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I. Ziel: Besserer Schutz des Einzelnen vor Völkerrechtsverletzungen

Hintergrund für die individualrechtliche Auslegung des Art. 36 WKK ist der Schutz des Einzelnen vor Völkerrechtsverstößen.66 Der individuelle Schutz des Einzelnen gegen Verletzungen des Völkerrechts kann relativ schwach ausfallen. Staaten, die ihre völkerrechtlichen Pflichten mit einer gewissen Hartnäckigkeit nicht beachten, sind regelmäßig nur dann zur Einhaltung des Völkerrechts bereit, wenn andere Staaten oder Organisa- tionen67 entsprechenden politischen Druck ausüben oder völkerrecht- liche Verfahren einleiten – soweit diese zur Verfügung stehen. Dagegen ist der Einzelne gegenüber einem völkerrechtswidrigen Verhalten völker- rechtlich meist auch dann schutzlos, wenn das völkerrechtswidrige Ver- halten eines Staates seine Individualinteressen intensiv beeinträchtigt. We- gen der Mediatisierung des Einzelnen im Völkerrecht hat der Einzelne in der Regel kein völkerrechtliches Individualrecht auf Einhaltung der völ- kerrechtlichen Regelungen.
Dies galt bisher auch für die Wiener Konsularrechtskonvention. Die völkerrechtliche Durchsetzung der Konventionspflichten des Empfangs- staates konnte nach der tradierten staatenbezogenen Auslegung der Konvention nur durch den Entsendestaat betrieben werden. Allein ihm standen die Rechte aus der Konvention zu, und nur er konnte diplomati- sche Schritte einleiten sowie ein Verfahren vor dem IGH initiieren. Dem betroffenen Einzelnen blieb nur die Möglichkeit, auf seinen Heimatstaat einzuwirken, damit dieser die Durchsetzung der Konvention gegenüber dem Empfangsstaat betrieb.
Dieses Defizit aus der Sicht des betroffenen Einzelnen war im Fall La- Grand besonders deutlich ausgeprägt. Die Konsularrechtskonvention ist in den vergangenen Jahren von den US-Behörden und Gerichten in einer Vielzahl von Fällen auch mit Todesstrafen nicht beachtet worden.68 Zu- dem hatten im nur ein Jahr vor dem Fall LaGrand liegenden Fall Breard, in dem Paraguay wegen einer unter Verstoß gegen Art. 36 I WKK ver- hängten Todesstrafe gegen den paraguayanischen Staatsangehörigen An- gel Breard vor dem IGH ein Verfahren gegen die USA eingeleitet hatte, die US-Organe trotz einer Anordnung des IGH zur Aufschiebung der Vollstreckung bis zur endgültigen Klärung der völkerrechtlichen Rechts- fragen69 die Todesstrafe vollstreckt.70​