10.1 Herkunft, Ort und Vielschichtigkeit des Gleichnisses
Das Höhlengleichnis ist Platons zweiter Versuch, seine Über- zeugung vom minderen ontologischen Rang der Erfahrungs- welt in ein Bild zu fassen: im Schlußmythos des Dialogs Phaidon begegnet bereits die Vorstellung einer „wahren Erde" (109a– 111c), die sich weit über dem von uns bewohnten Ort befindet.
Wer dort hinauf gelangen könnte, würde erkennen, daß wir uns zu den dort lebenden Menschen hinsichtlich unseres Wahrneh- mungs- und Erkenntnisvermögens so verhalten, wie das untere Element unserer Welt, das Wasser, sich zum oberen Element, der Luft, verhält, und wie diese wiederum zum Aither, der dort oben über der Luftschicht liegt wie hier die Luft über dem Wasser (Phd. 109e mit 111b). Die Analogie A : B = B : C (Wasser : Luft = Luft : Aither) ist hier das Denkmittel, das vom uns bekannten un- teren Bereich aus die unbekannte obere Welt erschließen soll.
Dieses Denkmittel, das Platon vor allem aus Herakleitos (DK 22B79, 83) geläufig war, verband er im Höhlengleichnis mit der zuerst bei Empedokles (DK 32B120, 121) belegten Vorstellung, unsere Welt sei eine finstere und freudlose Höhle, in die wir, aus einer besseren Welt kommend, durch die Geburt hineingeraten sind. Dahinter wiederum ist die orphisch-pythagoreische Ab- wertung des Daseins im Körper (sôma), der metaphorisch als Grabmal (sêma) der Seele gewertet wurde, zu erkennen. Platon erweist sich also mit seinem berühmtesten Text (wie auch mit seinem gesamten Werk) als Erbe der vorsokratischen Traditi- on, hier im besonderen der jenseitsorientierten orphisch-pytha- goreischen Religiosität.
Die enge Verknüpfung mit den Gleichnissen von der Sonne und der Linie und deren ontologisch-gnoseologischer Aussage verschafft der Daseinsdeutung des Höhlengleichnisses eine um- fassende philosophische Bedeutung, die es verständlich macht, daß diese zweite Gestaltung des Gedankens der Existenz in ei- ner unteren Welt und des Aufstiegs in eine obere soviel mehr Bewunderer und Nachahmer fand als die erste Fassung im Phai- don. (Zur Vorgeschichte und Nachwirkung des Gleichnisses sie- he Gaiser 1985.) An seinem literarischen Ort, im Kernstück von Platons Hauptwerk, ist unser Text einerseits als wohlintegriertes, für den Fortgang der Argumentation gerade hier notwendiges Ele- ment in der Konstruktion des idealen Staates zu verstehen, zu- gleich aber auch als bildhafte Verdichtung von Platons philoso- phischer Gesamtkonzeption. Bemerkenswert ist die außeror- dentliche Vielschichtigkeit des Gleichnisses: Die Ontologie Platons ist abgebildet in der Abfolge von vier Arten von Gegenständen, mit denen der zum Aufstieg gedrängte Mensch erst in der Höhle, dann außerhalb ihrer sukzessive konfrontiert wird, wobei die Gegenstände der jeweils später begegnenden Art „in höherem Maße seiend" und daher „wah- rer" sind (515d3, 6) und am Ende der Stufung das „leuchtend- ste" und „beste" unter allen Dingen, nämlich die Idee des Gu- ten, steht (vgl. 518c9, 532c6). Seine Erkenntnislehre kommt zum Ausdruck in der Bezogenheit der Erkenntnisweisen auf die Ge- genstandsarten sowie in der Überzeugung, daß der Aufstieg ein klar umrissenes und auch erreichbares Ziel (vgl. telos: 532b2, 540a6) in der Schau jenes leuchtendsten und besten aller Din- ge hat.
Seine Auffassung vom Staat drückt sich in der Gleichsetzung der Schatten in der Höhle mit den gängigen falschen Vorstel- lungen von der Gerechtigkeit aus (517d7–9) sowie in der For- derung, die Philosophen müßten, nach erreichter Schau des Prin- zips, in die Welt der Politik zurückkehren und nach Maßgabe ihrer Kenntnis der Idee des Guten ihre Stadt, ihre Mitbürger und sich selbst formen und ordnen (519d ff., 539e ff.; vgl. plat- tein: 500d6, kosmein: 540b1).
Dies wiederum impliziert eine Ethik, die ihre Orientierung aus der theoretischen Erkenntnis des Guten selbst gewinnt und mit unterschiedlichen Graden der Verwirklichung der Tugend bei den philosophischen Wächtern und den unphilosophischen Bürgern des Staates rechnet. Diese Ethik ist verbunden mit ei- ner Theorie der Erziehung (paideia), die die Existenz eines gött- licheren Bestandteils des Menschen voraussetzt, der sein Er- kenntnisvermögen als solches nie einbüßt, wohl aber einer fal- schen Ausrichtung fähig ist, die die Philosophie durch einen methodisch durchdachten mehrjährigen Bildungsgang zu korri- gieren hat (518d–519b). Damit sind wir zugleich bei der den gan- zen Entwurf tragenden metaphysischen Anthropologie angelangt: die Seele des Menschen besitzt einen unsterblichen Teil, dessen Befreiung und angemessene Entfaltung die Voraussetzung für das Glück des einzelnen wie auch der Staaten ist. Daher mündet das Höhlengleichnis, das die Befreiung und das Erreichen des Er- kenntnisziels bildhaft schildert und für möglich erklärt (516b4–7 mit 517b7–c4, 518c9–10, 532a5–b2), folgerichtig in die zuver- sichtliche Behauptung, der beste Staat sei nicht ein bloßes Wunschbild, sondern tatsächlich möglich (520c–521b, dazu 539d–541b). Denn der Aufstieg einiger weniger philosophisch Veranlagter aus der Höhle zur Sonne ist die Bedingung der Möglichkeit der Befreiung der Staaten als ganzer von ihrem gegenwärtigen Unheil. Das Höhlengleichnis erbringt also die Garantie dafür, daß auch die dritte und größte Woge der die Möglichkeit des besten Staates bedrohenden „Dreifachwoge" (trikymia: 472a4) das schöne Wunschbild nicht wegspülen kann, und insofern ist es das Fundament der ganzen Staatsutopie.
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