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10.5 Welcher Art ist die Erkenntnis des Guten?

Das Gute selbst zu erkennen ist das Ziel des Aufstiegs, und es wird auch erreicht (516b4–7 mit 517b7–c5, 519c9; vgl. 532a5– b2, e1–3, 540a4–9, u. ö.). Doch wie die Erkenntnis des höch- sten Prinzips konzipiert ist, bleibt eine der umstrittensten Fra- gen der Platonexegese. Am häufigsten begegnet man etwa fol- genden Ansichten (die sich nicht alle gegenseitig ausschließen): das Gute muß wegen seines ontologischen Ortes „jenseits des Seins" (509b9) seinem Wesen nach unerkennbar bleiben (de Vogel 1988, 45–50); es kann, weil ungegenständlich, nur indirekt durch Bilder erfaßt werden, weswegen Platon drei Gleichnisse bringe, nicht aber eine Definition des Guten (u. a.
Ebert 1974, 150 f.; Wieland 1982, 48 f., 196 f. u. ö.); es wird auf dem Weg der unio mystica adäquat, sonst nur metaphorisch er- kannt (Plotinos und der Neuplatonismus; vgl. neuerdings Albert 1996, 151–157); es wird durch eine unmittelbare intellektuelle Anschauung erfaßt, die nicht propositionaler Natur ist und für die Platon die Metapher des Schauens (theasthai) geprägt habe (so weite Teile der kontinentaleuropäischen Platonexegese, z. B. Oeh- ler 1962, Krämer 1989); zur „Schau" tritt als notwendige Hinfüh- rung die diskursive Wesensbestimmung durch Abgrenzung von anderen Ideen (Krämer 1989, Halfwassen 1994); oder die dis- kursive Elenktik bleibt die einzige Zugangsart zur Idee des Guten (u. a. Robinson 1953, Stemmer 1992).

Daß Platon Bilder biete, weil das Wesen des Guten prinzipi- ell nicht angebbar sei, ist ein (früher weitverbreitetes) Mißver- ständnis der Aussparungsstelle 506e–507a (siehe Szlezák 1985, 303–325). Die inhaltliche Bestimmbarkeit des Guten ist im Text überall vorausgesetzt: Sokrates hat eine Ansicht über das Wesen des Guten, die er jetzt freilich nicht mitteilt (506e1–3), und der Dialektiker wird das Gute jedenfalls bestimmen können müssen (534b8–d1). Dem entspricht, daß der Aufgestiegene das Gute zuletzt „sieht": Unbestimmbares läßt sich nicht sehen, und die Sonne jedenfalls ist ein Bestimmtes. Daß das Gute ein Lehrge- genstand (mathêma) ist, zu dem man methodisch hinführen, zu dessen Erkenntnis man sogar zwingen kann (siehe unten Ab- schnitt 10.11), spricht nicht dafür, es als regulatives Prinzip der Urteilskraft und propositional prinzipiell nicht faßbares Ge- brauchswissen (Wieland 1982, 185, 217, 236) auszulegen.
