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Erst im Einklänge mit diefem Grundgesetze

Erst im Einklänge mit diefem Grundgesetze wird Religiosität oder angewandte Religion möglich. Es kann keine empirische Religion geben ohne die reine Religion, roliZio noumenon. Durch Beziehung dieser auf das Ganze der religiösen Erfahrung, ja man kann sagen der Erfahrung überhaupt, wird die reine Religion zur transzendentalen Wahrheit, die der empirischen Religion vorhergeht und sie erst möglich macht. Wir können Religion nicht haben ohne die synthetische Einheit des Denkens, Wollens und Fühlens. In deren Ermangelung würde niemand zu Dank oder Andacht gestimmt werden bei dem Anblicke der Schönheit in der Natur, die uns dann überhaupt verborgen bliebe. Kein erhebendes oder beglückendes Gefühl könnte uns durchziehen bei dem Gedanken an eine gütige Vorsehung, die unsern Lebensweg ebnet und mit Freuden schmückt. Wir vermöchten nichts von einem frommen Schauer zu empfinden mit der im Gotteshause versammelten Gemeinde. Nichts von den Widersprüchen des Daseins würde uns beunruhigen. Keine Trauer über Sünde, keine Sehnsucht nach Erlösung könnte in uns entstehen. Das Vernunftgesetz der Einheit aber läßt uns jede Disharmonie schmerzlich empfinden und

1) Durch diese Bezeichnung soll nicht eine förmliche Seelenvermögens¬lehre aufgestellt werden. Doch lassen sich so die wesentlichen geistigen Funk¬tionen am einfachsten ausdrücken. Darum werden diese Bezeichnungen kaum außer Gebrauch gesetzt werden können.

treibt uns empor aus dem Widerstreit des Lebens zu einem intelli- giblen Reich des Friedens und der Einheit, zu Gott, der jedes edle Einheitsverlangen stillt.

Hiermit erheben wir uns zu einer anderen, höheren Kausalität *). Auf eine solche deutet Kant hin in seiner Lehre von dem intelligiblen Charakter und der transzendentalen Freiheit. Sie empfängt objektive Realität durch die innere Erfahrung, unterschieden von der durch die Empfindung. Kant lehnt diese Art der Erfahrung zwar ab. Er sagt: „Wer von innerer Erfahrung (von der Gnade, von Anfechtungen) viel zu erzählen weiß, mag bei seiner Entdeckungsreise zur Erforschung seiner selbst immer nur in Anticyra?) vorher anlanden; denn es ist mit jenen inneren Erfahrungen nicht so bewandt wie mit den äußeren von Gegenständen im Raume, worin die Gegenstände nebeneinander als bleibend festgehalten erscheinen. Der innere Sinn sieht die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur in der Zeit, mithin im Fließen, wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch zur Erfahrung notwendig ist, stattfindet" °). Dem fügt er hinzu: „Der innere Sinn ist Täuschungen unterworfen, die darin bestehen, daß der Mensch die Erscheinungen desselben entweder für äußere Erscheinungen d. i. Einbildungen für Empfindungen nimmt oder gar für Eingebungen hält, von denen ein anderes Wesen, welches doch kein Gegenstand äußerer Sinne ist, die Ursache sei, wo die Illusion alsdann Schwärmerei oder auch Geistesseherei oder beides Betrug des inneren Sinnes ist'").

Daß diese Argumentation Kants viel Ueberzeugendes enthielte, läßt sich kaum behaupten. Gewiß ist es richtig, das Gebiet der Psychologie auf die Sinnenwelt zu beschränken. Ihr gehört der Mensch als Phänomenon an. Er ist als solcher zur Ordnung der Natur, dem Zusammenhänge wirkender Ursachen, beizuzählen. Doch einesteils sagt Kant ausdrücklich, daß wir imstande sind, uns als Erscheinungen zu erkennen, trotz des Fliehens der inneren Zustände °). Sonst vermöchten wir nicht unsere Seele an dem

1) r. V. S. 609.
2) Anticyra: Name einer griechischen Stadt, in deren Nähe die Nies¬wurz wuchs, die Schwachköpfige heilen soll.
3) Ww. VII. S. 444.
4) Ww. VII. S. 474.
5) r. V. S. 51, 156, 437, 673 ff., Grdl. S. 92, 91, P. V. S. 4

Leitfaden der Erfahrung zu studieren *). Andernteils ist kein Grund einzusehen, den Begriff der Erfahrung ausschließlich auf die Affektion der Sinne, auf Empfindung zu beschränken. Von der Empfindung, die durch die Sinne vermittelt wird, ist das Gefühl als oberes Erkenntnisvermögen, als eine andere Art Empfänglichkeit zu unterscheiden. Beide: Empfindung und Gefühl sind Grundkräfte des menfchlichen Gemüts und als solche unerklärbar. Sie begründen sich selbst allein durch ihr Vorhandenseins. Kant selbst weist auf den Unterschied von Empfindung und Gefühl hin, indem er neben dem inneren Sinn einen „inwendigen" Sinn nennt und darunter das Gefühl versteht ^).

