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III. Auslegung des Art. 36 Abs. 1 WKK

1. IGH: Vertragswortlaut eindeutig
Entspricht die Auslegung des Art. 36 I WKK durch den IGH diesen Re- geln? Der IGH stützt seine Auslegung des Art. 36 I WKK in den Urteils- gründen ausschließlich auf den Wortlaut der Vorschrift. Nach Art. 36 I b) WKK hat der Empfangsstaat das Konsulat des Entsendestaats von der Festnahme der Person nur auf Antrag der festgenommenen Person zu in- formieren. Weiter haben die Behörden den Betroffenen unverzüglich über seine Rechte zu unterrichten. Schließlich kann nach Art. 36 I c) WKK das Recht des Entsendestaates, der festgenommenen Person konsularischen Beistand zu leisten, dann nicht ausgeübt werden, wenn der Betroffene ausdrücklich Einspruch erhebt. Aus dem Wortlaut der Regelung schließt der Gerichtshof, daß Art. 36 I WKK Individualrechte schafft. Nach An- sicht des IGH läßt die Klarheit des Wortlauts daran keine Zweifel zu.36

2. Kritik: Wortlaut allein nicht hinreichend
Allerdings ist gerade diese Begründung geeignet, Zweifel an der Ausle- gung durch den IGH zu begründen. Daß die Auslegung einer zentralen Vorschrift eines der wichtigsten internationalen Verträge allein auf den Wortlaut der Vorschrift gestützt wird, ist nicht nur ungewöhnlich. Die Beschränkung auf den Wortlaut allein ist auch unzutreffend: Die Argumentation des IGH überzeugt zum einen bereits methodisch nicht. Der Verweis auf einen eindeutigen, klaren Wortlaut birgt nämlich einen Zirkelschluß.37 Wie bei jedem Text ist auch bei Rechtstexten deren Inhalt erst durch ein Verständnis des Textes zu ermitteln. Das Verstehen eines Textes bedeutet aber stets dessen Auslegung. Ob und wieweit der Wortlaut eindeutig ist, ist deshalb nicht von vornherein klar, sondern kann erst am Ende einer Auslegung als deren Ergebnis festgestellt werden.

Zum anderen entspricht eine derartige Beschränkung auf den Wortlaut nicht den das Gewohnheitsrecht wiedergebenden Regeln des Wiener Ver- tragsrechtsübereinkommens in Art. 31 WVK. Danach ist für die Ausle- gung eines Vertrages nicht allein dessen Wortlaut maßgeblich, sondern sind darüber hinaus auch der systematische Zusammenhang seiner Be- stimmungen sowie die Zwecke und Ziele des Vertrags zu berücksichtigen.

Schließlich überzeugt die Berufung des IGH auf einen eindeutigen Wortlaut auch in der Sache nicht, denn sie greift in Bezug auf die Qualifi- zierung als Individualrecht zu kurz. Selbst wenn Art. 36 I WKK dem Wortlaut nach dem Einzelnen eine Rechtsstellung zuordnet, ist damit noch nicht geklärt, ob dieses Recht mediatisiert ist, also dem Staat zusteht, oder ob es ein eigenes, individuelles Recht des betroffenen Einzelnen ist.​


3. Lösung: Weitere Auslegung
Folgt man dagegen den Vorgaben der Auslegungsregeln und öffnet den Horizont der Auslegung entsprechend, zeigt sich, daß eine individual- rechtliche Auslegung des Art. 36 I WKK nicht überzeugt.
Zunächst ist der Wortlaut der Regelung alles andere als eindeutig. In Art. 36 I WKK werden der Betroffene und dessen Rechtsstellung regel- mäßig in Bezug auf die konsularische Vertretung seines Heimatstaates und deren Beamte erwähnt. Daher kann die Qualität der Regelung als In- dividualrecht des Betroffenen nicht allein auf die Erwähnung des Betrof- fenen im Text der Regelung gestützt werden.

