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Fiktion, Fiktionalisierung

Bezugspunkte des Bedeutungsspektrums bilden die lateinischen Begriffe fictio und fictum sowie das Verb fingere (vgl. Zinsmaier 1996, 342; Gabriel 1997, 595; Japp 1995, 47; Stierle 2001, 381). In der Forschung werden insgesamt drei Bedeutungskomplexe von Fiktion genannt, die auch im Kontext des interdisziplinären Lite- ratur-und-Ökonomie-Diskurses von Bedeutung sind: „Bildung und Darstellung, Annahme bzw. Hypothese, Erfindung und Lüge" (Schabacher 2007, 42). In der Alltagssprache wird ,Fiktion' bis heute im Allgemeinen mit Schein, Lüge und Betrug assoziiert und als Gegensatz zum Faktualen betrachtet. So wurde die Bedeutung von Fiktionen zur Bildung von Vorstellungen und Hypothesen in einem erkenntnistheoretischen Sinne (vgl. Iser 1983, 137) lange Zeit unterschätzt. Dabei spielt das Konzept der Fiktion bereits seit der Antike eine zentrale Rolle im juristischen Diskurs (vgl. Meurer 1973). Im deutschsprachigen Raum ist fictio als Konzept zwar seit Ende des 17. Jh.s im juristischen und philosophischen Kontext bekannt und findet (wenn auch selten) bereits im Rahmen der Dichtungstheorie des 18. Jh.s Verwendung, doch avanciert der Begriff der Fiktion erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zu einem zentralen Terminus der Literaturtheorie (vgl. Schabacher 2007, 46). Schnittstellen zwischen literarischer und ökonomischer Fiktion ergeben sich spätestens um 1700 im Zuge einer Aufwertung des Konzeptes der Wahrscheinlichkeit und der Entstehung mathematischer Theorien der Probabilität, die sich in der Ästhetik des Romans spiegeln (vgl. ebd., 45).
Bereits im 18. Jh. werden bestimmte Aspekte der Geld- und Kreditwirtschaft wie etwa Papiergeld als ,fiktiv' bezeichnet (vgl. Vogl 2011, 71-72), und der Begriff des fiktiven Kapitals' entwickelt sich nachfolgend zu einem zentralen Topos im kapitalismuskritischen Diskurs. Der mit Marx und Engels befreundete Autor Georg Weerth spricht 1848 mit Blick auf die Getreidespekulation von „fiktiven Metamorphosen [...] auf dem Papiere"; das einzig „Nichtfiktive, das Reelle" sei dabei der „Gewinn" (Weerth 1848, 1-2). „Kredit und fiktives Kapital" lautet die Überschrift eines Kapitels in Karl Marx' Das Kapital (Bd. 3, 5. Abschn., 25. Kap.). Hier heißt es: „Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren" (Marx und Engels 1956 ff., Bd. 25, 484). Marx betrachtet die Entstehung fiktiven Kapitals als Grundlage der Entwicklung des Kapitalismus. Ganz in diesem Sinne ist für Marx der „größte Teil" des „Geldkapitals [...] rein fiktiv" (ebd., Bd. 25, 488). Die einfachste Form fiktiven Kapitals besteht in der Zahlungsverpflichtung aus einem Bankkredit (^ Kredit und Schuid[en]). Fiktiv ist dieses Kapital insofern, als es nur durch den Gläubiger, also in dessen Vorstellung, als Zahlungsversprechen in der Zukunft existiert, aber vorab schon gehandelt wird.
https://doi.org/10.1515/9783110516821-018

In Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrisen wird der Begriff des fiktiven Kapitals reaktiviert, um eine fortschreitende Fiktionalisierung der Finanzmärkte und -produkte zu markieren, zuletzt etwa im Zuge der Globalisierung und der Digitalisierung von Finanzmärkten und der daraus entstehenden (Finanz-)Krisen (vgl. Künzel 2011). Durch die technisch ermöglichte Entkoppelung der Geldzirkulation von den Dimensionen Zeit und Raum (vgl. Schnaas 2010, 122) wird es zunehmend schwieriger, ,reale' von fiktiven" Transaktionen zu unterscheiden und den (realen) gegenwärtigen Wert eines bestimmten Finanzproduktes zu bestimmen. Die Symbiose zwischen Geldwirtschaft und Börsentechnologie hat der amerikanische Autor Don DeLillo eindrucksvoll in seinem Roman Cosmopolis (2003) beschrieben. Dieser Aspekt wurde auch in zahlreichen deutschsprachigen Romanen thematisiert, die im Kontext der letzten globalen Finanzkrise (ab 2007) erschienen sind (vgl. u. a. Divjak 2007, 13, 21; Magnusson 2011, 110, 175, 178).

