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10.10 Die Umwendung der ganzen Seele

Das unsterbliche logistikon kann freilich auch entgegen seiner wahren Natur seine unverlierbare dynamis nach unten richten, dann nämlich, wenn es „gezwungen" ist, „der Schlechtigkeit zu dienen" (519a–b). Aufgabe der paideia ist es, die Umwen- dung (periagôgê: 518d4, 521c6) der fehlgeleiteten Seele zu voll- bringen. Verlangt ist ausdrücklich, die Denkseele „mit der ganzen Seele" von der Welt des Werdens wegzuwenden (518c8), also auch die unteren Seelenteile (so weit es möglich ist) einzu- beziehen. Warum genügt es nicht, die Denkseele umzuwenden, die an- deren Seelenteile aber bei den ihnen eigentümlichen Betäti- gungen zu lassen? Man könnte Platon entgegenhalten, Philo- sophie sei doch eine Leistung des Intellekts, ihn gelte es zu schulen, alles andere sei irrelevant für das Ergebnis. So wie der gefesselte Höhlenbewohner nicht das Auge allein dem Licht zu- wenden konnte, sondern dieses nur „mit dem ganzen Körper" (518c7, mit Rückgriff auf 514b1), so kann die Denkseele, die das Auge der Seele ist (533d2), nicht für sich dem Licht des Guten zugewandt werden. Mögen die Seelenteile auch ungleichen onto- logischen Ranges sein, hier im irdischen Leben sind sie doch an- einander gebunden. Die Existenz im Körper beschwert die Denk- seele mit den Begierden und Ablenkungen des Körpers, die ihr letztlich zwar unwesentlich sind (vgl. 611d1–7), die sie aber doch nach unten ziehen wie Bleigewichte (519b1). Ohne dieses Blei wegzuschlagen, ist für Platon wahre Philosophie nicht mög- lich. Aus diesem Grund betont er auch sonst stets, daß für eine philosophische Natur die ethischen Qualitäten ebenso wichtig sind wie die intellektuellen (vgl. z. B. 485b–487a, 535a–540a).