II. Mittel: Wechsel des Kriteriums zur Qualifizierung als Individualrecht
Die Schwäche bei der Durchsetzung der Konvention hat der IGH durch die individualrechtliche Auslegung des Art. 36 I WKK zu beseitigen ver- sucht. Grundlage dieser Auslegung ist ein Wechsel der Kriterien zur Qua- lifizierung einer Regelung als Individualrecht.
1. Tradiertes Kriterium: Befugnis des Einzelnen zu verfahrensrechtlichem Schutz
Bisher war das maßgebliche Kriterium für die Unterscheidung zwischen einem echten Individualrecht und einer bloßen reflexhaften Begünstigung durch eine Regelung deren verfahrensrechtliche Durchsetzbarkeit: Nur soweit dem Individuum unmittelbar die Befugnis eingeräumt wird, in ei- nem völkerrechtlichen Verfahren die Durchsetzung der Regelung zu be- treiben und damit deren Beachtung von einem Staat zu verlangen, wurde eine völkerrechtliche Individualberechtigung angenommen.71
2. Neues Kriterium: Bedeutung der Regelung für den Einzelnen
Das Kriterium des verfahrensrechtlichen Schutzes gibt der IGH mit der Entscheidung LaGrand auf. Da der Einzelne vor dem IGH kein Verfah- ren initiieren kann, muß die Auslegung von Art. 36 I WKK als Individual- recht unabhängig von der verfahrensrechtlichen Durchsetzung der Rege- lung erfolgen. Auf die damit aufgeworfene Frage, welches Kriterium jetzt die weiterhin erforderliche Abgrenzung zwischen Individualrecht und bloßem Rechtsreflex liefern soll, gibt der IGH zwar keine Antwort, denn er verweist in der Urteilsbegründung allein auf den – vorgeblich – klaren Wortlaut der Regelung. Eines wird mit der Entscheidung LaGrand aber klar: Da die Qualifizierung von Art. 36 I als Individualrecht des Einzelnen nicht mehr von der verfahrensrechtlichen Durchsetzbarkeit abhängt, liegt der Entscheidung des IGH ein Wechsel von prozessualen zu materialen Kriterien72 zugrunde. An die Stelle der individuellen verfahrensrecht- lichen Durchsetzbarkeit der Regelung tritt die inhaltliche Bedeutung der Regelung für den Einzelnen als Kriterium für die Qualifizierung der Re- gelung als völkerrechtliches Individualrecht. Im Ergebnis kann damit eine Vielzahl von Regelungen, die bisher nur Rechte der Staaten waren, zu Rechten auch von Einzelnen gemacht werden.
D. Kritik
Diese individualrechtsfreundliche Auslegung beruht auf der Annahme, daß durch die Qualifizierung einer völkerrechtlichen Regelung als völker- rechtliches Individualrecht der Schutz des Einzelnen vor staatlichen Ver- stößen gegen diese Regelung verbessert wird73. Ob dieses Ziel erreicht wird, bedarf vorliegend der näheren Betrachtung.
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