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Einleitung

Die Frage nach Individualrechten im Völkerrecht vor dem Hintergrund gegenläufiger Völkerrechtskonzeptionen
„Menschenrechte sind keine theoretische Angelegenheit, sondern Fragen von Leben und Tod".1 Diese Äußerung von Mary Robinson, der früheren UN-Kommissarin für Menschenrechte, scheint in einer Entscheidung des IGH aus dem Jahr 2001 eine ebenso spektakuläre wie traurige Bestätigung erfahren zu haben: dem Urteil in der Sache LaGrand.2 Dahinter verbirgt sich einer der dramatischsten völkerrechtlichen Fälle der letzten Jahre.

Zwei deutsche Brüder namens LaGrand waren in den USA wegen Mor- des zum Tode verurteilt worden. Dabei hatten die USA die Bestimmun- gen der Wiener Konvention über konsularische Beziehungen verletzt: Die Verurteilten waren bei ihrer Festnahme nicht auf das Recht auf Kontakt mit ihrer konsularischen Vertretung hingewiesen worden. Dennoch wur- den die Brüder hingerichtet. Der IGH verurteilte deshalb die USA auf- grund Verletzung von Völkerrecht.

Das Urteil in der Sache LaGrand gilt als eines der bedeutenden völker- rechtlichen Urteile.3 Der Gerichtshof hat den Fall unter anderem dazu ge- nutzt, sich eines grundlegenden völkerrechtlichen Themas anzunehmen: der Frage nach der Rechtsstellung des Einzelnen im Völkerrecht4. Der IGH hat im Urteil ausdrücklich festgestellt, daß die aus der Konsular- rechtskonvention folgenden Rechte nicht allein Deutschland zustehen, sondern daß die Konvention zugleich Rechte der Brüder LaGrand schafft.5 Die individualrechtsfreundliche Auslegung der Konvention ist vom IGH mittlerweile im Urteil Avena vom März 2004 wiederholt und bestätigt worden.6 Dies ist ein Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts. Die Qualifizierung der Rechte aus der Konsularrechtskonvention als Rechte des einzelnen Bürgers weist über den konkreten Fall hinaus, denn sie ver- ändert einen der Grundsätze des Völkerrechts: die Mediatisierung des Einzelnen. Dieser Grundsatz besagt, daß das Völkerrecht grundsätzlich Recht zwischen Staaten und Internationalen Organisationen ist. Allein diese schaffen das Völkerrecht, sind dessen Rechtssubjekte und Adressa- ten der entsprechenden Rechte und Pflichten. Der Einzelne hat dagegen im Völkerrecht keine unmittelbar ihm zukommende rechtliche Stellung.

