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V. Schutz unter Einbeziehung des nationalen Rechts

Zu überlegen bleibt, ob das Defizit an individualrechtlichen Verfahren zur Durchsetzung völkerrechtlicher Regelungen unter Berücksichtigung des nationalen Rechts durch die Qualifizierung einer völkerrechtlichen Rege- lung als völkerrechtliches Individualrecht behoben werden kann.

1. Materiell-rechtlicher Schutz
In Hinsicht auf die materiell-rechtlichen Schutzpflichten und -ansprüche aus nationalem Recht ist dies nicht der Fall. Ein Staat kann zwar nach sei- nem nationalen Recht dazu verpflichtet sein, den Einzelnen vor Völker- rechtsverletzungen zu schützen.94 So folgt in Deutschland aus den Grundrechten, insbesondere aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Art. 2 II 1 GG, eine Pflicht des Staates zum Schutz des Einzelnen gegen ihn in diesen Rechtsgütern treffende Völkerrechtsver- stöße.95 Der Einzelne kann den grundrechtlichen Anspruch auf Schutz auch vor den deutschen Gerichten geltend machen.96

Dabei ist allerdings zum einen zu beachten, daß diese Pflicht – und der entsprechende Anspruch – auf der Rechtsfolgenseite in der Regel mit ei- nem weiten Ermessen einhergeht.97 Es kann eine Reihe von Gründe geben, die gegen eine bindende Pflicht zum Schutz im größtmöglichen Umfang sprechen, und die dazu führen, daß der der Schutzpflicht korrespondieren- de Anspruch inhaltlich auf einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Aus- übung geeigneter diplomatischer Schritte zurückgenommen ist. Der seine Bürger schützende Staat hat deshalb regelmäßig einen Spielraum, ob und wie er vorgeht, um dem Völkerrecht gegenüber dem Empfangsstaat Wir- kung und Durchsetzungskraft zu verleihen.98 Zum anderen ist grundlegend darauf hinzuweisen, daß dieser Schutzan- spruch nicht von der Qualität des Völkerrechtssatzes als subjektives Recht des Einzelnen abhängt. Denn selbst soweit ein solcher Anspruch auf Schutz vor Völkerrechtsverletzungen besteht, besteht dieser nicht auf- grund von Völkerrecht, sondern aufgrund nationalen Rechts99 und ist deshalb unabhängig von der Qualifizierung der verletzten völkerrecht- lichen Regelung als Individualrecht. Daher wird in Hinsicht auf eine auf nationalem Recht beruhende staatliche Schutzpflicht der Schutz des Ein- zelnen vor Verletzungen einer völkerrechtlichen Regelung durch eine Qualifizierung der völkerrechtlichen Regelung als völkerrechtliches Indi- vidualrecht nicht verbessert.

2. Verfahrensrechtlicher Schutz
Die Qualifizierung einer völkerrechtlichen Regelung als Individualrecht könnte den Schutz des Einzelnen im nationalen Recht aber auf andere Art und Weise verbessern: Sie könnte dazu führen, daß die völkerrechtliche Regelung vom Einzelnen im Wege nationaler Individualrechtsschutzver- fahren durch die nationalen Gerichte durchgesetzt wird.

Diese Wirkung beruht darauf, daß das völkerrechtliche Individualrecht dem Einzelnen einen völkerrechtlichen Anspruch darauf gibt, daß der Staat die völkerrechtliche Regelung in seiner innerstaatlichen Rechtsord- nung beachtet. Soweit die nationale Rechtsordnung gegenüber der völker- rechtlichen Regelung rezeptionsoffen ist, kann aus der völkerrechtlichen Regelung nicht nur eine unmittelbar wirkende materiell-rechtliche Ver- pflichtung des Staates gegenüber dem Einzelnen entstehen mit der Folge, daß dem Einzelnen dann unmittelbar aus der Konvention ein Individual- recht gegenüber dem Staat zusteht.100 Dieses Recht kann dem Einzelnen auch den Zugang zu den Individualrechtsschutzverfahren eröffnen, die in der nationalen Rechtsordnung des verpflichteten Staates bestehen. Die Auslegung einer völkerrechtlichen Regelung als Individualrecht kann so- mit über den Zugang des Einzelnen zu den nationalen Individualrechts- schutzverfahren dazu führen, daß sich der verfahrensrechtliche Schutz des Einzelnen in Bezug auf die völkerrechtliche Regelung im verpflichte- ten Staat verbessert.

