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10.3 Die exegetischen Schwierigkeiten und die moderne Kritik am Gleichnis

Die nicht geringen exegetischen Probleme ergeben sich im we- sentlichen aus vier Gründen: erstens aus der skizzierten Viel- schichtigkeit des Gleichnisses, sodann aus der (gleichfalls schon angedeuteten) Unvollständigkeit von Platons eigener Auslegung seines Gleichnisses, drittens aus seinem bewußten Verzicht (vgl. 533d7–e8) auf eine feste Terminologie und viertens – last not least – aus der antimetaphysischen Orientierung eines großen Teils der Exegeten der letzten hundert Jahre.
Die ersten beiden Gründe erschweren besonders die Deutung der ersten und der zweiten Phase in der Höhle, d. h. die Wahr- nehmung von bloßen Schatten und die Erkenntnis der Figuren, die die Schatten werfen. Platon deutet Schatten und Figuren zu- sammen, und zwar in politisch-moralischem Sinn als die gängi- gen Vorstellungen von Gerechtigkeit (517d). Daß die Figuren der Wahrheit, d. h. der Idee der Gerechtigkeit, näher stehen und sich so auch ontologisch von den Schatten unterscheiden (nämlich als mallon onta, in höherem Maße seiende Gebilde: 515d3), wird bei der Deutung 517d nicht mehr wiederholt, und für die inhaltliche Ausdeutung des Unterschieds von Schatten und Figuren der Gerechtigkeit ist diese ontologische Festlegung auch nicht un- mittelbar hilfreich. (Man kann freilich vermuten, daß die Figu- ren die staatlichen Gesetze, die Schatten die ungenauen Vorstel- lungen des Normalbürgers von den Gesetzen meinen.) Die mehrfache Funktion des Gleichnisses und seine Verbin- dung zum Sonnen- und zum Liniengleichnis würde nun verlan- gen, die Schatten auch mit der sinnlichen Wahrnehmung in Beziehung zu setzen. Die alltägliche sinnliche Gegenstandser- fahrung möchte man ungern auf bloße Mutmaßung (die eikasia des Liniengleichnisses) festlegen, scheint sie doch der zweiten Erkenntnisweise des Fürwahrhaltens (der pistis) besser zu ent- sprechen. Platons Selbstauslegung hilft uns hier direkt nicht wei- ter. Es war das Verdienst von H. Jackson 1882 und A. S. Ferguson 1921/22, gezeigt zu haben, daß jeder Versuch einer präziseren gnoseologischen Auslegung in erhebliche sachliche Schwierig- keiten führt. Ihre Lösung, nach der die beiden Phasen innerhalb der Höhle im Liniengleichnis gar nicht abgebildet seien und die unteren Abschnitte der Linie allein zur Illustration der obe-ren dienten, also mit einer ontologischen Stufung gar nicht in Verbindung zu bringen wären (Jackson 1882, 135 und 140 f.; Ferguson 1921, 131 und 138–146), ist indes mit dem Text schlecht vereinbar und hat viel mit dem vierten Grund zu tun, der explizit antimetaphysischen Haltung dieser Interpreten, von der her sich auch der eher unverdiente Erfolg ihres Ansatzes im 20. Jahrhundert erklärt.
Der dritte Grund, die mangelnde terminologische Eindeu- tigkeit, affiziert vor allem die Deutung der dritten Phase des Aufstiegs, d. h. die Betrachtung von Schatten und Spiegelbil- dern in der oberen Welt außerhalb der Höhle. Die hierbei wahr- genommenen Gegenstände müßten, als Objekte des diskursi- ven Denkens (der dianoia), gegenüber den Ideen selbst, deren Schatten sie sind, minderen ontologischen Rang haben. Platon deutet sie im Höhlengleichnis explizit nicht, belegt aber die Objekte der dianoia im Liniengleichnis (510d7–8) mit Ausdrük- ken, die ihnen Ideenstatus zuzuerkennen scheinen. Solche und ähnliche Schwierigkeiten führten zu scharfer Kritik am Höh- lengleichnis: es sei als Gleichnis so überladen, daß es mehr ein Hindernis als eine Hilfe für das Denken darstelle (Murdoch 1977, 68; vgl. Annas 1981, 252 und 256).
Gegenüber solcher Kritik ist zunächst festzuhalten, daß Pla- ton sich nicht nur für einen guten Dichter von Bildern hielt (vgl.
Leg. 898b3), was noch als bloße Selbstüberschätzung abgetan werden könnte, sondern ein eigenes Bild auch wieder in Frage stellen konnte, wenn es seiner Intention nicht voll entsprach (Bei- spiel: Phd. 99e6–100a3). Da er dies hier nicht tut, ist zunächst zu fragen, ob eine mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck ge- brachte Grundintention des Gleichnisses erkennbar ist, neben der die Einzelschwierigkeiten als sekundär erscheinen müßten.
Als solche wird man bezeichnen dürfen (a) die Notwendigkeit des Verlassens der alltäglichen Erkenntnishaltung zugunsten einer philosophischen Einstellung, (b) die Vorstellung, daß solch eine „Umwendung der ganzen Seele" nicht unmittelbar zur höchsten Erkenntnismöglichkeit des Menschen führt, sondern nur über eine gestufte Abfolge von unterschiedlichen Erkennt- nisweisen, (c) die Überzeugung, daß den gestuften Erkenntnis- weisen ontologisch ungleiche Gegenstandsarten entsprechen, (d) die Ansicht, daß die Umwendung viel Mühe kostet und da- her nicht allein Sache des Verstandes, sondern der Gesamtper-sönlichkeit ist, und (e) der Glaube, daß die Erkenntnis der Idee des Guten die natürliche Bestimmung des Menschen ist, so na- türlich wie die Befreiung aus dem Dunkel der Höhle zum Licht der Sonne.
Daß diese Aspekte des menschlichen Erkenntnisweges nicht klar und eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht wären, wird nie- mand behaupten wollen. Mit Recht insistierte J. Adam darauf, daß Platons Sprache in der Lage ist, genau das auszudrücken, was er meinte (Adam 1902, II 159). Die verbleibenden Rest- probleme der Einzelerklärung sollen nicht geleugnet werden.
Sie gewinnen indes eine überproportionale Bedeutung, wenn man versucht, das Gleichnis auf Kosten seiner erkennbaren Grundintention zu pressen. Die Mahnung von J. Adam, daß in einem Gleichnis nicht jedes Detail bedeutungsvoll sein muß (Adam 1902, II 90), sollte nicht in Vergessenheit geraten.​