10.7 Die Idee des Guten als Ursache
Man kann nicht sagen, daß das Höhlengleichnis (oder die vor- angehenden zwei Gleichnisse) eine deutlich ausgeführte Theo- rie der Ursächlichkeit des Guten enthielte. Immerhin wird so viel deutlich, daß die ursächliche Kraft des Guten sich auf Ide- en- und Sinnenwelt erstreckt und daß es Ursache in mehrfa- chem Sinne ist. Nach seiner Betrachtung der Sonne „wie sie ist" schließt der aus der Höhle Aufgestiegene, daß sie den Wechsel der Jahreszeiten und der Jahre gewährt, alles im sicht- baren Bereich lenkt und sogar Ursache all der Dinge ist, die er unten sah – jedenfalls „in einer bestimmten Weise" (tropon tina: 516c2). Die Idee des Guten ist Ursache „von allem Richtigen und Schönen", und zwar „für alle Dinge" (517c2); im Sichtba- ren hat sie das Licht und dessen „Herrn" erzeugt, im Intelligi- blen gewährt sie selbst als „Herrin" Wahrheit und Einsicht (noun: intuitives Erkennen); wer vernünftig handeln will, muß sie sehen (517c3–5).
Das Gute ist letzte Zweckursache des menschlichen Handelns.
So war es von vornherein eingeführt worden: alle tun alles seinet- wegen, auch wenn sie nicht wissen, was es ist (505d11–e2). Die Philosophen aber kennen das „eine Ziel im Leben, auf das zie- lend sie alles tun müssen, was sie privat oder öffentlich tun" (519c2–4). Nach anderen Zeugnissen (Symp. 206a, 207a–d; Phd. 75a2, b1; Aristoteles, EE I8, 1218a24–26) scheint der Gedanke der finalen Ursächlichkeit des Guten bei Platon weitere Gel- tung gehabt zu haben als nur im menschlichen Bereich. Daß das Gute im Höhlengleichnis nicht explizit als universale Finalur-sache herausgearbeitet ist, berechtigt nicht zu dem Schluß, daß Platon seine finale Ursächlichkeit einschränken wollte (Chen 1992, 87 f.).
Für alles ist das Gute Ursache des Richtigen und Schönen: damit ist zunächst die Geordnetheit der Ideenwelt (vgl. 500c2– 5) gemeint, der im Bild der Wechsel der Jahreszeiten und Jahre im Kosmos entspricht, dann aber auch die Lenkung (516b10), also die vernünftige, zielgerichtete Beherrschung der sichtba- ren Welt durch die Sonne, die ja vom Guten abstammt. Daß die Idee des Guten Grund der Erkennbarkeit des Intelligiblen ist (517c4), greift auf das Sonnengleichnis zurück; als Seinsgrund dieses Bereichs wird sie hier im Höhlengleichnis nicht noch einmal aufgewiesen (dies nur im Bild: 516c2). Wichtig ist, daß die Beziehung der Sonne zum Guten nicht nur die einer illu- strierenden Analogie ist; vielmehr zeugt (tekousa: 517c3) das Gute sie, und zwar als ihm gänzlich ähnliche Entsprechung (506e3, 508b13). In aristotelischer Terminologie ist das Gute also Form- und Wirkursache der Sonne, und durch Vermitt- lung dieses „Königs" (509d2) und Prinzips (509b3) des Sicht- baren auch des Kosmos insgesamt. Freilich ist die Art der Ver- mittlung des Guten und der Vernünftigkeit an den Kosmos (etwa durch einen Demiurgos) nicht Thema der Gleichnisse. So viel allerdings ist klar: daß das Gute Prinzip des Ganzen (oder: des Alls) ist, wie es im Liniengleichnis heißt (hê tou pantos archê: 511b7), wird vom Höhlengleichnis bestätigt. Die Allverwandt- schaft der Natur (Men. 81c9–d1), die ja nur vom Guten gestiftet sein kann (vgl. Phd. 99c5–6), wird nicht ausgeführt (vielleicht angedeutet 537c2–3).
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