Die Parallele zur Karriere der gemeinschaftsrechtlich gewährten sub- jektiven öffentlichen Rechte,101 die vom Einzelnen im Wege von Indivi- dualklagen durchgesetzt werden können und damit zugleich zur Durch- setzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen staatlichen Organen erheblich beitragen,102 ist offensichtlich. Daß diese Wirkungs- weise international-rechtlicher Individualrechte nicht auf das Gemein- schaftsrecht beschränkt ist, sondern auch im Bereich des Völkerrechts realistisch ist, zeigen die Folgen des LaGrand-Urteils im deutschen Straf- verfahrensrecht: Der BGH in Strafsachen hat auf das Urteil reagiert und bereits in einem Beschluß vom 7. November 2001 eine Verletzung von Art. 36 I WKK ausdrücklich als Revisionsgrund angesehen.103 In dem Verfahren hatte der BGH sich unter anderem mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Re- vision gegen ein Strafurteil auf die Verletzung von Art. 36 I b) WKK ge- stützt werden kann. Der BGH hält in dem Beschluß unter Hinweis auf die Entscheidung LaGrand ausdrücklich fest, daß Art. 36 I WKK auch von den nationalen deutschen Gerichten zu beachten sei, weil diese Regelung eben nicht nur zwischenstaatliches Recht enthielte, sondern auch subjek- tive Rechte des einzelnen Staatsangehörigen begründen könne. Diese Rechte stünden neben den nationalen Rechten wie z.B. denen aus § 136 StPO, und die Verletzung der völkerrechtlich begründeten Individual-rechte könne als eigenständiger Verfahrensfehler zu Rechtsmitteln nach nationalem Recht berechtigen.

Ein solches Verhalten der Gerichte setzt aber voraus, daß diese prinzi- piell bereit sind, die völkerrechtliche Regelung zu befolgen. Das staatliche Organ muß bereit sein, die Vorgaben des Völkerrechts zu beachten. Fehlt es dagegen bereits an der grundsätzlichen Akzeptanz der völkerrecht- lichen Regelung, scheitert ein Schutz auch im Wege der nationalen Verfah- ren, und es kommt auf die dann erforderliche Durchsetzung der Regelung gegenüber dem Staat auf der Ebene des Völkerrechts an. Diese wird aber, wie gezeigt, allein durch die Qualifizierung der Regelung als völkerrecht- liches Individualrecht nicht verbessert. Konkret gewendet: Hätten die deutschen Gerichte Art. 36 I WKK grundsätzlich nicht beachtet, hätte auch die Qualifizierung dieser Regelung als völkerrechtliches Individual- recht deren Durchsetzbarkeit weder im nationalen noch im internatio- nalen Recht befördert.

Daß die Durchsetzbarkeit des Art. 36 I WKK insoweit im nationalen Recht alleine durch dessen Qualifizierung als Individualrecht nicht ver- bessert wird, zeigt auch der Fall LaGrand. Den Brüdern standen im Straf- verfahren zwar grundsätzlich alle entsprechenden prozessualen Mög- lichkeiten offen, sich gegen eine rechtswidrige Strafverfolgung zu wehren; die nationalen Behörden und Gerichte waren aber nicht bereit, die prinzi- pielle Anwendbarkeit und Reichweite der Regelung des Art. 36 I WKK anzuerkennen, unabhängig von dessen Qualität als völkerrechtlichem In- dividualrecht. Die Qualifizierung einer völkerrechtlichen Regelung als völkerrechtliches Individualrecht führt daher auch in Hinsicht auf na- tionale Individualschutzverfahren nur soweit zu einem besseren Schutz des Einzelnen vor Verletzungen dieser Regelung, als die staatlichen Orga- ne die anzuwendende völkerrechtliche Regelung akzeptieren und beach- ten bzw. anwenden.104 Verweigern die staatlichen Organe die Anwendung und Durchsetzung des völkerrechtlichen Individualrechts, begeht der Staat zwar einen völkerrechtlichen Verstoß und kann dafür völkerrecht- lich zur Verantwortung gezogen werden105; die entsprechenden Rechts- durchsetzungsmechanismen und -verfahren sind aber zwischenstaatlicher Art und sehen, wie oben bereits gezeigt, ein Verfahrensrecht bzw. eine Beteiligung des Einzelnen, dessen Recht verletzt wurde, grundsätzlich nicht vor.

Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, daß durch Auslegungen bisheriger Staatenrechte als Individualrechte statt einer Stärkung des Schutzes des Einzelnen im Ergebnis auch eine Schwächung des Völker-rechts und damit auch der völkerrechtlichen Individualrechte zu befürch- ten sein kann. Zum einen kann bei einer ausufernden Vertragsauslegung die Akzeptanz des bestehenden Völkerrechts und der Urteile des IGH abnehmen.106 Völkerrechtsdistanzierte Staaten werden sich darauf beru- fen können, daß sie die vom IGH statuierten vertraglichen Pflichten in Wirklichkeit gar nicht eingegangen sind, sondern diese Pflichten erst im Wege einer unzulässigen Auslegung des Vertrages durch den IGH ge- schaffen worden sind.107 Und je überzeugender diese Argumentation vor- getragen werden kann, desto schwächer wird auch die Prangerwirkung ei- nes Urteils des IGH ausfallen, die für dessen Durchsetzung von zentraler Bedeutung ist.108 Zum anderen ist eine derartige Vertragsauslegung für Staaten, die dem Völkerrecht distanziert gegenüberstehen, ein Argument dafür, bestehen- de Verträge aufzukündigen und künftig keine neuen Verträge abzu- schließen. Denn falls die dem Völkerrecht ohnehin skeptisch gegenüber- stehenden Staaten damit rechnen müssen, daß jeder völkerrechtliche Ver- trag entgegen der ursprünglichen Absicht der Vertragsparteien Rechte des Einzelnen begründet, auf die sich dieser möglicherweise vor nationalen wie internationalen Gerichten berufen kann, werden diese Staaten weni- ger gewillt sein, Verträge einzugehen und einzuhalten,109 insbesondere nicht solche mit individualrechtlichen Durchsetzungsverfahren.

Daß die Zuerkennung von Individualrechten im Bereich des Völker- rechts derartige Wirkungen tatsächlich entfalten kann, läßt sich ebenfalls anhand des LaGrand-Urteils zeigen. Mit einem Schreiben vom 7. März 2005 erklärte die US-Außenministerin gegenüber dem UN-Generalse- kretär den Rückzug vom Zusatzprotokoll zur Konsularrechtskonven- tion, das Streitigkeiten der Gerichtsbarkeit des IGH unterwirft.110 Die Sprecherin des Außenministeriums begründete diesen Schritt unter ande- rem damit, daß die Konsularrechtskonvention durch den IGH in einer Art und Weise interpretiert wurde, die zum Zeitpunkt des Beitrittes zur Konvention nicht vorhersehbar war.111

Diese Kritik verweist auf das zentrale Defizit des Urteils des IGH. In der Entscheidung wird zwar deutlich, daß der IGH für die Qualifizierung von Regelungen als Individualrecht vom Kriterium der individuellen verfahrensrechtlichen Durchsetzbarkeit der Regelung zu materialen Kri- terien wechselt. Allerdings werden im Urteil keinerlei Anhaltspunkte da- für gegeben, welche materialen Kriterien für eine Qualifizierung maßgeb- lich sind112. Mangels dogmatischer Unterfangung und Abgrenzung des Ergebnisses hat der IGH mit dem Urteil ein hohes Maß an Rechtsun- sicherheit erzeugt: Aus Sicht der Staaten droht eine grenzenlose Umdeu- tung des bisher nur zwischenstaatlichen Völkerrechts in völkerrechtliche Individualrechte. Bei einer Vertragsauslegung à la LaGrand ist deshalb ein Bumerang-Effekt zu befürchten:113 Dem Völkerrecht kritisch gegen- überstehende Staaten können die individualrechtsfreundliche Auslegung durch den IGH gegen das Völkerrecht wenden. Hier zeigt sich die „Ge- fahr eines Aktivismus, der des Guten oder Schlechten zuviel tut und da- mit etablierte Systeme der Rechtseinhaltung gefährdet"114: Eine Gefahr, die die sich im Austritt der USA aus dem Zusatzprotokoll zur Konsular- rechtskonvention bereits verwirklicht hat.