10.11 Die Art der Durchführung der paideia
Der zum Aufstieg Befreite befreit sich nicht selbst: jemand zwingt ihn zum Aufwärtsschreiten, ja er zerrt ihn gewaltsam nach oben ans Licht (515c6, e6–8). Wer ist dieser jemand (tis: 515e6)? Sein Fragen nach dem Was der Dinge (d6) zeigt, daß der rücksichtslose Befreier ein Bild des Sokrates ist. Ohne einen Lehrer, so scheint es, kommt man nicht auf den Weg der Dia- lektik. Anderswo rechnet Platon zwar mit der Möglichkeit, daß eine philosophische Natur sich von selbst bildet (Soph. 265d8– e2) oder auf Grund von nur geringer Hilfe (VII. Brief 341e3); für das hier in der Politeia gezeichnete Bild vom Philosophieren aber ist festzuhalten, daß Selbstbefreiung – die sehr leicht ins Bild hätte eingeführt werden können – nicht vorkommt.
Auch im idealen Staat werden die Philosophen zum letzten Schritt, zum Blicken auf das Gute, gezwungen werden (519c8– d1, 540a7–8). Das klingt seltsam, handelt es sich doch um Na- turen, die wie niemand sonst lernbegierig, philomatheis, sind (376b–c, 485b u. ö.). Gemeint ist wohl, daß notfalls moralischer Druck auf sie ausgeübt wird, um einem Nachlassen ihrer An- strengungen vorzubeugen (vgl. 535b7). Wie dem auch sei, ei- nes ist der Formulierung mit Sicherheit zu entnehmen: daß dem Aufstieg der Seele zum Guten auf der inhaltlichen Seite ein klar umrissenes Theorem entspricht, nicht aber so etwas wie ein regulatives Prinzip der Urteilskraft, ein nichtpropositionales Gebrauchswissen. Jemanden zum Haben von Urteilskraft oder Gebrauchswissen zwingen zu wollen, wäre von vornherein wi- dersinnig – noch dazu „zwingen" ab seinem 50. Lebensjahr (540a4). Dergleichen stellt sich ein, oder es stellt sich nicht ein, erzwingen oder zeitlich programmieren läßt es sich nicht. Wenn dagegen der Erkenntnis des Guten in der Seele auf der Seite der logoi eine formulierbare und in langer gemeinsamer Diskussion zu erprobende Theorie der Prinzipien entspricht, so ist es durch- aus sinnvoll, Menschen, deren philosophisches Verständnis an anderen Theoremen schon breit getestet wurde, zu einem be- stimmten Zeitpunkt zu drängen, sich nun intensiv mit dieser Theorie zu befassen.
Eine schriftliche Fixierung solch einer Theorie könnte übri- gens die ethische Formung, die verlangt ist, nicht mitliefern und wäre somit für das Ziel der Umwendung der ganzen Seele nicht von Nutzen. Zugelassen zur Schulung in Dialektik wird nur, wer auch die ethische Qualifikation besitzt (539d3–6, vgl. 503d8–9): nur so ließe sich der von Platon gefürchtete Miß- brauch (537e–539d) vermeiden. Eine schriftliche Fassung, noch dazu eine frei zirkulierende, würde solchem Mißbrauch Vor- schub leisten (Phdr. 275 e, VII. Brief 344d). Die Vorsicht (eula- beia: 539b1, d3) der Herrschenden, die der Erziehung Unwür- digen (anaxioi paideuseôs: 496a5), die mit der Sache der Dialek- tik nichts zu tun haben (vgl. ho … ouden prosêkon: 539d6, ähnlich Phdr. 275e2), nicht zuzulassen, ist doppelt begründet. Neben der Würde der Philosophie (vgl. 539d1) spricht dafür vor allem die politische Konstruktion des künftigen Staates: wenn die Herr- schaftsbefugnis an das Wissen vom Guten geknüpft ist, so muß dafür gesorgt sein, daß nicht Unbefugte Anspruch auf die Herr- schaft erheben. Wenn aber allein ein nichtpropositionales Ge- brauchswissen den Anspruch begründete, so könnte jeder sich selbst für befugt erklären; wenn hingegen die entscheidende dialektische Theorie der Ideen und der Prinzipien beliebig zu- gänglich wäre, so könnten Ungeeignete, die ohne charakterli-che und intellektuelle Schulung irgendwie eine (notwendig un- zureichende) Kenntnis der Theorie erlangt hätten, einen schein- bar berechtigten Anspruch erheben. Der elaborierte Zeitplan des Bildungsganges schließt beide Möglichkeiten aus.
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