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E. Zusammenfassung und Ausblick

Die Auslegung des Art. 36 I der Wiener Konsularrechtskonvention durch den IGH als Individualrecht überzeugt im Ergebnis nicht. Zwar ist der Anlaß für die individualrechtliche Auslegung der Konvention mehr als verständlich: Die Hinrichtung der Brüder LaGrand trotz Verstoßes gegen die Konsularrechtskonvention und unter Mißachtung der einstweiligen Verfügung des IGH ist eine evidente Verletzung des Völkerrechts mit unwiderruflichen, fatalen Folgen. Gleichfalls ist das Ziel des IGH-Urteils, die Verbesserung des Schutzes des Einzelnen gegen ihn treffende Völker- rechtsverstöße, begrüßenswert. Auch ist eine entsprechende dynamische Auslegung nicht von vorneherein ausgeschlossen: Wie gezeigt, ist ein individualrechtliches Verständnis von Art. 36 I WKK zuvor bereits in der Literatur gefordert und in einem Gutachten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt worden. Schließlich ist eine Entwicklung des Völkerrechts in Richtung vermehrter Individualrechte und Individualrechtsschutzverfahren angesichts der zunehmenden Inter-nationalisierung der Rechts- und Lebenswelten der Einzelnen durchaus wünschenswert.115 Dennoch kann das Urteil des IGH insoweit nicht überzeugen. Zwar kann die Auslegung völkerrechtlicher Regelungen als Individualrecht den Schutz des Einzelnen vor Verletzungen dieser Regelungen durchaus verbessern: Soweit die Rechtsordnung des verpflichteten Staates eine unmittelbare Anwendung des Völkerrechts ermöglicht, kann der Ein- zelne sein völkerrechtliches Recht in den nationalen Individualrechts- schutzverfahren durchsetzen. Allerdings greift dieser Schutz nicht, falls die staatlichen Organe die völkerrechtliche Regelung nicht beachten.

Die völkerrechtliche Regelung muß dann gegen den verpflichteten Staat im Wege des Völkerrechts durchgesetzt werden, das aber für den Einzel- nen keine individuellen Schutzmechanismen bereithält. Der Erfolg einer individualrechtsfreundlichen Auslegung des Völkerrechts hängt deshalb ganz entscheidend von der Akzeptanz dieser Auslegung auf Seiten der Staaten ab. Dazu bedarf die Auslegung von Völkerrecht als Individual- recht einer Begründung, die den Staaten Rechtssicherheit vermittelt und damit vorhersehbar macht, welche Pflichten und Rechte mit dem Ab- schluß eines völkerrechtlichen Vertrages verbunden sind.

Die individualrechtsfreundliche Auslegung des Art. 36 I WKK durch den IGH beruht auf einem Wechsel der Kriterien zur Qualifizierung eines Völkerrechtssatzes als Individualrecht: Statt wie bisher darauf abzustel- len, ob der verfahrensrechtliche Schutz des Rechtssatzes im Völkerrecht auch durch den Einzelnen betrieben werden kann, ist nun die materiale Bedeutung des Rechtssatzes für den Einzelnen das maßgebliche Qualifi- kationskriterium. Eine nähere Bestimmung der erforderlichen materialen Bedeutung eines Rechtssatzes für den Einzelnen oder gar eine Eingren- zung auf bestimmte, für den Einzelnen besonders wichtige oder dem Ein- zelnen in besonderer Weise zugeordnete Bedeutungen des Rechtssatzes ist dem Urteil aber nicht zu entnehmen. Der IGH läßt deshalb im La- Grand-Urteil die erforderliche dogmatische Unterfangung seiner Ausle- gung von Art. 36 I WKK als Individualrecht vermissen.116 An dieser Stelle wird die Bedeutung des Falles für die Debatte über die allgemeine Entwicklung des Völkerrechts offenbar. Die Frage nach der Auslegung von Art. 36 I WKK als Individualrecht ist mit der Frage nach dem grundsätzlichen Charakter des Völkerrechts unmittelbar verknüpft,

denn ob die Auslegung der Regelung als Individualrecht überzeugt, hängt, wie gezeigt, von den Gegebenheiten der Rechtserzeugung und -durchsetzung des Völkerrechts ab. Der Wechsel bei den Kriterien zur Qualifikation einer völkerrechtlichen Regelung als Individualrecht von der verfahrensrechtlichen Durchsetzbarkeit der Regelung durch den Ein- zelnen zur materialen Bedeutung der Regelung für den Einzelnen ist dann überzeugend, wenn er der Funktionsweise des Völkerrechts entspricht.

Da zur Durchsetzung des Völkerrechts eine allgemeine übergeordnete Zwangsgewalt fehlt, hängt die Beachtung des Völkerrechts ganz wesent- lich von politischen Mechanismen ab. Diese sind die Akzeptanz des Völ- kerrechts sowie darauf hin wirkender politischer Druck. Diese Faktoren werden vor allem durch Staaten und deren Politik beeinflußt.