Solche Rechte hat nur der Staat, dessen Angehöriger er ist.7 Die Mediatisierung des Einzelnen im Völkerrecht ist zwar bereits seit längerem nur noch ein Grundsatz mit Ausnahmen.8 Eine Reihe von völker- rechtlichen Verträgen enthalten Rechte des Einzelnen.9 Weiter kommt das Recht der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Staaten für Rechtsver- letzungen gegenüber Fremden, das sogenannte Fremdenrecht, hinzu.10 Die Anerkennung von Individualrechten war aber im Völkerrecht bisher regel- mäßig auf den Bereich der Menschenrechtsverträge beschränkt, deren ein- deutiger Hauptzweck der Schutz des Einzelnen ist.11 Jenseits der Men- schenrechtsgarantien blieb es beim Grundsatz, daß der Einzelne im Völker-recht keine eigenen Rechte hat.12 Dies galt insbesondere für Verträge, die vor allem zwischenstaatliche Beziehungen regeln.13 Von dieser Linie weicht der IGH nun grundlegend ab. Mit dem La- Grand-Urteil erfolgt eine Neuorientierung: Individualrechte sollen über den Bereich der Menschenrechtsverträge hinaus auch in anderen Berei- chen des Völkerrechts grundsätzlich möglich sein. Selbst Verträge, die wie die Konsularrechtskonvention vor allem zwischenstaatliche Beziehungen regeln, könnten Individualrechte begründen.14 Damit wird die bisher das Völkerrecht prägende Art und Weise der Unterscheidung zwischen indi- vidualschützenden Menschenrechten und sonstigem, vor allem zwischen- staatliche Beziehungen regelndem Recht grundsätzlich verändert.15 Angesichts dieser Neuausrichtung verwundert es nicht, daß die mit dem LaGrand-Urteil eingeschlagene Linie insoweit äußerst umstritten ist. Die Befürworter sehen darin einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer stärkeren Stellung des Einzelnen im Völkerrecht. Das Urteil sei deshalb dazu geeignet, die internationale Gerichtsbarkeit und das Vertrauen, das Staaten in sie setzen können, zu stärken.16 Dagegen sind die Kritiker der Ansicht, daß die individualrechtliche Auslegung der Konvention weder überzeugend noch in ihren Konsequenzen für das Völkerrecht zu Ende gedacht sei. Im Ergebnis bestehe deshalb die Gefahr, daß das Vertrauen der Staaten in das Völkerrecht und den IGH abnehme.17 Die Diskussion über das LaGrand-Urteil und dessen Folgen für die rechtliche Stellung des Einzelnen im Völkerrecht erlangt nun besondere Bedeutung dadurch, daß sie vor dem Hintergrund einer generellen Debat- te über die Konzeption, das Verständnis und die künftige Entwicklung des Völkerrechts stattfindet. Die tradierte Sichtweise auf das Völkerrecht als ein Koordinationsrecht zwischen souveränen gleichen Staaten wird seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes18 durch zwei neue, zum Teil ge- genläufige Ansätze zur Betrachtung, Erklärung und Auslegung des Völ- kerrechts zunehmend in Frage gestellt.19 Ein Konzept geht davon aus, daß das Völkerrecht sich im Wege einer „Konstitutionalisierung des Völkerrechts" bzw. einer „Institutionalisie- rung der Völkerrechtsgemeinschaft"20 zunehmend zu einer Weltinnen- rechtsordnung fortentwickle, der eine internationale Gemeinschaft von Bürgern entspreche. Dieser Entwicklung korrespondierend seien insbe- sondere auch Individuen als Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten anzusehen und nicht wie bisher nahezu nur Staaten und Interna- tionale Organisationen.

Das insoweit inhaltlich gegenläufige Konzept ist gekennzeichnet durch das Verständnis des Völkerrechts als einer Rechtsordnung, die vor allem anhand der realpolitischen Machtstellungen der Akteure zu verstehen sei.21 Das Völkerrecht könne die Staaten weniger rechtlich binden, son- dern sei vor allem Mittel zu politisch vorzunehmenden Konfliktbeilegun- gen und Konsensbildungen. Die Beachtung der individualschützenden Regelungen des Völkerrechts hänge deshalb – wie die Beachtung aller völ- kerrechtlichen Regelungen – vor allem von der Bereitschaft der Staaten ab, diese Regelungen als verpflichtend zu akzeptieren und im Streitfall ge- genüber anderen Staaten durchzusetzen.

Die Forderung nach einer Konstitutionalisierung im Sinne einer enge- ren Völkerrechtsgemeinschaft läuft dem Konzept einer den Staaten mehr Freiheit lassenden Völkerrechtsordnung diametral entgegen. Danach steht das Völkerrecht in einem spezifischen Spannungsverhältnis: Nor- mative Einbindung und Gleichordnung oder Belassen faktischer Freihei- ten und Ungleichheiten der Staaten. Dieses Spannungsverhältnis ist zwar nicht neu; es hat das Völkerrecht seit jeher geprägt. Das Ende des Ost- West-Gegensatzes hat aber dem Völkerrecht mehr Spielraum zu Entwick- lungen gegeben, und die internationalen politischen Entwicklungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 lassen die Frage nach Konzep- tion und Entwicklung des Völkerrechts in deutlich schärferem Licht er- scheinen.

Chancen und Gefahren der widerstreitenden Konzepte werden im fol- genden paradigmatisch anhand der individualrechtsfreundlichen Ausle-gung der Konsularrechtskonvention erörtert. Dazu werden zunächst der Fall und das Urteil des IGH skizziert (A.). Anschließend wird die indi- vidualrechtliche Auslegung der Konvention hinterfragt (B.), den Grün- den, die hinter dieser Auslegung stehen, nachgegangen (C.) und das Vor- gehen des IGH einer Kritik unterzogen (D.). Der Ausblick (E.) wird zei- gen, was daraus für das Verständnis und die weitere Entwicklung der Rechte des Einzelnen im allgemeinen Völkerrecht folgt und welche Fol- gerungen für die widerstreitenden Konzepte des Völkerrechts zu ziehen sind.​