Weiter ist der generelle Charakter der Konsularrechtskonvention staa- tenbezogen.38 Der Titel der Konvention lautet „Konvention über konsu- larische Beziehungen". Ziel und Zweck eines Abkommens über konsula- rische Beziehungen ist, wie in der Präambel der Konvention ausdrücklich dargelegt wird, „die Förderung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen". Die Konvention bezweckt also die Erhaltung und Verbes- serung der konsularischen Beziehungen zwischen Staaten.

Der Bezug der Konvention auf Staaten kann der Präambel auch noch an einer anderen Stelle entnommen werden. Nach dem Wortlaut der Präam- bel dienen Vorrechte und Immunitäten nicht dem Zweck, Einzelne zu be- vorzugen. Zwar folgt daraus nicht unmittelbar ein Argument gegen eine individualrechtliche Auslegung des Art. 36 I WKK, denn dieser Teil der Präambel ist auf die Immunitäten bezogen, die dem Inhaber als Vertreter seines Staates zur Erfüllung der mit der Vertretung verbundenen Aufga- ben und Funktionen zustehen.39 Dies kann bei der Regelung des Art. 36 I WKK anders sein. Allerdings macht der genannte Teil der Präambel deut- lich, daß die Konvention nach ihrem Regelungszweck grundsätzlich auf die Beziehungen zwischen den Staaten ausgerichtet ist und nicht auf die individuelle Rechtsstellung von Personen als Einzelne. Diese Argumenta- tion greift auch bezüglich der Regelung des Art. 5 a) und e) WKK: Darin wird zwar jeweils unmittelbar auch auf die „Angehörigen des Entsende- staates" Bezug genommen, deren Rechtslage aber aus der Perspektive der Konvention und daher in Hinsicht auf die Interessen des Entsendestaates erfaßt.

Die Ausrichtung der Konvention auf die Erhaltung und Verbesserung der konsularischen Beziehungen zwischen Staaten wird auch in Art. 36 reflektiert. Die Vorschrift beginnt mit der Bestimmung des übergreifen- den Zwecks von Art. 36. Dieser Zweck wird in den konsularischen Aufga-
ben des Entsendestaates gesehen, nämlich um „die Wahrnehmung konsu- larischer Aufgaben in bezug auf Angehörige des Entsendestaates zu erleichtern". Diese Zweckbestimmung, die Erleichterung der Wahrneh- mung der konsularischen Aufgaben, muß für das Verständnis der Rechts- stellung des Staatsangehörigen des Entsendestaates berücksichtigt wer- den.

Zudem spricht die Systematik der Konsularrechtskonvention gegen eine individualrechtliche Interpretation des Art. 36 WKK: Art. 36 WKK steht im Abschnitt über „Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten für die konsularische Vertretung". Auch aus systematischer Perspektive steht Art. 36 WKK deshalb in Bezug zum Entsendestaat und nicht in Be- zug zum Einzelnen.

Schließlich ergibt die Entstehungsgeschichte des Art. 36 WKK, daß die- ser nicht als Individualrecht auszulegen ist, sondern als staatenbezogenes Recht.40 Zwar ergibt ein Blick in die vorbereitenden Arbeiten, daß Art. 36 I WKK zu dem Zweck eingefügt wurde, die Stellung des Einzelnen gegen Verfahren in einem fremden Staat zu verbessern.41 Auch die Regelung des Art. 36 I c) WKK, wonach das Recht des Entsendestaates, der festgenom- menen Person konsularischen Beistand zu leisten, dann nicht ausgeübt werden kann, wenn der Betroffene ausdrücklich Einspruch erhebt, beruht auf der Rücksichtnahme auf die Interessen des betroffenen Einzelnen.42 Wenn schon auf die vorbereitenden Arbeiten zurückgegriffen wird, müssen diese aber in allen einschlägigen Aspekten berücksichtigt werden.

