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II. Diese Gruppe leitet schon zu einem Tiefenproblem über:

Die Fiktion als Werkzeug geheimer Durchbrechung und Sabotierung unhaltbar gewordener Obersätze (S. 81—127). Indessen rechnet Esser hierzu auch Fälle, denen der Schleichwegcharakter der »geheimen« Durchbrechung durchaus fehlt, wie insbesondere die sog. »historische« Fiktion (S. 81 ff.). Diese ist, wie zuvor gesagt (I), Ausdruck der Sinngebung durch ein Denken in Urbildern, das sich auf der Brücke der Fiktion in neuentdeckte soziale Wirklichkeiten vorkämpft (Arrogation zur Fortsetzung des Hauskults für den Kinderlosen; Emanzipation durch Scheinverkauf)[1]).

Wir kehren zur dogmatischen Fiktion zurück. Soweit bei dieser die »heimliche« Durchbrechung in Wahrheit nur eine unbewußte ist, ist sie oft eine dem Rechtsdenken durchaus angemessene Form, weit entfernt von stumpfer Rechtstücke oder barbarischer Unbeholfenheit. Sie ist hier ähnlich wie die Analogie ein Mittel der geistigen Anschauung, der notwendige Weg, auf dem Wesenszusammenhänge begriffen werden, anstatt in schleppender Logik deduziert zu werden. So ist sie nicht nur eine »Reparatur« (S. 50 ff., 89), wie sie der rationalistischen Abwertung erscheint. Freilich stimmen wir dem Urteil des Verfassers über die Grenzen der Berechtigung dieser Fiktion praktisch meist zu. Einmal ist sie nie eine reine Form des dogmatischen Ausdrucks, sondern nur eine relativ berechtigte Durchgangsstufe, da sich Rechtserkenntnis ihrem Gegenstand nach stets wandelt. Die dogmatische Fiktion wird vollends zur unerträglichen Rückständigkeit, wo sich das neue Rechtsprinzip bereits, wie die Blüte aus dem Kelchblatt, völlig entfaltet hat. Die gegenwärtige Rechtswissenschaft muß noch viele solcher Schlangenhäute abstreifen.

Wo endlich die Fiktion der absichtlichen Zerstörung preisgegebener Obersätze dient, wie die vom Verfasser (S. 98 ft) sog. definitorische Fiktion, da widerspricht sie unbedingt einem höchsten Leitwert der Dogmatik und der Gesetzgebung: der Wahrhaftigkeit und Wirklichkeitsgerechtigkeit der Rechtsgestaltung. Solche Fiktionen, die der Verfasser höchst eindrucksvoll am Muster einiger Geschäftsbedingungen erläutern kann (S. 103 Anm. 58), sind schlechthin zu verwerfen.

Der nächste Abschnitt betrifft Bereiche der allgemeinen Rechtstheorie: »juristische Begriffsbildungundjuristische Logik« (S.128—140), »Rechtslogik« und vermeintliche Eigengesetzlichkeit der juristischen Tatsachen (S. 141—170) und »irrtümlich vorausgesetzte Gegenständlichkeit der Rechtsbegriffe« (S. 171—198). Dem Verfasser wird hier die Fiktion zum Anlaß, den durch Fritz v. Hippd begonnenen Kampf gegen die »Verwechselung des natürlichen Sachverhalts mit seiner rechtlichen Wertung«, gegen die »Normpersonifikationen«, gegen »Begriffspositivismus« und »dogmatische Axiomatik« fortzusetzen. Es liegt im Wesen einer Besprechung, daß sie auch die schwachen Punkte eines solchen verdienstvollen Kämpfens scharf ins Auge fassen muß.


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[1] Verf. folgt übrigens einem wenig glücklichen Einfall Jherings, wenn er die »historische« neben die »dogmatische« Fiktion setzt, als handele es sich um zwei verschiedene und nebengeordnete Unterfälle des Begriffs Fiktion.

Man könnte zunächst nach dem Zusammenhang dieser grundsätzlichen Fragen mit der Fiktion fragen. Vom Standpunkt des Verfassers ist dieser Zusammenhang eine Notwendigkeit. Der normativistische Rationalismus (von dem sich der Verfasser bei Beginn seiner Fragestellung noch nicht gelöst hat) wird notwendig alle komplexen Vorstellungsbilder des volkstümlichen und des wissenschaftlichen Rechtsdenkens (Eigentum, Pfandrecht, Verein, Körperschaft, ja selbst Rechtspersönlichkeit, Ehe, Verwandtschaft) rücksichtslos in »Normenkomplexe« auflösen; sie würden ja sonst die methodischen Ansprüche des Rationalismus Lügen strafen. Es ist mehr vernünftig als folgerichtig, wenn Esser (S. 130 Anm. 120) den Staat selbst ausdrücklich gegen dieses Verfahren in Schutz nimmt. Von diesem Standpunkt aus läuft schließlich jede in Normen nicht mehr auflösbare geistige oder soziale Wirklichkeit Gefahr, als Fiktion verdächtigt zu werden: gegenüber der allein anerkannten Wirklichkeit der reinen Normenordnung sinkt am Ende jede empirische und soziale Wirklichkeit in das Scheinreich der Fiktionen ab.

