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10.2 Auffällige Einzelheiten

Eine ausführliche Nacherzählung der Allegorie vom Aufstieg aus der Höhle ist hier nicht erforderlich. Im Blick auf die an- schließende Besprechung der Deutungsprobleme sei jedoch auf einige Details hingewiesen, die oft gar nicht oder nur unzurei- chend berücksichtigt werden oder aus denen in der Literatur mitunter voreilige Schlüsse gezogen wurden. (1) Im Rücken der Gefesselten verläuft ein Weg, gesäumt von einer Mauer; den Weg entlang tragen Menschen allerlei Figu-ren vorbei. Die Schatten dieser Figuren sind das einzige, was die Gefesselten auf der Rückwand der Höhle erblicken (515c1–2) – of- fenbar können sie nicht die Träger ausmachen (dies vermutlich wegen der Mauer). Das bedeutet: Wer in der Täuschung lebt, ahnt nicht, wer die Täuschung hervorruft. Im Text kommen die Her- steller der Statuen – im Gegensatz zu den Trägern – nicht einmal vor, die Identität der Träger wird nicht angedeutet, ebensowenig die Bedeutung der Figuren. Das Gleichnis läßt so manches offen. (2) Einer der Gefesselten wird aus den Fesseln gelöst und zum Aufstieg aus der Höhle gezwungen (515c6, e1, 6). „Ge- zwungen" – das bedeutet, daß Platon hier jedenfalls weder mit Selbstbefreiung noch mit dem Bedürfnis, die neue Freiheit mutig zu nutzen, rechnet. (3) Die Sonne wird am Ende des Aufstiegs, nach einer Zeit der Gewöhnung, gesehen an ihrem Ort im All, so wie sie wirk- lich ist (516b4–7). Anders als im Phaidon (99c5–e1) findet sich hier kein Wort von einer Gefährdung der Augen beim Blicken in die Lichtquelle. (4) Die Rückkehr des zum Licht Aufgestiegenen in die Höh- le ist im Gleichnis zunächst als eine freiwillige dargestellt (516e3–4). In Platons anschließender Interpretation zeigt sich dann (517c8 ff.) aber, daß hier ein Problem liegt. Das Gleichnis stellt also nicht alles dar, was relevant ist. (5) Von oben kommend, sieht der Rückkehrer zunächst nichts (516e4 ff.). Die Untengebliebenen, die ewigen Gefangenen, tri- umphieren: der Aufstieg habe sich nicht gelohnt, die Augen des Rückkehrers seien verdorben. Der Gewinn, den die Philoso- phie bringt, läßt sich dem Nichtphilosophen nicht ohne weite- res evident machen. (6) Das Letzte innerhalb des Gleichnisses im engeren Sinne ist nicht die Rückkehr selbst (wie Wieland 1982, 222 meinte), son- dern die Tötung des Rückkehrers durch die Untengebliebenen, als er versucht, sie zu befreien (517a5–6). Platon betont den un- versöhnlichen Gegensatz zwischen Leben in der Täuschung und Durchschauen der Täuschung. Das Eintreten für die Wahrheit ist potentiell tödlich für den Philosophen. Der politische Aspekt bestimmt also das Ende des Gleichnisses. Daraus zu schließen, daß es hierauf allein ankomme, und so den gnoseologischen und ontologischen Aspekt zu leugnen, wie es Ferguson 1922 tat, heißt allerdings, das Gleichnis unerlaubt vereinfachen.​