Die Wirtschaftswissenschaften sehen sich nicht allein dem Vorwurf ausgesetzt, unfähig zu sein, „ihre eigenen Fiktionen auch als solche zu erkennen" (Esposito 2007, 88). Der Wirtschaftssoziologe Jens Beckert konstatiert gar, dass der Begriff ,Fiktion' dem ökonomischen Diskurs bis heute völlig fremd sei (vgl. Beckert 2011, 5). Diese Feststellung ist allerdings nur bedingt zutreffend, da zumindest der Begriff des fiktiven Kapitals seit dem 19. Jh. existiert. Im Laufe des 20. Jh.s führte allerdings das Bestreben, die Ökonomik von ihren geistes- und sozialwissenschaftlichen Wurzeln zu lösen und sich als quasi mathematisch-naturwissenschaftliche Disziplin zu etablieren, zu einer weitgehenden Ausblendung bzw. Leugnung fiktionaler Aspekte (vgl. G. Rist 2011, 25-30). Was die Funktion von Fiktionen in ökonomischen Diskursen betrifft, ist zu unterscheiden zwischen Akten des Fingierens auf der Mikroebene, sprich: ökonomischen Transaktionen (vgl. Beckert 2011, 11), und sogenannten Super-Fiktionen („superior fiction"; Heinzelman 1980, 178) - allen voran das Geld, aber auch Wertpapiere, das Kreditwesen, Märkte und Marktmodelle zählen dazu. Joseph Vogl spricht in diesem Zusammenhang von der „Effizienz von Fiktionen, die das Selbstverständnis von Gesellschaften instruieren, soziale und symbolische Praxen ausrichten und intuitiv gerechtfertigte Bilder oder Evidenzen für Funktionsbegriffe und Handlungsoptionen bereitstellen" (Vogl 2011, 55).

Als ökonomische Ur-Fiktion, gilt die sogenannte „Geldfiktion" (Schnaas 2010, 16), die darin besteht, dass sich die Bedeutung des Geldes - insbesondere des Papiergeldes bzw. der Banknote - allein aus dem Versprechen bzw. Glauben an eine Einlösung in der Zukunft ergibt. Zu den Paradoxien der Geldfiktion zählt allerdings die Prämisse, dass die Fiktion nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass auf eine vollständige Realisierung verzichtet wird (vgl. Bonus 1990, 160). Damit entspricht die Funktionsweise der Geld- bzw. Goldfiktion eben jener der fiktionalen Rede als einer nicht-behauptenden Rede, die keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt (vgl. Gabriel 1975, 28), und bietet ein weiteres Argument für die in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung vertretene These, dass „[a]lles, was über Geld gesagt wird, [...] auch über die Literatur gesagt werden" könne (Gernalzick 2000, 153).

Ohne sich explizit auf literaturtheoretische Konzepte zu beziehen, knüpft der Wirtschaftswissenschaftler Holger Bonus an das Fiktionsmodell von Wolfgang Iser an, wenn er von einer „latenten Unwirklichkeit" bzw. einer „bedingten Realität" von Geld, Gold und Wertpapieren spricht (Bonus 1990, 8). Nach Iser fungiert das Fiktive als ein Bearbeitungsmodus, der dem Imaginären seine Bestimmtheit gibt und es damit zugleich an die Realität heranführt (vgl. Iser 1983, 122-124). Fiktionen erweisen sich daher nicht zuletzt als Bedingungen für das Herstellen von Welten, deren Realitätscharakter wiederum nicht zu bezweifeln ist: „Fiktion [...] ist etwas anderes als reine Phantasie, weil sie eine eigene Realität entwirft und die fiktive Realität reale Auswirkungen hat" (Esposito 2007, 120). Ähnlich wie schon der Börsenspekulant in Zolas L'Argent „Dichter der Million" genannt wurde (Zola 1983a, 166; vgl. Zola 1960 ff., Bd. 5, 219), behauptet der Protagonist in Don DeLillos Roman Cosmopolis: „The things I imagine become facts. They have the time and space of facts" (DeLillo 2004,192); und Marlene Streeruwitz lässt die Hauptfigur ihres Romans Kreuzungen „Romane machen": „Er musste nicht schreiben. Er machte. Er tat. Die Fehler waren dann eben auch Wirklichkeit" (Streeruwitz 2010, 62).