Natürlich ist dies nicht der Standpunkt des Verfassers, der sich vielmehr wiederholt gegen den absoluten Normpositivismus, z. B. des Neukantianismus oder der reinen Rechtslehre verwahrt und überhaupt gleichsam mit seinem besseren Selbst die Wesenhaftigkeit der rechtlichen Wirklichkeitsgefüge nicht verkennt. Gleichwohl neigt er gelegentlich zu Formeln, die mit dieser Verwahrung kaum in Einklang stehen; so erscheint die Rechtspersönlichkeit als »Gegenstand objektivrechtlicher Zuordnung«, der Verein, das Pfandrecht, der Nießbrauch als »Normenkomplexe«, Begriffe, die der Gesetzgeber offenbar der sozialen Wirklichkeit entlehnt hat (wie die »Jagdbarkeit«), als »reine Rechtsbegriffe«.

Dem entspricht es, wenn der Verfasser geschichtliche Höchstleistungen der juristischen Anschauungskraft, wie die Verliegenschaftung beweglicher Sachen und andrer Gegenstände in deutschen, griechischen und anderen Rechten, zu unberechtigten »Fiktionen« abwertet. Anders ist es nicht zu begreifen, wenn er die trotz ihrer etwas spröden Fassung sehr vernünftige Gleichsetzung des Erbbaurechts mit dem Grundstück als »begrifflichen Unfug« geißelt. Die Konsequenz dieser Betrachtung würde notwendig zu der Forderung führen, die Rechtswissenschaft müßte auf jede nicht auf Normen zurückführbare Anschauung ihres Gegenstandes verzichten.

Wer sich dagegen dazu bekennt, daß die Rechtswissenschaft nicht reine Normbezüge in einer absoluten Rechtswelt, sondern immanent rechtshaltige Wirklichkeitsgefüge zu ihrem Gegenstand hat und daher in ihrer Methode wirklichkeitsbestimmt ist, wird eine prinzipielle Scheidung zwischen »bloßen Tatsachen« und »reinen Rechtsbegriffen« in diesem Sinn nicht für möglich halten. Er wird vielmehr in den großen Urgestalten des vorwissenschaftlichen Rechtsdenkens wie Eigentum, Vertrag, Verein, Körperschaft, Persönlichkeit, Ehe, Staat, Volk objektive Wirklichkeiten höherer Ordnung sehen, die als solche auch schon geistige Wirklichkeiten sind; Wirklichkeiten, an denen das Recht nicht nur empirisch erscheint, sondern an die seine Existenz dem Wesen
nach gebunden ist. Begriffe dieser Art sind Wirklichkeiten des Geistes und des menschlichen Lebens zugleich. All diese Begriffe sind als Wirklichkeiten der Anschauung zugänglich und bedürftig, und das Mittel dieser Anschauung ist das fruchtbare Bild. So ist es in Wahrheit die alte große Schlacht zwischen Realismus und Nominalismus, die Sich hier erneut.

Folgerichtig holt daher Esser von seinem entgegengesetzten Standpunkt aus nunmehr zu einem Generalangriff gegen die »Begriffsjurisprudenz«, die »juristische Logik« aus (S. 128 ff.). Es ist bekanntlich ein Verdienst Fritz v. Hippels, mit starkem Wahrheitssinn vor einer methodisch reichlich unbefangenen Wissenschaft die Berechtigung einer »juristischen Bildersprache«, des »Begriffsformalismus«, der »körperlichen Betrachtung« und ähnlicher Verfahren in Frage gestellt zu haben. Esser nimmt diese Kritik auf; er meint, in der Fiktion den eigentlichen Kunstgriff entlarvt zu haben, der die Unzulässigkeit dieser Verfahren verdeckt, und versucht, dies an der bekannten Axio- matik der Konfusion, des Identitätsgrundsatzes (z. B. beim Erlöschen der Pfandrechte mit der Forderung), des Prinzips >memo plus iuris ...«, des Erlöschens und der Übertragung von Rechten zu zeigen.

