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RECHTSBEGRIFF UND JURISTISCHE FIKTION

Eine Besprechung*)

Von

FRANZ WIEACKER​


I. Der Gegenstand dieser eigentümlichen und gedankenreichen Schrift ist ein doppelter: die juristische Fiktion in der Gesetzgebungstechnik und in der Rechtsdogmatik.

♦) Zu: Esser, Josef, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen. Kritisches zur Technik der Gesetzgebung und zur bisherigen Dogmatik des Privatrechts. (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Reihe, Bd. 4.) Frankfurt a. M. 1940. Vittorio Klostermann. 209 S. RM. 6.50.

Eine Einleitung grenzt die Rechtsfiktion gegen die »philosophische«, d. h. erkenntnistheoretische Fiktion ab und bestimmt den Inhalt dieses Begriffs. Aus der Gebotsstruktur des Rechts leitet Esset mit grundsätzlicher Berechtigung eine strenge Autonomie der Rechtsfiktion gegenüber der erkenntnistheoretischen Fiktion ab (S. 26 ff.). Die Grundfigur der juristischen Fiktion ist daher nicht die Aussage: B = A, sondern die Norm: an den Tatbestand B werden die gleichen Verbaltensbefehle geknüpft wie an den Tatbestand A. In ihrer reinen Form stellt sich also die Gesetzesfiktion als »Kurzform der Verweisung«, also als gesetzgebungstechnisches Ausdrucksmittel dar, dessen Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit sich ausschließlich nach gesetzgebungspolitischen Werten bestimmen, wie etwa der Anschaulichkeit, Plastizität, Genauigkeit oder Volkstümlichkeit einer Gesetzesnorm. Die Gefahren dieses Ausdrucksmittels beginnen für eine Gesetzgebung, die sich als Dienerin der völkischen Wirklichkeit fühlt, offenbar genau dort, wo eine solche Verweisung den anschaulichen Ausdruck der Norm entstellt. Hierüber ist noch näher zu sprechen.

Der Ort der Fiktion im Rahmen einer streng rationalen Gesetzgebung wäre damit erschöpft. Aber in der Geschichte und in der Theorie des Rechts hat die Fiktion tiefere Ursprünge, die im Wesen der Wirklichkeit des Rechtes selbst gründen, wo immer Recht und Gesetz nicht einfach gleichgesetzt werden. Die moderne Fiktion ist gleichsam der dürftige Nachfahr großer Ahnen in der Geschichte des Rechtsdenkens. Diese andere Seite der Fiktion tritt zumal in der Geschichte kasuistischer Rechtskulturen zutage wie vor allem in der vorklassischen und klassischen römischen Rechtskunde; sie ist aber auch dem deutschen Rechte vor der Rezeption, ja sie ist selbst der Gegenwart nicht fremd. In diesen Bereichen ist die Fiktion nichts Geringeres als das Vehikel, mit dem eine überlieferungsgebundene und formhörige Fachkunst sich neue Wirklichkeitsräume erschließt, vergleichbar etwa der Analogie in den modernen Rechtskulturen. So ist die Fiktion das große Rechtsschöpfungsorgan der vorklassischen Formularjurisprudenz und des prätorischen Edikts geworden und damit eine der Ursachen der Größe der römischen Rechtskunst.

Versuchen wir den Sinn dieses Vorgangs aufzuklären. Wo die Lebensformen einer Gemeinschaft im ganzen und die Rechtsanwendung im besonderen unter der Botmäßigkeit überkommener Sätze und Darstellungsmittel stehen, ist die freie rationale Rechtsschöpfung, die uns Heutigen selbstverständlich ist, nicht denkbar. Der Durchbruch der Rechtsüberlieferung in neue Anwendungsbereiche gelingt nur auf dem Umweg über eine assoziative Denkhilfe: die Gleichsetzung eines zu regelnden mit einem bereits ausgeformten Tatbestand. So wird etwa die Rechtsverteidigung des gutgläubigen Besitzers, der vom Nichtberechtigten gekauft hatte, durch die Fiktion ermöglicht, er habe schon ein Jahr die Sache besessen und also Eigentum ersessen (actio Publiciana). Dies Verfahren steht der gleichfalls assoziativen und induktiven Rechtsanalogie nahe; auch diese ist ohne die Hilfe einer annähernden Anschauung (»Rechtsähnlichkeit«) nicht vollziehbar. Aber