Es gibt sonach zwei Arten von Modifikationen des Gemüts: Empfindung und Gefühl. Sie bilden die Vermittlungen einer doppelten Affektion. Dem Gefühle kommt wie dem Empfinden keinerlei Beziehung des Subjekts auf den Gegenstand, sondern umgekehrt des Gegenstandes auf das Subjekt zu. Das Gefühl aber bezieht sich im Unterschiede von der Empfindung auf das ganze Vermögen des Gemüts als Lebensgefühl ^). Die Uebereinstimmung mit den subjektiven Bestimmungen des Lebens erzeugt ein Gefühl der Lust, das Gegenteil Unlust. Ueberall, wo dem Einheitstriebe der Vernunft Genüge geschieht, wird demnach ein Gefühl der Befriedigung entstehen. So sind wir z. B. in dem Wifsenschafts- betriebe erfreut, wenn bei unseren Forschungen das Einheitsverlangen der Vernunft Erfüllung findet Das Gefühl der höchsten Lust wird daher dann entstehen, wenn dem Einheitstriebe der Vernunft in seinem ganzen Umfange volle Genüge geschieht. Das aber ist allein möglich durch die Beziehung auf eine intelligible Ursache. Sie erweist sich uns als wirklich durch die innere (inwendige) Erfahrung, ganz allgemein ausgedrückt, durch die Affektion des Gemüts von einer höheren Ordnung her. Eine solche tatsächliche Einwirkung erkennt auch Kant ausdrücklich an, in dem „Faktum" des moralischen Gesetzes. Zwar erscheint bei ihm dessen Imperativ als Selbstaffektion des Gemüts, da das Moralgesetz Gesetz der Vernunft ist und der kategorische Imperativ als Selbstgesetzgebung der Vernunft gefaßt wird. Aber zugleich bezeich-

1) r. V. S. 322. 2) p. V. S. 57.
3) Ww. Vll. S. 465. 4) Urt. S. 44, P. B. S. 8.
5) w. S. 22, 26.
Zeitschrift für Theologie und Kirche. 24. Jahrg. s. Heft. 19

net Kant dieses Gesetz als in dem Menschen als Noumenon sich betätigend. Der Mensch als Wesen an sich selbst wird sich durch das Faktum des Moralgesetzes seines in einer „intelligiblen Ordnung" der Dinge bestimmbaren Daseins bewußt. Das Vernunftgesetz drängt sich uns auf. Wir werden uns seiner unmittelbar bewußt ohne Affektivn der Sinne *). Es tut uns Gewalt an. Es kennzeichnet den Menschen als Noumenon und liefert den Beweis, daß nicht alles Uebersinnliche Dichtung ist?). Es bestätigt durch die mit ihm im engsten Zusammenhang stehende transzendentale Freiheit, ohne die die praktische der Moral unmöglich ist, die Wirkung einer intelligiblen Kausalität -h. Zwei Welten gibt es nach Kant, eine Sinnenwelt und eine intelligible Welt, die Welt der Noumena. Von beiden her empfängt der Mensch Einwirkungen i). Beiden gehört er selbst an.

In Erwägung dessen ist eine Erweiterung und Ergänzung der Kantschen Lehre von der Erfahrung nahe gelegt. Kant selbst bietet an verschiedenen Stellen seiner Schriften Anlaß dazu. Es ist nach seiner Erkenntnislehre „etwas dawider", daß unsere Erkenntnisse nicht auf das Geratewohl oder beliebig, vielmehr a priori auf gewisse Weise bestimmt werdenDasselbe läßt sich, dieser Bemerkung entsprechend, von unserem Wollen sagen. Es ist „etwas dawider", daß unser Wille nicht auf das Geratewohl oder beliebig, vielmehr a priori auf gewisse Weise bestimmt wird. Dieses Etwas aber ist das Moralgesetz. Ganz ebenso ist auch „etwas dawider", daß unser Gefühl nicht auf das Geratewohl, sondern L priori auf gewisse Weise bestimmt wird. Hier ist das „Etwas" das Gesetz der synthetischen Einheit als Gesetz der Harmonie, das sich wie in dem logischen, so auch in dem Moralgesetz als das allgemeine Grundgesetz geltend macht.

