10.9 Die Präzisierung der Seelenlehre
Die Theorie der Seelenteile im IV. Buch sagt nichts von der Unsterblichkeit der Seele. Als Folgerung aus dem Höhlengleich- nis und dem in ihm implizierten (vgl. 518b6–8) paideia-Begriff formuliert Sokrates nun folgende Unterscheidung: die übrigen „seelisch" genannten Tugenden scheinen nahe bei den körper- lichen Tugenden zu liegen, da sie, zunächst nicht vorhanden, durch Gewöhnung und Übung entstehen. Anders die Tugend des Denkens (phronêsai): sie ist die Funktion von etwas Göttli- cherem, das sein Vermögen nie einbüßt (518d9–e4). Was sein Vermögen nie einbüßt, muß selbst unvergänglich sein. Dies ist aber nicht die ganze Seele, sondern das von ihr, dessen Funktion das Denken ist – der Seelenteil also, der 439d5 als logistikon (Denkseele) benannt worden war. Folgerichtig ist die Denksee- le „ein Göttlicheres" (e2) – göttlicher als die beiden anderen Seelenteile, denn diese sind das, dessen Funktion die anderen seelischen Tugenden sind. Wenn diese fast so etwas wie antrai- nierte körperliche Tugenden sind, so müssen auch die entspre- chenden Seelenteile ontologisch dem Körperlichen nahe, und das heißt sterblich sein.
Durch die Seele geht also ein ontologischer Riß: ein Teil ist etwas Göttliches, Unvergängliches, die zwei unteren Teile sind etwas Sterbliches, quasi Körperliches. Erst im X. Buch folgt ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele (608c–611a). Dieser scheint zwar der dreiteiligen Seele als ganzer zu gelten, doch stellt ein Anhang (611b–612a) klar, daß die Unsterblichkeit nicht für die Seele in ihrem diesseitigen Zustand gelten kann, sondern nur für ihre alte, wahre Natur (611d2, 612a3). Die genaue Unter- suchung der Sprache und der Gedankenführung des Anhangs zeigt, daß mit der wahren Natur der Seele nichts anderes als das logistikon gemeint ist (siehe Szlezák 1976). Die Präzisierung der Seelenlehre besagt also, daß schon vom seelischen Träger her ein prinzipieller Unterschied besteht zwischen der auch den Nicht- philosophen erreichbaren bürgerlichen Tugend, die anerzogen wird fast nach Art körperlicher Tüchtigkeiten, und der Tugend der unsterblichen Denkseele, die allein die Wahrheit über das Gerechte, d. h. die Idee der Gerechtigkeit erfassen und so Tu- gend als Wissen (nicht als Gewöhnung) in sich verwirklichen kann.
Der Mensch ist nicht nur intentional auf das Göttliche und Im- merseiende gerichtet, er ist auch substantiell mit ihm verbunden, insofern das Beste an ihm der Ideenwelt auch ontologisch nahe- steht (mit ihr verwandt ist: 611e2; vgl. Phd. 79d ff., Tim. 90a5).
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