Zeitschrift für die ges. Staatswiasensch. xoa. 1.

der Geltungsgrund der Fiktion ist ein anderer als derjenige der Analogie. Während beim Analogieschluß durch die Anschauung einer Rechtsähnlichkeit ein im übrigen rechtslogisch schließendes Verfahren lediglich angeregt wird, beruht die Fiktion in der römischen Sakraltechnik und in der vorklassischen Jurisprudenz auf der Voraussetzung einer eigenständigen, durch präkausale Geltungsbeziehungen verknüpften Formenwelt des Rechts: simulacra pro veris accipiuntur. Wir brauchen hierbei nicht gleich von einem »mythischen« oder gar »magischen« Denken zu sprechen, so altertümlich dies Denken immerhin ist. In dieser Rechtswelt ist es für die gleiche Rechtswirkung erforderlich und genügend, daß die gleiche Rechtsform auf einen anderen Tatbestand angewendet wird, dessen »Rechtsähnlichkeit« nicht gefordert wird. Die altrömische Sakral- und Rechtsfiktion ist also eine ontologische Fiktion; sie meint Identität des fingierten mit dem wahren Tatbestand (B = A); sie ist keine Verweisung (B soll gerechterweise wie A behandelt werden), wie Esser (S. 20 ff., bes. S. 23) unter dem Einfluß der älteren Arbeit von Demelius meint. Aus der vorklassischen Rechtstechnik der Römer ist die Fiktion dann in das Rüstzeug der überlieferten Kunstgriffe der klassischen Rechtskunde übernommen worden, so wenig diese Jurisprudenz im übrigen noch etwa einer archaischen Vorstellungswelt hörig ist.

Diese geschichtliche Vorbemerkung ist nicht bedeutungslos. In der Fiktion birgt sich also neben der rationalen Kurz Verweisung ein ewiges Element des Rechtes selbst: seine Einwurzelung in die sinnenhafte Anschauung rechtshaltiger Wirklichkeiten. In frühen, anschauungsgesättigten Rechtskulturen wiegt daher die Fiktion vor; in rationalen Rechtskulturen, wie den modernen des europäischen Kontinents, verkümmert sie, ohne jemals ganz zu fehlen, wie noch heute die weite Verbreitung der Analogie als einer Restform anschauender Rechtserkenntnis bezeugt. Und zuweilen dringt diese tiefere Schicht der Fiktion auch in modernen Rechten vor, so vor allem in der »naturhistorischen Methode« der Begriffsjurisprudenz, welche die Rechtswirkungen nach dem Bilde der natürlichen Körperwelt betrachtet und von »Erlöschen«, »Entstehung«, »Verdrängen« und »Übergehen« der Rechte spricht. Wir werden später noch zu fragen haben, ob nicht gerade in dieser vorrationalen Schicht des wissenschaftlichen Denkens, über die Esser im zweiten Teil seines Buches so streng zu Gericht sitzt, mißbrauchte schöpferische Werte liegen, die nur der Meisterung harren, nämlich der Rückgriff auf die Verwurzelung alles fruchtbaren Denkens in den Wirklichkeiten der Anschauung des schöpferischen Geistes. Das ist ein Vermögen, welches der normativistische und der materialistische Positivismus, Kinder eines rationalen und anschauungsarmen Zeitalters, so gerne verleugnen. Für diese Möglichkeit mag schon hier sprechen, wie gern sich die fruchtbarste Rechtschöpfung aller Zeiten, das Edikt des römischen Prätors, der Fiktion bedient hat.

