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10.13 Ist der beste Staat eine bloße Wunschvorstellung?

Weil der Aufstieg zur Sonne möglich ist, darf Sokrates auch die Möglichkeit des besten Staates zuversichtlich behaupten (521a1, 540d2–3). Seine Verwirklichung darf sich nicht der Gewalt be- dienen, sondern muß auf eine „göttliche Fügung" (theia tychê: 592a8–9; vgl. 499b5, c1) vertrauen. Göttliches Eingreifen in die Geschichte, d. h. eine vom Menschen nicht kalkulierbare Wendung zum Besseren, liegt gewiß nicht außerhalb des Ge- dankenkreises platonischer Geschichtsphilosophie und Reli- giosität. Doch ist nicht der Vorschlag zur praktischen Durch- führung, zunächst alle über zehn Jahre Alten aus der Stadt zu relegieren, um die Jüngeren ungestört charakterlich formen zu können (540e5–541a2), gänzlich wirklichkeitsfremd und über- dies ohne Gewalt gar nicht durchführbar? Müssen wir nicht Hans-Georg Gadamer zustimmen, daß Platons „Denken in Utopien" „nicht Utopisches als Wirkliches oder zu Verwirkli- chendes bieten" will (Gadamer 1983, 283)?
Erstens kennt Platon den Gedanken der Annäherung ans stren- ge Ideal (473a–b). In diesem Sinne könnte die Relegation sich auf diejenigen beschränken, die sich mit dem Vorhaben auf kei- ne Weise anfreunden könnten, und sie könnte bei entsprechen- der gesetzlicher Regelung und Kompensation auch gewaltlos erfolgen. Und was den Verzicht auf „alle" Erwachsenen betrifft, so sind damit zweifellos nur alle freien Bürger gemeint: auf die Hilfe von weisungsgebundenen paidagôgoi (die auch in Athen immer Unfreie waren) müßten die Gründer des Staates nicht verzichten. Nur wenn man neuzeitliche Verhältnisse und Rechts- begriffe voraussetzt, ist die Annahme zwingend, der Schluß des VII. Buches meine nicht das, was er sagt. Der Staat der Philoso-phen war für Platon – der ja, anders als wir, noch auf keinerlei historische Erfahrung mit der Umsetzung utopischer Entwürfe zurückblicken konnte – keine bloße euchê (540d2), modern ge- sprochen: keine „bloße Utopie".​