B. Rekonstruktion der Auslegung der WKK
I. Allgemeine Voraussetzungen eines völkerrechtlichen Individualrechts
Kann das Urteil des IGH insoweit überzeugen? Die Entscheidung wäre zutreffend, wenn Art. 36 I WKK dem Einzelnen Rechte verleiht. Die Be- gründung eines Individualrechts des Einzelnen gegen einen Staat aus einer völkerrechtlichen Regelung setzt nun zweierlei voraus: Zum einen muß die Regelung – objektiv-rechtlich – unmittelbar anwendbar sein.27 Zum anderen muß die Regelung – subjektiv-rechtlich – die Qualität eines Indi- vidualrechts haben.28 Eine völkerrechtliche Regelung ist dann unmittelbar anwendbar, wenn sie ihrem Gehalt nach selbständig angewendet werden soll. Dies ist in der Regel dann gegeben, wenn die Regelung inhaltlich so weitgehend be- stimmt ist, daß sie zu ihrem Vollzug keiner Konkretisierung durch weitere – internationale oder nationale – Rechtsakte bedarf.29 Diese Vorausset- zung ist bei Art. 36 I WKK erfüllt. Rechte und Pflichten sind in dieser Re- gelung nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen so weitgehend bestimmt, daß die Regelung ohne weiteres angewendet werden kann. Die Bestim- mung des Art. 36 I WKK ist deshalb unmittelbar anwendbar.30 Weiter muß Art. 36 I WKK den Charakter eines Individualrechts haben.
Diese Voraussetzung ist umstritten: Sind die aus Art. 36 I WKK folgenden Rechte allein Rechte der Staaten, die den Einzelnen nur reflexhaft mitbe- günstigen, oder sind sie auch Individualrechte der betroffenen Menschen?
Die Antwort auf diese Frage hängt gleichfalls vom Inhalt des Art. 36 I ab; dieser ist im folgenden durch Auslegung näher zu ermitteln.
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