RECHTSBEGRIFF UND JURISTISCHE FIKTION
gesetzte Recht zu bändigen. Auch die politische Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts ist eben dadurch gekennzeichnet, daß der Staat und die Bildungswelt nicht zueinander fanden — daß die Kluft zwischen »Geist und Macht« sich immer mehr vertiefte. Das alles ist in häufiger und gelegentlich wohl auch überbetonter und verzerrter Kritik dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts vorgehalten worden und brauchte deshalb hier nicht wiederholt zu werden, wenn es nicht in Ritters Buch so gänzlich ignoriert wäre. Erst im harten Geschehen des Weltkrieges sei dieser Gegensatz von Macht und Sittlichkeit wieder bewußt ge¬worden, aber nur — so scheint es nach Ritters Schlußsätzen — um in den neuen Staaten der totalen Volksgemeinschaft erneut vergessen zu werden. Die knappen Andeutungen, auf die Ritter sich hier beschränkt, lassen die Frage offen, wie der in diesen Staaten unternommene Ver¬such, Macht und Sittlichkeit zu vereinen, zu bewerten ist: ob als bloß ideologische Verbrämung der Macht oder als echte Verbindung dialek¬tischer Momente zur Einheit eines neuen und höheren Prinzips. Und wenn Ritter sein Buch mit einem ethischen Appell an die Macht schließt (S. 143), so bleibt unklar, ob er sich nicht damit in Wider¬spruch zu seiner eigenen Auffassung begibt, da er doch Machiavells Lehre vom notwendig amoralischen Charakter der Macht »überzeitliche Gültigkeit« zuerkannt hat.
Es ist der Sinn dieser Hinweise, darauf aufmerksam zu machen, daß Ritters Buch nicht nur eine geistesgeschichtliche Untersuchung be¬deutet, sondern zugleich einen Beitrag zu einer allgemeinen Staats¬und Rechtstheorie enthält. Daß ein solcher Beitrag heute Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen sein muß, da alle Fragen der politi¬schen Theorie neu gestellt sind, ist selbstverständlich. Es ist ein Zeichen für den Wert des Buches, daß es eine solche Aussprache anregt, und es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß die über¬legene Sachkunde wie die hohe Darstellungsgabe des Verfassers dem Werk auch da seinen Rang sichern, wo man aus anderer Sicht der Zu¬sammenhänge andere Lösungen, als sie hier vorgeschlagen sind, für möglich hält.
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