So ist, worauf kürzlich Brandt zutreffend hingewieseii hat[1]), die un-
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[1] Wert und Unwert der Fiktion. Zur geistigen Lage der heutigen Privatrechtsdogmatik in Dt. Recht 1941, 1379«

Franz Wieacker, Rechtsbegriff und juristische Fiktion 17g scheinbare Rechtsfiktion der Schauplatz einer großen Auseinandersetzung zwischen jenen Strömungen, die innere Form und Anschauung zu den wesentlichen Elementen der Existenz des Rechtes in der Wirklichkeit rechnen und der rationalen Denkart, welcher der Positivismus aller Arten hörig ist; sei es die Spielart des Gesetzespositivismus, des Normpositivismus (z. B. »Reine Rechtslehre«) oder des soziologischen Positivismus (z. B. »Freirechtsschule«). Es begründet den Rang des besprochenen Buchs, diese prinzipielle Bedeutung der Fiktion gesehen zu haben, und es ist zugleich seine Grenze, eine klare Entscheidung zwischen diesen beiden Fronten nicht vollzogen zu haben.

Im ersten Abschnitt des Hauptteils (S. 37—91) handelt der Verfasser zunächst vom Wert der Fiktion in der Gesetzgebung der Gegenwart. Er prüft hier zuerst die Oberflächenschicht des Problems: die Fiktion als Mittel der Gesetzgebungstechnik. Sie diene hier als Kurzverweisung (z. B. §§ 894 ft. ZPO.), zur Abschneidung von Zweifelsfragen (z. B. 2306 BGB.) oder zum Zweck plastischer Darstellung des Gesetzesinhalts (z. B. §§ 1978 Abs. I; § 1978 I BGB.). Die sorgfältige Durchleuchtung des technischen Gesetzesausdrucks — der ja für die Wirkung des Gesetzes auf die Gemeinschaft so viel bedeutet — entspricht gerade heute einem dringenden Bedürfnis. Über Anwendung oder Ablehnung der Fiktion geben hier die Rechtswerte der Deutlichkeit, Klarheit und Wahrhaftigkeit ausschließlich den Ausschlag. Man wird die Fiktion überall unbedingt verwerfen müssen, wo diese Werte geschädigt werden, So ist z. B. die unanschauliche Fiktion noch schädlicher als die berüchtigte ausdrückliche Verweisung. Die Gefahrengrenze sehe ich im Gegensatz zum Verfasser (S. 114 ff.) schon in der Fiktion des § 1589 Abs. 1 überschritten, nach dem das Kind als mit dem außerehelichen Vater nicht verwandt gilt. Diese Fiktion zerstört das Bewußtsein, daß die physische Blutsverwandtschaft zwischen Erzeuger und Kind sich in einer Rechtsstellung ausdrückt — die freilich eine andere ist als die des ehelichen Kindes —, und führt daher auf unrichtige Konstruktionen, z. B. des Unterhaltsanspruchs.

Leider tritt Verfasser auch den bekannten Fiktionen oder unwiderleglichen Vermutungen nicht genügend entgegen, die zur Herbeiführung eines Rechtserfolges einen rechtsgeschäftlichen Parteiwillen fingieren oder unwiderleglich vermuten (S. 50 ff.). Schon Brandt wendet zutreffend ein, daß diese Kunstgriffe nur den Durchbruch zu neuen Geltungsgrundlagen des Privatrechts verdecken; so verbirgt die Fiktion des Parteiwillens oft den Übergang von der unbeschränkten Vertragsautonomie zur sachgemäßen Ableitung der Vertragspflichten aus der objektiven Vertragsordnung. Dies ist um so verhängnisvoller, als die Rechtsprechung diese verdeckende Betrachtung ins Ungemessene ausdehnt, wie die bekannten Beispiele der Haftung bei Gefälligkeiten oder die Konstruktionen zu § 278 lehren. Wer in diesen Vorgängen die Wandlung der unbeschränkten Privatautonomie zur Sachnatur der Vertragsordnung erkennt, wird diese Fiktionen nicht so angemessen finden wie Esser und ihren schleunigen Abbau in Gesetz, Rechtsprechung und Wissenschaft fordern.