosophen, die ihn „am stärksten gepackt hatten", Kani und Schopenhauer sowie den von beiden abhängigen F. A. Lange. Letzterer, dem die Grundgedanken des Werkes von Vaihinger brieflich dargelegt worden waren, schrieb kurz vor seinem Tode an den Verfasser den Satz, welcher jetzt dem Werke als Motto vorangesetzt ist: „Ich bin überzeugt, daß der hier hervorgehobene Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie werden wird." In zweiter Linie waren dann auch Fichte und Hegel von Einfluß auf den Verfasser, sodann der Empirismus und Positivismus von J. St. Mill, die Psychologie von Wundt und Steinthal, sowie das Werk von Horwicz „Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage", von dem er bekennt, daß es einen „unauslöschlichen Eindruck" auf ihn gemacht habe.
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