Diese Angriffe sind zu einem guten Teil berechtigt. Auch wir verteidigen nicht die Schlußfolgerungen einer Scheinaxiomatik, die in der eingeborenen Struktur des Rechts und seines notwendigen bildlichen Ausdrucks in Gedanken und Wort nicht begründet ist. Dies gilt etwa für die vom Verfasser sog. »rückwirkende Fiktion« (S. 171 ff.), wie etwa die oft sachwidrige und ungerechte ex tunc-Wirkung. Niemand wird die Schädlichkeit eines naiven oder bornierten Begriffspiels verkennen, das die Rechenpfennige für lauteres Gold hält.

Aber damit ist die ernstere Frage nach dem echten Sinn rechtlicher Begriffsschöpfung noch nicht abgetan, nämlich die Frage, wie denn überhaupt die Darstellung des Rechts als eines existierenden Gegenstandes abgelöst werden kann von den Vorstellungs- und Sprachmitteln, welche Rechtsvorgänge und Rechtswirkungen im Bilde natürlichen Geschehens fassen müssen. Viele Gegner der Begriffsjurisprudenz geben sich von dieser Notwendigkeit keine genügende Rechenschaft. Da das Recht und die menschlichen Vorstellungen über das Recht unauflöslich in die empirische Wirklichkeit des menschlichen Lebens eingewoben sind und kein menschliches Vorstellen, Sprechen und Mitteilen der Voraussetzung dieser Wirklichkeit entraten kann, so ist jede Rechtskunde oder Rechtswissenschaft notwendig auf die allgemeinen Anschauungsformen angewiesen, die dem Bilde des äußeren Geschehens entnommen sind, und tut recht daran, sie zu verwenden. Nicht anders drückt der moderne Physiker seine schöpferische Erkenntnis im Atommodell aus, ohne es als empirische Wirklichkeit zu nehmen.

»Der Verein A hat seine Rechte auf die Gesellschaft B übertragen«, »ich kann dir diese Ware nicht mehr verkaufen, weil ich sie schon dem X verkauft habe«; »das Gut rinnt wie das Blut«, »der Tote erbt den Lebendigen« : diese Aussagen sind gewiß nicht Zeugen eines fiktiven
Begriffsrealismus oder wissenschaftliche Mystifikationen, sondern uralte und täglich neue Redeweisen, also Ausdrucksformen der kollektiven Anschauung der Volksgenossen von existierenden Sachverhalten. Die Begriffssprache der Jurisprudenz ist, solange sie sich nicht vom Weg verliert, nur die wissenschaftliche Überformung dieser in der Gemeinschaft objektiv vorgegebenen Anschauungen von rechtlicher Wirklichkeit. »Normpersonifikationen«, wie Verein, Gesellschaft, Staat, und »juristische Vergegenständlichungen«, wie Eigentum, Pfandrecht und Nießbrauch, sind also in Wahrheit notwendige Urformen, in denen menschliches Denken die objektive Wirklichkeit des Rechts erfährt und in der Sprache ausdrückt. Sie sind so wenig »fiktive Vergegenständlichungen« wie Volk, Ehre, Krieg, Gesinnung und ähnliche höchste Grundtatsachen unserer Existenz.

Ähnliches gilt auch für einen Teil der »körperweltlichen Scheinaxiome« wie z. B. die »Übertragung«, das »Entstehen« oder »Erlöschen« von Rechten. So wahr Zeit, Raum und Kausalität Kategorien der reinen Anschauung sind, so notwendig ist in gewissem Grade die von Esser und seiner Richtung beklagte »Körperhaftigkeit« und »Quasikausalität« der Rechtsbegriffe für jede Bezeichnung, d. h. aber auch für jede Wahrnehmung, Mitteilung und Setzung des in der Wirklichkeit des völkischen Rechtslebens aufleuchtenden Rechtsgehalts. Diese methodischen Wahrheiten werden nicht mehr bestritten werden, sobald überwundene Zeit Strömungen wie der Neukantianismus, der Nonnativismus und andere Positivismen aller Spielarten auch in der Rechtswissenschaft ganz abgeklungen sind und der Blick auf die wahrhaft wirklichen Sachverhalte wie Gemeinschaft und Staat, aber auch »Eigentum«, »Schuld« und »Körperschaft« wieder ganz frei geworden ist. Irren wir nicht, so würde auch der Verfasser der Notwendigkeit dieser Wendung nicht widersprechen; denn auch er kennt eine »Natur der Dinge«, eine »natürliche Ordnung«, natürlich »vorgegebene Anschauungen« (S. 109,49,117 und dazu Brandt a. a. O.).