Dabei zeigt sich, daß der letzte Satz von Art. 36 I b) WKK, wonach die zuständigen Behörden des Empfangsstaats „den Betroffenen unverzüg- lich über seine Rechte […] zu unterrichten" haben, erst sehr spät eingefügt wurde.43 Dies lag an einem zähen Ringen der Parteien, die konsularische Unterrichtungspflicht vom Verlangen des Betroffenen abhängig zu ma- chen. Hintergrund waren die Verhältnisse zur Zeit der Abfassung der WKK: Es sollte verhindert werden, daß durch eine unbedingte Unterrich- tungspflicht die konsularischen Vertretungen über den Aufenthalt der Bürger ihres Landes auch dann informiert werden, wenn den Bürgern al- lein wegen des Aufenthalts Sanktionen drohten.44 Letztlich obsiegte zwar die Auffassung, dass der Wille des Betroffenen zu respektieren sei.45 Daraus folgt aber nicht, daß Art. 36 WKK Indivi- dualrechte enthalten sollte, denn dem Interesse des Bürgers an der Ver-heimlichung seines Aufenthaltsortes gegenüber seinem Heimatstaat ist bereits genüge getan, wenn eine Unterrichtung gegen seinen Willen nicht erfolgen soll; daß die Unterrichtungspflicht zu einem Individualrecht er- hoben wird, ist dazu nicht erforderlich.

Schließlich können auch die weiteren Entstehungsumstände eine individualrechtliche Auslegung nicht stützen. Zwar wurde während der Beratungen durchaus erkannt, daß Art. 36 I b) WKK für den Schutz des Einzelnen von erheblicher Bedeutung ist.46 Daraus folgt aber noch keine Auslegung im Sinne eines Individualrechts.47 Die Konsularrechtskonven- tion wurde bereits 1963 und damit noch vor den ersten weltweiten Men- schenrechtsgarantien, den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, abge- schlossen. Wäre Art. 36 I WKK als Individualrecht gedacht gewesen, wäre diese Regelung deshalb die erste prinzipiell auf weltweite Geltung ange- legte vertragliche Individualrechtsgarantie gewesen.48 Dieser exzeptio- nelle Charakter wäre zumindest bei den Beratungen deutlich herausgeho- ben worden.49 Dies war aber nicht der Fall, im Gegenteil: Die Kommentare und Be- richte zu den Konventionsentwürfen gingen ohne weiteres und durchge- hend davon aus, daß die in Art. 36 WKK gewährten Rechte entsprechend dem damaligen Stand der völkerrechtlichen Dogmatik50 generell Rechte des Entsendestaates sein sollten und nicht Rechte des betroffenen Einzel- nen.51 Dieses Verständnis entsprach auch der ganz überwiegenden Auf- fassung in der damaligen Völkerrechtslehre von einer Regelung des kon- sularischen Schutzes in der Art von Art. 36 I WKK.52 Auch die Entste- hungsgeschichte verdeutlicht demnach, daß Art. 36 I WKK ursprünglich ein Staatenrecht und kein Individualrecht war.53

4. Insbesondere: Dynamische Auslegung
Nun gibt es allerdings Konstellationen, in denen völkerrechtliche Rege- lungen ihren ursprünglichen Gehalt im Laufe der Zeit ändern können.
Hintergrund ist die lange Laufzeit völkerrechtlicher Verträge. Um den Vertragszielen auf Dauer gerecht werden zu können, kann deshalb eine zeitgemäße, aktualisierte Auslegung von Verträgen zulässig sein. Die Völ- kerrechtslehre spricht dann von einer dynamischen Auslegung: Eine Aus- legung, die nicht auf den entstehungszeitlichen Kontext abstellt, sondern auf den geltungszeitlichen, aktuellen Kontext.54 Allerdings ist ein Bedürfnis nach einer aktualisierten Auslegung noch kein hinreichender Grund für eine entsprechende Auslegung des Vertra- ges. Denn eine aktualisierende Vertragsauslegung birgt die Gefahr, daß den Parteien unter dem Titel der Auslegung etwas anderes aufgezwungen wird, als sie ursprünglich vereinbart haben.55 Dem entsprechend ist eine dynamische Auslegung nur in engen Grenzen zulässig.56 Auch eine dyna- mische Auslegung muß den Geltungsgrund der jeweiligen Regelung be- achten.