Durch diese Auffassung wird Kants Lehre von der Erfahrung und von der intelligiblen Welt von den Schwankungen befreit, die tatsächlich in ihr enthalten sind. Bald nimmt er die intelligible Welt nur als die der Gedanken, des Verstandes oder der

1) p. V. S. 57, 97, Grdl. S. 31.
2) p. B. S. 4, 37 f.
3) p. B. S. 67 f.
4) Ww. IV S. 300, Grdl. S. 90 f., 100.
5) r. V. S. 119, 220.

Vernunft, bald bezeichnet er sie als eine transsubjektive, als die Welt aller vernünftigen Wesen überhaupt, bald als die Welt der Noumena, das Ding an sich *). Er unterscheidet „übersinnlich" und „übernatürlich", das Uebersinnliche in uns und das Ueber- natürliche außer uns. Unter diesem außer uns, was nicht in unserer Macht steht, kann aber immer nur das Jntelligible verstanden werden. Dieses wird von Kant auch bisweilen als Intellektuelles bezeichnet, obwohl er darunter zweifellos nur das Verstandesmäßige, das der Welt des Denkens Angehörige angesehen wissen will.

Diese Undeutlichkeiten werden vermieden, wenn klar und bestimmt eine Verstandeswelt im Menschen und eine transsubjektive Welt der Dinge an sich unterschieden werden, das Ganze vernünftiger Wesen als Dinge an sich, die andere über die Sinnenwelt hinausgehende Ordnung der Dinge?). Das würde auch die Lehre von dem „intelligiblen Charakter" zu einer größeren Klarheit bringen, insofern hier Gesinnung und Welt der Noumena ineinander spielen ^). Die innere Erfahrung aber wird von Kant ohne Grund auf die durch die Sinne vermittelte beschränkt, obwohl er auch

von einer Bestimmung des Gefühls (Modifikation des Gemüts) ohne Vermittelung der Sinnlichkeit redet, wie sie bei dem Gefühl der Achtung vor dem moralischen Gesetze stattfindet 4). Wir werden uns des Sittengesetzes unmittelbar bewußt ohne Vermittelung der Sinne °). Das Gesetz der synthetischen Einheit des Willens kann uns nur durch Vermittelung des reinen Gefühls (nicht Empfindung) zur Triebfeder werden.

Troeltsch bemerkt mit Recht, daß Kants ganzes Denken auf das Normative gerichtet sei. Was nun das Gefühl anlangt, so findet Kant außer in der Gesetzmäßigkeit des Geschmacks (Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz) nur noch in dem Moral-

1) Vergleiche hierzu auch Staudinger, Noumena, 1884.
2) Prol. S. S8, 129, Grdl. S. 91 f., 94 f., 98, 100, K. B. S. 237, 432.
3) Katz er, Die Hauptprobleme der Religionsphilosophie und ihre Lösungsversuche bei Kant. Neues sächsisches Kirchenblatt, 7. Jahrgang Nr. 47 S. 740. Da ist auf die verschiedenen Auffassungen der intelligiblen Welt hingewiesen.
4) Prol. V. S. 874, Grdl. S. 91.
5) Prol. V. iS. 37, Grdl. S. 31. Troeltsch, Das Historische in Kants Rettgionsphilosophie S. 26.

19* gesetz eine Norm dafür *). Von diesem moralischen Gefühl?) sagt er, daß es uns durch innerliche Erfahrung die Tiefe der göttlichen Anlage in uns eröffnet, die uns gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit unserer Bestimmung fühlen läßt 'h.

Man darf also in Uebereinstimmung mit Kant sagen: Durch den Einheitstrieb der Vernunft kommt uns das Weltgesetz der synthetischen Einheit als intelligible (transzendente) Kausalität zum Bewußtsein. Dadurch wird uns der einheitliche Grund des Sinnlichen und Uebersinnlichen offenbar. Das ist das religiöse Grunderlebnis, das unser Gefühl zu der in- telligiblen Welt emporhebt. Hierin besteht die Mystik der Religion. Sie stimmt, so verstanden, mit Kants Auffassung überein.