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I. Verfahrensrechtlicher Schutz im Völkerrecht

Zunächst bewirkt die Qualifizierung eines völkerrechtlichen Rechtssatzes als Individualrecht für dessen verfahrensrechtliche bzw. gerichtliche Durchsetzung auf internationaler Ebene keine Verbesserung. Häufig fehlt für Rechtsstreitigkeiten eine völkerrechtliche Gerichtsbarkeit überhaupt.

Im Unterschied zu den allermeisten staatlichen Rechtsordnungen unter- liegen völkerrechtliche Streitigkeiten grundsätzlich nur dann einer Ge- richtsbarkeit, wenn und soweit dies von den Parteien vereinbart worden ist. Und selbst dort, wo aufgrund besonderer Vereinbarungen eine inter- nationale Gerichtsbarkeit besteht, ist in nahezu sämtlichen Verfahrens- ordnungen eine Individualklage nicht vorgesehen.

Insbesondere vor dem IGH kann der Einzelne nicht als Kläger auftre- ten, da nach Art. 34 I des IGH-Statuts die Parteifähigkeit für Verfahren vor dem IGH auf Staaten beschränkt ist und individualrechtliche Verfah- rensarten und -befugnisse vor dem IGH überhaupt nicht vorgesehen sind.

Deshalb ist auch bei der Durchsetzung von Individualrechten vor dem IGH die Beteiligung des Entsendestaates weiterhin zwingend erforder- lich:74 Nur dieser kann die Rechte des Einzelnen vor dem IGH durchset- zen. Soweit ein Verfahren vom einzelnen Bürger nicht betrieben werden kann, wird aber allein durch die Qualifizierung eines Rechts als Indivi- dualrecht der völkerrechtliche Schutz des Einzelnen gegen Verletzungen dieses Rechts nicht verbessert.

Dies zeigt auch der Fall LaGrand. Da das Verfahren vor dem IGH nur von Deutschland als Staat betrieben werden konnte und Staaten sich ohne weiteres auf Art. 36 I WKK berufen können, war die Frage nach der Qua- lität des Art. 36 I WKK als Individualrecht in diesem Fall für die Entschei-dung überhaupt nicht erheblich.75 Die Verurteilung der USA erfolgte in sämtlichen Antragspunkten unabhängig davon, ob Art. 36 I WKK nur Deutschland als Staat oder auch den Brüdern LaGrand Rechte verleiht.

Die Pflichten aus der Konsularrechtskonvention waren als Individual- rechte der Brüder LaGrand vor dem IGH nicht besser durchzusetzen.
Allein die Auslegung von Art. 36 I WKK als Individualrecht eröffnet dem Betroffenen auch nicht den Zugang zu den wenigen im Völkerrecht bestehenden individualrechtlichen Schutzverfahren. Zwar stehen dem Einzelnen im Bereich der Menschenrechte Verfahren zur Durchsetzung von völkerrechtlichen Regelungen zur Verfügung. Insbesondere wurde für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ein Individualbeschwerdeverfahren eingerichtet.76 Auch die Europäische Menschenrechtskonvention sieht neben der Staatenbeschwerde eine Indi- vidualbeschwerde vor, aus der mittlerweile eine Individualklage gewor- den ist.77 Allein die Qualifizierung von Art. 36 I WKK als Individualrecht führt aber noch nicht zur Anwendung dieser Verfahren, denn die durch diese Verfahren geschützten Individualrechte sind im IPBPR bzw. in der EMRK selbst bestimmt. Diese Rechte und die ihrem Schutz dienenden Verfahren stehen zunächst grundsätzlich selbständig neben anderen völ- kerrechtlichen Verträgen und sind insoweit von diesen unabhängig.78 Al- lein die Qualifizierung des Art. 36 I WKK als Individualrecht hat deshalb auf den Zugang des Einzelnen zu den im IPBPR und in der EMRK vorge- sehenen Verfahren keinen Einfluß.​