10.4 Liniengleichnis und Höhlengleichnis
Platons Anweisung lautet: das Höhlengleichnis ist mit dem zu- vor Gesagten zu verknüpfen (proshapteon: 517b1). Er selbst setzt zweimal dazu an, zuerst in unmittelbarem Anschluß an die Al- legorie 517a8–518b5, ein zweites Mal 532a1–535a1 unter Ein- beziehung der inzwischen besprochenen mathematischen Stu- dien. Die erste Stelle bringt die Entsprechung in groben Zügen: (1) Der Höhle entspricht die wahrnehmbare Welt, der horatos topos des Sonnen- und Liniengleichnisses (508c2, 509d2) und damit auch der untere Teil der Linie, der diesen Bereich reprä- sentiert (509d8); das Feuer in der Höhle stellt die Sonne dar (517b1–4), diese selbst natürlich, wie schon im Sonnengleich- nis, die Idee des Guten. Die Schatten sind politisch-moralische Fehlmeinungen etwa über Gerechtigkeit (517d4–e2). (2) Der Aufstieg aus der Höhle zum Licht entspricht der methodischen Aufwärtsbewegung des Denkens im Liniengleichnis (anabasis und anodos: 517b4/5 erinnern an anôterô ekbainein: 511a6). Die zweite Selbstinterpretation bringt die präzisere Bestimmung der Phasen: der Dialektik, die die Ideen selbst und die Idee des Guten durch noêsis erfaßt, entspricht nach dem Aufstieg aus der Höhle das Blicken auf die Lebewesen, die Gestirne und die Sonne selbst (532a2–b2). Den Künsten (technai, weniger genau
auch Wissenschaften, epistêmai genannt: 532c4, 533d4), die ihr Objekt durch dianoia erfassen, entspricht das Blicken auf die „göttlichen Erscheinungen im Wasser und die Schatten der seienden Dinge" in der oberen Welt (532c1–2). Das Blicken auf die Schatten und auf die Statuen in der Höhle wird 532b6–7 er- wähnt, 533e7–534a5 dann als Mutmaßen (eikasia) und Fürwahr- halten (pistis) gedeutet. Diese Stelle greift ausdrücklich zurück auf die Zusammenfassung des Liniengleichnisses, wo bereits einmal die vier Erkenntnisarten: intuitives Denken (noêsis), diskursives Den- ken (dianoia), Fürwahrhalten (pistis) und Vermuten (eikasia) in dieser Reihenfolge erschienen (511d6–e2). Daß den vier Erkenntnisarten je ein eigener Gegenstandsbereich entspricht, war schon in 511e2– 4 ausgesprochen und wird zusammenfassend in 534a2–7 noch ein- mal bekräftigt: die Bereiche Werden (≈Höhle) und Sein (≈obere Welt) bedürfen der weiteren Teilung in je zwei Unterbereiche (was aber inhaltlich nicht weiter ausgeführt wird).
Platons eigene Auslegung unseres Textes zeigt somit, daß er die drei Gleichnisse als ein eng verbundenes Ganzes mit einer einheitlichen Aussage betrachtet wissen wollte. Die ontologi- sche Grundunterscheidung zwischen Ideen und Erscheinungs- welt am Anfang des Sonnengleichnisses (507a5–b11), die not- wendig die ganze Wirklichkeit umfaßt, wird ausdrücklich in die folgenden zwei Gleichnisse hinübergenommen (509d1– 510a10, 517b2–6). Daher kommt beiden, dem Linien- wie dem Höhlengleichnis, auch ontologische Bedeutung zu – sie sind nicht lediglich als Illustration von Erkenntnismethoden bzw.
Phasen eines Erziehungsweges gemeint. Die vier Abschnitte auf der Linie und die vier Phasen des Aufstiegs aus der Höhle sind durchaus als parallele Darstellungen derselben Sachver- halte intendiert (ungeachtet der daraus resultierenden Schwie- rigkeiten). Beide Darstellungen gelten je für sich schon der Zuordnung von unterschiedlichen Erkenntnisweisen zu di- stinkten Gegenstandsarten, auf die sie sich richten (zu den Din- gen eph' hois tauta: 534a5–6≈511e2–3), wobei das Linien- gleichnis mehr (aber nicht ausschließlich) den erkenntnistheo- retischen und den Methodenaspekt betont, das Höhlengleichnis mehr (aber nicht ausschließlich) die Seite der Gegenstände (Nachweise im einzelnen bei Chen 1992). Mit diesem In-Be- ziehung-Setzen von Erkenntnisweisen und ontologischen Gegenstandsbereichen wird im übrigen nur der Grundgedan-ke der Ideenhypothese, wie er 474b–480a entwickelt war, wei- ter ausgeführt.