Daß das Gute erkannt werden kann, ist das Ergebnis (517b8– c1) des Höhlengleichnisses und in gewissem Sinne auch seine Voraussetzung, denn ohne das würde der Aufstieg in der Tat nicht lohnen (wie die Höhlenbewohner meinen: 517a4); daher ist die Erkennbarkeit des Guten vorbereitend schon im Son- nengleichnis ausgesprochen (508e3–4, analog zur Sichtbarkeit der Sonne 508b9–10). In der Erläuterung zum Höhlengleich- nis erfahren wir überdies, daß die Seele schließlich sogar die Fähigkeit gewinnt, das Schauen auf das Leuchtendste des Sei- enden „auszuhalten" (anaschesthai theômenê: 518c9–10). Daß das Betrachten der Idee des Guten „nur für wenige Augenblicke" möglich sei (Albert 1996, 153), wird durch diese Stelle nicht bestätigt. Auch der aus der Höhle Aufgestiegene kann die Son- ne nicht nur „erblicken", sondern auch „betrachten, wie sie [wirk-
lich] ist" (katidein kai theasasthai hoios estin: 516b6–7). (Ob wir
Heutige das mit de Vogel 1988, 49 für „naiv" halten oder nicht, tut nichts zur Sache: Sokrates sagt es so.) Von diesem Schauen der Sonne und der Idee des Guten ist nun deutlich abgehoben das Schließen (syllogizesthai: 516b8 und 517c1), das offenbar erst in einem zweiten Schritt vollzogen wird (danach, meta tauta: 516b8; 517c1 ophtheisa de: „ist sie aber gese- hen, so …") und durch welches die Sonne als letzte Ursache für alles Sichtbare, die Idee des Guten für alles Intelligible und Sicht- bare im einzelnen aufgewiesen wird. Das Schließen auf die ur- sächliche Funktion des Guten durchläuft mehrere Schritte, ge-hört mithin in das diskursive Denken. Es liegt daher nahe, das davon abgehobene vorgängige Schauen (theasthai) bzw. Sehen des Guten als ein ganzheitlich-intuitives Erfassen zu verstehen, das – wie das plötzliche Erblicken der Idee des Schönen im Symposion (210e4) – nur in einem Schritt besteht: im Zusam- menschauen des Vielfältigen zur Einheit (vgl. pros hen … syn-horônta: Leg. 965b10, eis mian idean synhorônta: Phdr. 265d7).
Der zu erfassende gemeinsame Zug des Vielfältigen betrifft die allen Dingen gemeinsame Herkunft vom Guten, das den Ideen Dauer und Bestimmtheit, Sein und Erkennbarkeit verleiht, wo- durch sie guthaft werden (vgl. agathoeides: 509a3). Daß das Gute Sein und Erkennbarkeit verleihen kann, läßt sich am ehesten verstehen, wenn man die von Aristoteles (Met. N 4, 1091b14, vgl. A 6, 988a14) referierte akademische Gleichsetzung des Guten mit dem Einen akzeptiert (vgl. den Beitrag von Krämer in diesem Band). – Die von Robinson 1953 u. a. stark betonte Elenktik verharrt beim diskursiven Denken als der vermeint- lich einzigen Erkenntnisart der Dialektik und wird so Platons unverkennbarer Intention, eine unmittelbare und positive Er- kenntnis des Guten als Ziel der Dialektik zu erweisen, nicht gerecht: die Elenktik bleibt stets negativ (vgl. Halfwassen 1994).
Die Zusammenschau ist freilich charakteristisch für alle dia- lektische Erkenntnis, nicht nur die des Guten: der Dialektiker ist Synoptiker (537c7; vgl. Phdr. 266b5–c1; zum Begriff synopsis Chen 1992, 160–165). Angesichts der herausgehobenen onto- logischen Stellung des Guten („noch jenseits von Sein hinaus- ragend an Rang und Macht": 509b9) und angesichts der für Platon bezeichnenden Parallelisierung von ontologischem Sta- tus und Gewißheit der Erkenntnis könnte man sich in der Tat fragen, ob es nicht systemgerecht wäre, wenn solch einem Prin- zip des Ganzen (511b7; vgl. 517c1–4) eine Erkenntnisweise zugeschrieben würde, die von der synopsis sonstiger Dialektik verschieden wäre. Plotinos' Postulat eines übernoetischen Zugangs ist von daher verständlich, ebenso moderne Zweifel an der Er- kennbarkeit des Guten. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, daß Platon weder die Fähigkeit der Dialektik, das Gute zu erken- nen, einschränkt, noch einen Versuch macht, innerhalb der Dia- lektik für die besondere Idee des Guten eine besondere Zugangs- art geltend zu machen. Dieser Zug der platonischen Konzepti- on wird vielleicht besser verständlich, wenn man bedenkt, daß das Gute nicht nur „jenseits des Seins" hinausragt, sondern doch auch wieder als Teil des Seienden betrachtet wird (518c9, 526e3, 532c6).​