Auch völkerrechtliche Individualrechte werden deshalb von völker- rechtsdistanzierten Staaten im Zweifelsfall nur dann beachtet werden, wenn andere Staaten oder eine Internationale Organisation entsprechen- den politischen Druck aufbauen – und dies setzt wiederum voraus, daß das Völkerrecht in seiner jeweiligen Auslegung von den Staaten grundsätzlich akzeptiert wird. Die der Auslegung von Art. 36 I WKK im LaGrand-Ur- teil zugrunde liegende Umstellung von der verfahrensrechtlichen Quali- fikation einer Regelung als Individualrecht auf eine material-inhaltliche Qualifikation ist deshalb – wie die Entwicklung der subjektiven öffent- lichen Rechte im Deutschland des 19. Jahrhunderts117 – nur in dem Maße sinnvoll, in dem die Beachtung und Durchsetzung der derart gewonnenen Individualrechte gesichert ist118; andernfalls droht durch Schaffung von Individualrechten, die nicht beachtet und durchgesetzt werden, ein Verlust der Wirksamkeit des Völkerrechts im allgemeinen und dessen individual- rechtsfreundlicher Auslegung im besonderen.

Für die Auslegung völkerrechtlicher Regelungen als Individualrecht wie für das generelle Verständnis des Völkerrechts ist daher zu beachten, daß Änderungen in diesen Bereichen nur überzeugend sind, soweit sie die jeweiligen Gegebenheiten der Erzeugung und Durchsetzung des Völker- rechts hinreichend berücksichtigen119. Im Wege dynamischer Auslegung einzelner Regelungen oder theoretischer Umkonstruktion ganzer Rechts- bereiche bewirkte Änderungen in Auslegung und Verständnis des Völker- rechts120 ohne Rücksicht auf diese Gegebenheiten zu betreiben, beinhaltet die Gefahr, daß der unter den Bedingungen des Koordinationsvölker- rechts errungene Rechtsbeachtungsstandard aufgegeben wird, ohne daß ein anderer, gar besserer Rechtserzeugungs- und -durchsetzungsstandard im Völkerrecht ersichtlich wäre.

Der Schutz des Einzelnen vor Völkerrechtsverstößen bleibt eines der zentralen Probleme des Völkerrechts. Der erfolgreiche Weg zum Ziel liegt aber nicht in einer Auslegung des Völkerrechts wie sie der IGH im Fall LaGrand vorgenommen hat. Statt dessen ist zunächst auf die Beachtung des bestehenden Völkerrechts hinzuwirken. Darüber hinausgehende Er- weiterungen der Rechte und des Rechtsschutzes des Einzelnen bedürfen zum einen neuer vertraglicher Regelungen; dazu sind die internationalen politischen Bemühungen voranzutreiben. Zum anderen können über- kommene Regelungen im Wege der dynamischen Auslegung als Indivi- dualrechte verstanden werden, soweit die Voraussetzungen für eine derar- tige dynamische Auslegung erfüllt sind.

Allerdings wird diese Auslegung auf Dauer nur dann von den Staaten akzeptiert werden und Erfolg haben, wenn sie auf einer Qualifizierung völkerrechtlicher Regelungen als Individualrecht beruht, die den Staaten Rechtssicherheit vermittelt und eine grenzenlose Schaffung von Indi- vidualrechten vermeidet. Akzeptanz und Erfolg individualrechtlicher Auslegungen des allgemeinen Völkerrechts hängen ganz entscheidend davon ab, daß eine tragfähige Dogmatik der Rechte des Einzelnen im all- gemeinen Völkerrecht besteht. Nur dann kann das Ziel der individual- rechtsfreundlichen Auslegung, die Stärkung des Schutzes des Einzelnen vor Völkerrechtsverletzungen gerade in Bezug auf Staaten, die sich ge- genüber dem Völkerrecht oder bestimmten Völkerrechtssätzen distan- ziert verhalten, durch eine individualrechtliche Auslegung des Völker- rechts erreicht werden. Dieses bedeutet ein langwieriges, behutsames und mühsames Vorgehen. Es ist aber der richtige Weg, einen wirksamen Schutz des Einzelnen vor Rechtsverstößen im Völkerrecht auf Dauer zu erreichen.

Summary
Since the International Court of Justice's ruling in the LaGrand case in 2001, the question whether individuals hold own rights in international law challenges one of the main prin- ciples in international law: the mediation of the individual by and through the State. Inter- national law is originally known as the body of rules and principles of action which are binding upon civilized States and international organisations and their relations with one another. In the area of consular protection law the prevailing opinion has traditionally been that the treatment due to individuals under the Vienna Convention is inextricably linked to and derived from the right of the State, acting through its consular officer, to communicate with its nationals. The State's discretionary powers can be enforced by indi- vidual legal action only at the national level. According to this concept the State serves as the mediator for the individual in protecting the individual against breaches of interna-tional law. The LaGrand judgement of the International Court of Justice has given a fun- damental turn to this situation. In LaGrand the Court interpreted Article 36 of the Vienna Convention in favour of the existence of own individual rights of citizens who have been illegally denied the right to see a home country diplomat when jailed abroad. This de- cision has been the subject of much debate since it can be linked to a general debate about the conception, understanding and future developments of international law. In reaction to the notion of granting individual rights in the area of consular relations the United States only recently withdrew from the Optional Protocol to the Vienna Convention on Consular Rights in order to protect themselves against future International Court of Justice judgements that might similarly interpret the consular convention. The above ar- ticle examines the problem of individual rights in international law in the light of consular protection. The author gives an overview of chances and risks on the question whether granting individual rights in Article 36 of the Consular Convention is in congruence with the general concept of international law.

Recht des einzelnen im Völkerecht.pdf