A. Der Fall LaGrand und das Urteil des IGH
Nach einem Banküberfall, in dessen Verlauf der Filialleiter getötet wurde, nahm die Polizei in Arizona im Januar 1982 die Brüder Karl und Walter LaGrand als Verdächtige fest. Beide waren deutsche Staatsangehörige.22 In solchen Fällen ist Art. 36 des Wiener Übereinkommens über konsulari- sche Beziehungen (im folgenden: WKK) zu beachten. Gerät ein ausländi- scher Staatsbürger mit der Rechtsordnung seines Aufenthaltsstaates der- art in Konflikt, daß er in Haft genommen wird, kann der Heimatstaat dem Staatsangehörigen konsularischen Beistand gewähren. Nach Art. 36 I WKK hat der Betroffene das Recht, Kontakt mit einem Konsul aufzuneh- men, und umgekehrt. Konsularbeamte dürfen nur dann nicht für einen Staatsangehörigen tätig werden, wenn dieser ausdrücklich Einspruch da- gegen erhebt. Festgenommene Ausländer sind unverzüglich darüber zu unterrichten, daß sie ein Recht auf Kontakt mit der konsularischen Ver- tretung ihres Heimatstaates haben.
Eben dies versäumten aber die US-Behörden: Die Brüder LaGrand wurden auf die Möglichkeit konsularischen Beistands nicht hingewiesen.
Die Brüder wurden in erster Instanz wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Zwar erfuhren sie dann im weiteren Verlauf des Zuges durch die Instan- zen durch Mitgefangene vom Recht auf konsularischen Beistand und rüg- ten dieses Vorgehen als Verletzung des Verfahrensrechts. Diese Rüge wur- de jedoch vom zuständigen Gericht als ein verspätetes Vorbringen zu- rückgewiesen.
Nach Abschluß sämtlicher Gerichtsverfahren wurde Karl LaGrand trotz erheblicher diplomatischer Proteste Deutschlands am 24. Februar 1999 hingerichtet. Walter LaGrand sollte am 3. März 1999 hingerichtet werden. Auch hier schlugen die Versuche Deutschlands, die Hinrichtung auf diplomatischen Wegen zu verhindern, fehl. Deutschland erhob des-halb am 2. März Klage vor dem IGH und beantragte einstweiligen Rechts- schutz gegen die für den darauffolgenden Tag angesetzte Hinrichtung. In einem Eilverfahren gab der IGH dem Antrag am nächsten Tag, dem 3. März statt und forderte die USA auf, die Hinrichtung auszusetzen.
Dennoch wurde Walter LaGrand noch am selben Tag hingerichtet.
Deutschland setzte das Verfahren fort und beantragte eine Verurteilung der USA wegen Verletzung von Völkerrecht. Im einzelnen begehrte Deutschland vom IGH die Feststellung, daß die USA die Konsularrechts- konvention verletzt hätten, daß die effektive Ausübung des Rechts auf konsularischen Beistand durch das nationale Prozeßrecht der USA un- möglich gemacht werde, daß die Mißachtung der einstweiligen Anord- nung des IGH völkerrechtswidrig gewesen sei und daß die USA zu- sichern müßten, in Zukunft bei der Verfolgung deutscher Staatsangehöri- ger in den USA die Konsularrechtskonvention zu beachten.
Die Rechtslage hinsichtlich der grundsätzlichen Verletzung der Konvention war dabei so eindeutig, daß die Verletzung der Konvention von den USA im Verlaufe des Prozesses im Grundsatz sogar anerkannt wurde. Dagegen bestand Streit unter anderem23 über die Frage, wessen Rechte durch das Verhalten der USA verletzt worden waren. Deutschland brachte vor, daß das Verhalten der USA nicht nur die Rechte Deutsch- lands aus der Konsularrechtskonvention verletzt habe, sondern zugleich Rechte der Brüder LaGrand.24 Die USA bestritten dies damit, daß die Konsularrechtskonvention Rechte Einzelner überhaupt nicht begründen könne.25 Am 27. Juni 2001 verkündete der IGH sein Urteil. Er gab den Anträgen Deutschlands im wesentlichen und mit großer Deutlichkeit statt. Auch in der Frage der Rechte Einzelner schloß sich der IGH der deutschen Lesart an: Der Gerichtshof stellte in den Urteilsgründen explizit fest, daß Art. 36 I der Wiener Konsularrechtskonvention auch Individualrechte der be- troffenen Personen begründet.26
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