Geltungsgrund eines völkerrechtlichen Vertrages ist der Konsens der Vertragsparteien. Dieser ist zugleich die Grenze der Auslegung des Ver- trags. Dies ist auch den in Art. 31 III a) und b) des Wiener Vertragsrechts- übereinkommens kodifizierten Auslegungsregeln zu entnehmen, die Antworten auf das Bedürfnis nach einer der aktuellen Vertragspraxis ent- sprechenden authentischen Vertragsauslegung geben. Nach diesen Regeln ist eine authentische Auslegung nur zutreffend, wenn sie sich entweder in einer späteren Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Aus- legung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen oder in ei- ner späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Über- einstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, wi- derspiegelt. Auch die dynamische Auslegung eines Vertrages muß demnach den Konsens der Parteien als Geltungsgrund des Vertrages wie- dergeben.57 Diese Voraussetzung ist zum einen dann erfüllt, wenn bereits der histo- rische Vertragswille der Parteien auch die Billigung zukünftiger Anpas- sungen umfaßt.58 Dafür bestehen aber in Hinsicht auf Art. 36 der Wiener Konsularrechtskonvention keine Anhaltspunkte.

Zum anderen kann die Voraussetzung auch dadurch erfüllt werden, daß sich die Vertragspraxis nachträglich ändert. Damit dies zu einer anderen Auslegung des Vertrags führen kann, muß aber aus der späteren Praxis bei der Anwendung des Vertrags der neue Konsens der Vertragsparteien her- vorgehen. Die Vertragspraxis muß ein Indiz dafür sein, daß sich das Ver- ständnis der Vertragsparteien in Richtung eines geänderten, neuen Kon- senses entwickelt hat. Dazu muß zumindest die große, ganz überwiegen- de Mehrheit der Vertragsparteien das gewandelte Sinnverständnis des Vertrages teilen.59 Diese Voraussetzung ist aber in Bezug auf Art. 36 der Wiener Konsu- larrechtskonvention nicht ohne weiteres gegeben. Zwar ist eine indivi- dualrechtliche Auslegung der Regelungen über den diplomatischen und konsularischen Schutz in der Literatur gefordert worden.60 Auch hat der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Gutach- ten aus dem Jahr 2000 eine derartige Auslegung vorgeschlagen und Art. 36 WKK sogar als Menschenrecht qualifiziert.61 Dieses Verständnis ist aller- dings nicht das bisherige der großen Mehrheit der Vertragsparteien: Die überkommene, ganz überwiegende und vom IGH in seiner bisherigen Rechtsprechung zum diplomatischen Schutz geteilte Auffassung und die Praxis62 gingen bisher davon aus, daß die Regelungen über den diplomati- schen und konsularischen Schutz dem Einzelnen keine Individualrechte verleihen.63

Schließlich besteht noch die Möglichkeit eines instant customary law.64 Diskutiert wird, ob etwa Resolutionen von Internationalen Organisa- tionen oder der ILC und Gutachten internationaler Gerichtshöfe dazu führen können, daß die darin geäußerten Rechtsansichten den Charakter geltenden Völkerrechts auch dann erlangen, wenn sie noch nicht der bis- herigen, überwiegenden Rechtspraxis entsprechen. Allerdings ist diese Möglichkeit des Entstehens neuen Völkerrechts bzw. einer neuen Ausle- gung bestehenden Völkerrechts bisher nicht universal anerkannt, da sie dazu führt, daß an Stelle des Konsenses bzw. der überwiegenden Praxis der Völkerrechtssubjekte die genannten Organe und Einrichtungen die Völkerrechtssubjekte verpflichtendes Völkerrecht erzeugen können.

C. Analyse der Auslegung
Trotz dieser Einwände hat der IGH für seine Auslegung erhebliche Zu- stimmung erfahren; auch ist der BGH dieser Auslegung bereits gefolgt.65 Den Gründen für diese Zustimmung nachzugehen, ist von besonderem Interesse, denn diese Gründe verdeutlichen nicht nur den Hintergrund der Entscheidung des IGH: Sie dürften auch hinter der individualrecht- lichen Auslegung des Art. 36 I WKK durch den IGH stehen, und sie ha- ben möglicherweise Einfluß darauf, wieweit sich eine individualrechts- freundlichere Auslegung des allgemeinen Völkerrechts durchsetzen wird.​