Es überrascht nicht, dass die Verwandtschaft zwischen ökonomischen und literarischen Fiktionen insbesondere in literarischen Werken herausgearbeitet wird. Die schöpferische Kraft, die hier thematisiert wird, ist poiesis, das Vermögen, (fiktionale) Welten zu schaffen. Dabei besteht die Besonderheit ökonomischer Fiktionen darin, dass sie darauf ausgerichtet sind, den Status der Potentialität - den sie mit literarischen Fiktionen teilen - zu überschreiten und Realitäten in der Zukunft zu schaffen, indem „Geschäftsvisionen, Träume und Phantasien als morgen schon herbeigewirtschaftete Realität" (Goetz 2012, 108) verkauft werden. Anders als literarische Fiktionen, die im Modus des „Als-Ob" (Iser 1983, 139), des Möglichen, operieren, sind ökonomische Fiktionen darauf angelegt, imaginierte in „wahrscheinliche Zukünfte" (Vogl 2011, 25) zu überführen, sprich: Erwartungen und Wünsche so zu behandeln, als sei es gewiss, dass diese Realität werden - obwohl nicht einmal „eine korrekt berechnete Wahrscheinlichkeit auf die Zukunft eine Sicherheit bietet" (Esposito 2007, 10). In diesem Punkt scheint sich das ökonomische Prinzip einer „gegenwärtig-reale[n] (Zukunfts-)Illusion" (Schnaas 2010, 59) mit dem Anspruch der literarischen Gattung des Märchens zu decken, „eine mächtigere, wesentlichere Wirklichkeit darzustellen" (Lüthi 2004, 118).

All dies deutet darauf hin, dass ökonomischen Narrativen eine besondere Form des „Fiktionsvertrag[es]" (Eco 1994, 103) zugrunde liegt. Während fiktionalliterarische Texte als „vorbildliche Diskursform" gelten, da „sie ihre Fiktionalität offen legen und nicht verschleiern" (Zipfel 2001, 69; vgl. Iser 1983, 135), versuchen sich ökonomische Fiktionen selbst zu beglaubigen, indem sie auf die selbstreferentielle Funktion von Fiktionssignalen verzichten. Birger Priddat spricht in diesem Zusammenhang von „economics of persuasion" (Priddat 2014, 159). Diese bewirken nicht nur, dass der fiktionale Status des Dargestellten verschleiert wird, sondern dass zuweilen nicht einmal überdeutliche Fiktionssignale - wie Merkmale des Wunderbaren bzw. Märchenhaften - als solche wahrgenommen werden. Dies führt unter anderem dazu, dass Szenarien, die in anderen Kontexten dezidiert als unrealistisch oder als Lüge abgetan würden, in bestimmten ökonomischen Kontexten geglaubt werden (vgl. Künzel 2017). Möglicherweise liegt in diesem Fall eine Übererfüllung des Fiktionsvertrages bzw. ein Ernstnehmen von Fiktionen vor (vgl. Hutter 2015, 24-27, der „Kunst und Wirtschaft als ernste Spiele" betrachtet).

Inzwischen ist die Bedeutung des Fingierens als Kulturtechnik „im Dienst der Erkenntnis und Lebenspraxis" (Fulda 2011, 182) für andere Bereiche außerhalb der (fiktionalen) Literatur erkannt worden, so auch für die Ökonomie (vgl. Künzel 2014). Beckert hat die zentrale Rolle der Fiktionalität für ökonomische Transaktionen untersucht (vgl. Beckert 2016). Seine These lautet, „dass Entscheidungen intentional rationaler Akteure in Fiktionen verankert sind" (Beckert 2011, iii). Fiktionalität definiert Beckert in diesem Kontext als „the inhabitation in the mind of an imagined future state of the world" (ebd., 1). Akte des Fingierens setzen laut Beckert dort an, wo trotz der mit den Mitteln rationaler Wahrscheinlichkeitsrechnung gewonnenen Erkenntnisse Unsicherheiten bzw. Erkenntnislücken in Bezug auf Ereignisse in der Zukunft bestehen (vgl. ebd., 6). Fiktionen sind insofern als Medien zur Verarbeitung von Unsicherheitsmomenten besonders geeignet, da sie bei aller Unsicherheit und bei allem Risikobewusstsein Handlungsfähigkeit gewährleisten.

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