Dieser Befund spricht nicht dafür, (a) mit Ferguson 1921, 138 (dem hierin viele Interpreten bis heute folgen) zu glauben, daß Höhle und (untere) Linie „have no connexion at all", oder (b) mit Jackson 1882, 135 und Ferguson 1921, 131, 146 (und ihren heutigen Nachfolgern) zu meinen, der untere Teil der Linie habe rein illustrativen Charakter, oder (c) im Gefolge dieser Interpreten zu leugnen, daß eine „fourfold classification of ob- jects or states" (Ferguson 1921, 143, nach Jackson 1882, 141) vorliegt, und zu versichern, für die mathematischen Gegenstän- de als eigenen intelligiblen Objektbereich (als eigenes noêton eidos, verschieden von den Ideen: so Platon 511a3 mit 510b4, 511c5–6) gebe es in der Politeia keinen Platz (Jackson 1882, 141 n. 1), und daher (d) dem Viererschema beider Gleichnisse eine „threefold ontology" zu unterlegen (so Pritchard 1995, 94, nach vielen anderen). (Eine detaillierte Aufarbeitung der anhal- tenden Fortwirkung des Ansatzes von Jackson und Ferguson findet sich bei Chen 1992.) Mit diesen exegetischen Entscheidungen wird keineswegs be- stritten, daß sachliche Kritik an Platons Konzeption der eikasia durchaus möglich ist: die Gegenstände der eikasia sind als wahr- nehmbare Sinnendinge von den Gegenständen der pistis onto- logisch nicht verschieden, und wir verfügen auch nicht über ein Erkenntnisvermögen, das speziell für Schatten und dergleichen zuständig wäre. Für Platon hingegen war ein ontologisches Ge- fälle zwischen einem Ding und seinem Abbild nie zweifelhaft (vgl. z. B. Rep. 597e, Soph. 266b–c, Phil. 58e f., 61e f.), und of- fenbar war er bereit, auch die Wahrnehmung von Schatten und Spiegelungen für entsprechend ungewisser zu halten.
Was die Seele auf der dritten Stufe erkennt, wenn sie auf die Schatten und Spiegelungen der oberen Welt blickt, sind weder wahrnehmbare Dinge noch Ideen, sondern die Gegenstände der mathematischen Disziplinen. Diese gehören einerseits zum im- mer Seienden (527b7), andererseits sind sie nicht einzig, vielmehr gibt es (unendlich) viele (exakt) gleiche Dinge dieser Art (526a3; vgl. Phil. 56e2). Von den zwei ontologischen Merkmalen Un- veränderlichkeit und Einzigkeit, die beide den Ideen zukom- men, den Sinnendingen abgehen, kommt das eine den Gegen- ständen der Mathematik zu, das andere geht ihnen ab. Sie ste-
hen ontologisch also zwischen den Ideen und den Sinnendin- gen, so wie die ihnen zugewandte Erkenntnisweise der dianoia „zwischen" (metaxy: 511d4) nous und doxa steht (vgl. 533d4–6: zwischen Wissen, epistêmê, und Meinung) und so wie die obe- ren Schatten und Spiegelungen jedenfalls im Bild zwischen den Statuen in der Höhle und den wirklichen Gegenständen oben stehen.
Der Einwand (z. B. bei Pritchard 1995, 94), daß die Objekte der Erkenntnis in drei ontologische Klassen zerfallen müssen, weil ja auch das X. Buch der Politeia nur drei Klassen kennt (Dinge, Abbilder der Dinge, Abbilder der Abbilder), verfängt nicht, da anläßlich der Kritik der mimêsis kein Anlaß war, die Probleme des ontologischen Status der Gegenstände der Ma- thematik zu erörtern. Die Auffassung, die Gegenstände der zwei- ten und dritten Stufe des Aufstiegs seien „equally unreal" (Prit- chard 1995, 101) und folglich ontologisch gleichrangig, hat keine Stütze am Text, wird vielmehr von 532b7/c1 (bloße eidôla gegen göttliche Erscheinungen: phantasmata theia) widerlegt – ganz abgesehen davon, daß sie das Bild absurd machen würde.
Als gewichtiger Einwand gegen ontologisch distinkte mathe- matische Gegenstände gilt auch, daß als Objekt der mathemati- schen Betrachtung das „Viereck selbst" und die „Diagonale selbst" genannt sind (510d7–8), womit die Ideen als Gegen- stand der Mathematik und der dianoia (und nicht nur der Dia- lektik und der noêsis) erwiesen seien (u. a. Annas 1981, 251; Prit- chard 1995, 103). Doch Platons Sprachgebrauch in der Politeia bestätigt das nicht: 525d–526a ist von „den Zahlen selbst" und vom „Einen selbst" die Rede, wobei der Zusammenhang keine andere Deutung zuläßt als die auf „individual mathematical numbers and nothing more" (Adam 1902, II 114; vgl. II 68; siehe auch Chen 1992, 224 f.). – Nebenbei sei erwähnt, daß auch Aristoteles in seinem Resümee der Ontologie Platons den mathêmatika dieselbe Zwischenstellung (metaxy: zwischen Sin- nendingen und Ideen, Met. I 6, 987b14–18) zuweist, die auch der Text der Politeia erkennen läßt.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß nach der klar zum Ausdruck gebrachten Intention von Sonnen-, Linien- und Höh- lengleichnis und ihrer verknüpfenden Auslegung durch Sokra- tes der Aufstieg aus dem Dunkel des vorphilosophischen Be- wußtseins in vier Phasen erfolgt, die vier nach ihrer Deutlich-keit gestufte Weisen des Erkennens symbolisieren, denen auf der Objektseite wiederum vier Gegenstandsklassen mit unter- schiedlichen ontologischen Merkmalen gegenüberstehen.1
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