10.8 Das Gute als paradeigma des Handelns
Nach vollzogener Schau des Guten sollen die Philosophen in die Welt der Praxis zurückkehren, um es nunmehr als Vorbild oder Modell (paradeigma) zu nehmen (540a9). Ihre Aufgabe ist eine dreifache: sie sollen (a) die Stadt, (b) die Privatleute (idiô- tai) und (c) sich selbst ordnen (kosmein: 540b1). Das Gute selbst als paradeigma nehmen, meint offenbar nichts anderes, als „ein Ziel im Leben haben, worauf zielend (man) alles tun muß, was (man) privat oder öffentlich tut" (519c2–4). Unter welcher Be-dingung kann das Gute das gemeinsame Ziel allen persönli- chen und staatlichen Handelns sein?
Das Gesetz zielt auf den Zusammenschluß (syndesmos) der Stadt (520a4). Sokrates nimmt hier den Gedanken auf, daß das größte Gut für die Stadt das ist, was sie zu einer Einheit zusam- menbindet (syndei: 462b2), und daß nur die Einheit Frieden und Freundschaft im Inneren und die Verteidigungsfähigkeit nach außen erhält (464d–465b). Aus dem Postulat der Einheit folgen die wesentlichsten Züge der platonischen Stadt, so die Beschrän- kung ihres Wachstums (423b6), die gleiche Erziehung für Män- ner und Frauen sowie die Abschaffung von Familie und Privat- eigentum für die zwei oberen Schichten (461e–466d).
Was die Formung der Individuen betrifft, so ist auch hier der Gedanke der Einheit maßgebend. Die umfassende Tugend der Gerechtigkeit befähigt den Menschen, die Teile seiner Seele „zusammenzubinden" (syndêsanta), so daß er „ganz und gar ei- ner wird aus vielen" (443e1). Dies gilt wohl schon für die „bür- gerliche Tugend" (430c3 mit 500d8), in höherem Maße aber für die Tugend dessen, der „die Wahrheit über das Schöne, Ge- rechte und Gute gesehen hat" (520c5). Das eine Ziel oder das Gute ist also bei der Gestaltung des Staates wie bei der For- mung des Individuums nichts anderes als die Einheit selbst.
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