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10.6 Das Gute „hinreichend“ sehen?

Das Höhlengleichnis wäre als Bild sinnlos, wenn der zum Licht Aufsteigende die Quelle des Lichts nicht erblickte. Er kann die Sonne erblicken, „sie selbst an sich" und „an ihrem eigenen Ort", und sie „betrachten, wie sie beschaffen ist" (516b4–7).
Die streng durchgeführte Analogie erlaubt keine andere Deu- tung als die, daß auch das Gute „selbst an sich" erfaßt wird, d. h. nicht relativ zu anderem, als gut für dieses oder jenes, und „an seinem eigenen Ort", d. h. hinsichtlich seiner Stelle in der Ord- nung der an sich seienden Dinge (und nicht lediglich in der Hierarchie privater Zwecke), und daß es nicht nur „erblickt", sondern auch „betrachtet" wird, „wie es (wirklich) ist", d. h. nicht mehr durch Vermittlung seiner Erscheinungen (vgl. phantas- mata: 516b5) in anderen Dingen. Die Denkseele wird das Schau- en auf die Idee des Guten, wie wir sahen, sogar „aushalten" (518c10), was zweifellos ein erkennendes Verweilen beim be- trachteten Gegenstand impliziert.
Auch sonst ist die gelingende Schau des Guten überall Voraus- setzung der Argumentation: die Dialektik ist Gipfel und End- punkt (oder Ziel, telos: 535a1) aller Studien, und sie läßt ihrerseits nicht nach, bevor sie nicht in der noetischen Erfassung des Guten „ans Ziel selbst des Intelligiblen" gelangt (532b1–6). Es gibt in der Tat ein Ankommen (aphikesthai: 519c9) beim Guten und für den Angekommenen ein Ende der Reise (telos tês poreias), ein Aus- ruhen vom Weg (532e2–3). Die Staatsgründer wollen die Philo- sophen sogar zum Ankommen beim Guten zwingen (519c9; vgl. 540a6–8) – zu Unerreichbarem zwingen zu wollen, wäre absurd.
Die Philosophen müssen beim Ziel angekommen sein, weil nur dies ihre Herrschaft legitimieren kann: sie sehen nunmehr auch im politischen Bereich unendlich viel klarer als die anderen (520c3–6). Zweck des ganzen philosophischen Bildungsweges ist es, Herrscher zu bekommen, die nicht – wie die durchschnitt- lichen Menschen: 505d11–e4 – im unklaren sind über das größte Lehrstück (megiston mathêma: 505a2), die Idee des Guten. Die künftigen Herrscher müssen sie „unbedingt sehen" (526e4), Unkenntnis des Guten ist bei ihnen absolut unzulässig (505e4– 506a3, 534d3–7; vgl. 540a6–9). Und die Philosophen werden zum Regieren gezwungen, wenn sie das Gute „hinreichend ge- sehen" haben (epeidan … hikanôs idôsi: 519d1–2).
Die Dialogfigur Sokrates erhebt natürlich nicht den An- spruch, das Gute hinreichend erkannt zu haben. Er unterschei- det zwar zwischen seiner Ansicht dazu und dem, was er davon hier und jetzt mitteilt (506e1–5 mit 509c5–10), läßt aber offen, ob seine Ansicht die Wahrheit trifft oder nicht (533a3–5; vgl. 517b6–7; siehe hierzu Szlezák 1985, 312–316). Man hat daraus schließen wollen, daß die Idee des Guten als letztlich unerkenn- bar konzipiert sei und daß Platon selbst eingestehe, sie nicht er- kannt zu haben (Ferber 1991, 21 nach Natorp 1922, 190). Indes ist zu trennen zwischen der Selbsteinschätzung Platons (über die aus der Politeia – direkt jedenfalls – nichts zu gewinnen ist), der Präsentation des Gedankens durch die Dialogfigur (hierzu ge- nerell Szlezák 1985) und der Theorie, die zu akzeptieren So- krates uns einlädt. Nur letztere interessiert uns hier.
Und in dieser Theorie kann das „hinreichende" Sehen des Guten nicht bedeuten: (gerade noch) hinreichend, um für das Regieren einen gewissen Nutzen daraus ziehen zu können. Es geht nicht um ein dosiertes Maß an (ungesichertem) Wissen, das relativ zu einem begrenzten praktischen Zweck zu bemes- sen wäre. Hikanôs kann nur heißen: hinreichend oder adäquat im Blick auf das Gute selbst und „an sich", auf seine (wirkliche) „Beschaffenheit" und „seinen eigenen Ort" in der Gesamtheit des Wirklichen. Diese Konzentration auf die Sache selbst liegt auch in der Vorstellung des aushaltenden Verweilens beim Gu- ten. Die Philosophen erkunden das Gute nicht um des Regie- rens willen (dieses ist für sie vielmehr eine eher lästige Notwen- digkeit: 520e2, 540b4), sondern um seiner selbst (und ihrer selbst) willen.
Wäre das Gute selbst seinem Wesen nach unerkennbar, so wäre nicht zu sehen, wie dem Staat gedient sein soll mit Herr- schern, die zwar die (bisher) größten Anstrengungen unternah- men, dem unerreichbaren Ziel näher zu kommen, es aber ein- gestandenermaßen nicht erreichten. Ihr Anspruch, das politisch Gerechte besser beurteilen zu können, fiele weg: ohne Erkennt- nis des Guten könnten sie auch das Schöne und Gerechte weder angemessen erkennen noch politisch wahren (506a–b) – sie wä- ren keine Wächter mehr. Die moderne Auslegung des platoni- schen Philosophiebegriffs, derzufolge das Philosophieren ein ewiges Unterwegssein ohne Aussicht auf Ankunft ist, wird vom Höhlengleichnis nicht gestützt. Ihren Vertretern sei empfoh- len, das Gleichnis umzuschreiben: aus der Höhle herausgetre- ten, muß der Befreite zur Kenntnis nehmen, daß die dichte Wol- kendecke, die den Himmel bedeckt, sich nie lichten wird. Ob es darüber eine Sonne gibt oder mehrere oder keine, und wo sie steht, wenn es eine gibt, wird er nie erfahren …​