Die Front gegen die Begriffsjurisprudenz ist also vom rationalistischen Normpositivismus her nicht zu halten; es bestätigt sich auch hier die Erfahrung, daß es kein Schade wäre, wenn der übliche und gewiß löbliche Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz wählerischer und behutsamer geführt würde. Kampf gegen falsche Begriffsjurisprudenz ist natürlich eine ständige Notwendigkeit unserer Wissenschaft. Wo es wahre Anschauung gibt, dort droht auch falsche Anschauung oder grundlose Phantasie oder rückständige Abkapselung überlieferter Anschauungsgehalte von der täglichen Wirklichkeit, in der allein der echte Begriff existiert und immer sich erneut[1]). Von solchen Übertreibungen und Abwegen der sog. »Begriffsjurisprudenz« uns befreien zu helfen, ist gewiß ein großes polemisches Verdienst Essers und seiner Richtung, die zur Klärung methodischer Positionen aufrief, wo der Verfall in naive Routine drohte. Der Wert der Arbeit erschöpft sich nicht in diesem allgemeinen Verdienst.


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[1] Zu dieser prinzipiellen Dialektik förderlich Brandt, a. a. O.


Esser hat das Vorfeld der gesetzgeberischen Fiktionstechnik sorgsam abgeleuchtet und dem Gesetzestechniker wesentliche, meist zutreffende Winke für den nutzbringenden Gebrauch und die Grenzen der Fiktion gegeben, denen wir dringend Beachtung wünschen. Er hat die heimliche Durchbrechung preisgegebener Obersätze durch den Kunstgriff der Fiktionen bloßgestellt und mit Recht vor diesem Schleichweg gewarnt. Endlich hat er auch den relativen Wert der Fiktion als Durchgangsstufe zu neuen Rechtsschöpfungen verdeutlicht und mit alledem ein Problem angeschnitten, in dessen Tiefe große methodische Entscheidungen fallen, und das daher zu Unrecht lange fast vergessen war.

Zu einer klaren Entscheidung zwischen den Fronten ist das Buch noch nicht gelangt. Denn soweit es sich von einem rationalen Normpositivismus leiten ließ, mußte es die tiefere Berechtigung fiktiver Begriffsbildung verurteilen. Denn für den reinen Normativismus kann es keine objektive Anschauung des Rechts, also auch keine berechtigte Fiktion geben: hier wird das Recht nicht, sondern es wird bloß fabriziert oder erdacht. Aber zugleich war der Verfasser einsichtig genug, die Wirklichkeiten des völkischen Rechts nicht zu übersehen, die sich weder normieren noch rationalisieren lassen. So bleibt sein Buch ein Spiegel der zeitlosen Dialektik, die zwischen den großen bestimmenden Merkmalen des Rechts auf und ab schwingt und erst in Wort und Tat des großen Rechtsschöpfers, sei er Gesetzgeber oder Richter, sich versöhnt.

Glungler, Wilhelm, Theorie der Politik. Grundlehren einer Wissenschaft von Volk und Staat. München und Leipzig 1939. F. u. J. Voglrieder. VIII, 744 S. RM. 28.50.

Den ersten Versuch, eine verbindliche und damit wirklichkeitsmächtige Lehre vom Wesen (Sein) des Politischen aufzustellen, hat das griechische Denken gemacht. Seitdem liegen Frageweise und Thematik der Staatslehre für den abendländischen Denkkreis fest. Ja, daß es überhaupt zu einem Fragen nach dem Politischen kommen konnte, daß es fragbar und fragwürdig geworden ist, gehört unaufhebbar mit zu diesem Ursprung der politischen Wissenschaft. Wenn auch die. herkömmliche Scheidung: alle vorsokratische (vorsophistische) Philosophie ist »Naturphilosophie, alle spätere ist »Kultur«- (Sozial-) philosophic, einen modernen Schematismus anachronistisch gebraucht und daher falsch ist, so steckt doch ein Kem wesentlicher Erkenntnis darin. Es ist dieser: erst im Augenblick des Verlustes der politischen Lebensganzheit wurde die politische Theorie geboren.

Seitdem ist es das Schicksal aller systematischen Lehren vom Politischen, entweder nachträglich oder vorläufig zu sein. Sie erscheinen als nachträgliche Einfangung des politischen Lebensgehalts und damit zugleich immer irgendwie überflüssig, wenn sie unrevolutionäre Darstellungen des Faktischen, wie es »wirklich ist«, Überschau und Zusammenfassung geben wollen. Sie erscheinen als vorläufige Konstruk-

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