Zur Rolle des Rechtsextremismus
Ohne Zweifel stellt der Rechtsextremismus die „Wirtsideologie" (Hüllen und Homburg 2017) bzw. „Kernideologie" (Fiebig 2018) für alle politischen Ableitungen aus dem „Reichsbürger"-Milieu dar. „Reichsbürger" sind in der Regel Geschichts- und Gebietsrevisionisten. Damit bilden sie jedoch nur eine „Facette des Rechtsextremismus" (Schäfer 2016) ab. Vor allem mit dem modernen Rechtsextremismus (Klärner und Kohlstruck 2006) sind sie aufgrund ihrer offensichtlichen Rückwärtsgewandtheit kaum kompatibel. Aufgrund der eindeutigen Verortung der „Reichsbürger"-Ideologie im Rechtsextremismus wird der von den Sicherheitsbehörden angegebene Anteil von Rechtsextremisten im Milieu von um die 5 % (s. oben) oft als zu gering bemessen kritisiert (Wellsow 2017) und zusätzlich die Anerkennung der Militanz und Gewaltaffinität der Szene angemahnt (Speit 2017). Schumacher (2015) weist einschränkend daraufhin, dass der „Reichsgedanke" – vor allem, wenn sich auf die Gesetze der Weimarer Republik bezogen wird – nicht per se als rechtsextrem interpretiert werden kann.
Aus polizeilicher Sicht stellt sich die Situation einer Hellfeldstatistik noch einmal schwieriger dar als bei einer ideologischen Einordnung seitens des Verfassungsschutzes. Die polizeiliche Einordnung hat streng nach den angezeigten Delikten zu erfolgen. Deshalb werden sowohl ein manifester Rechtsextremist als auch ein hartgesottener „Reichsbürger" so lange nicht in den polizeilichen Statistiken auftauchen, bis sie nicht durch eine Straftat (mindestens das Begehen eines Propagandadeliktes) als Tatverdächtige polizeilich bekannt werden. Infolge der gesetzlich vorgeschriebenen Löschfristen für personenbezogene Daten in den polizeilichen Datensammlungen kann es dazu kommen, dass nicht erneut straffällig werdende „Reichsbürger" recht zügig wieder in das Dunkelfeld eingehen. Dies geschieht, obwohl dem kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter aus der Erfahrung bewusst ist, dass sich weder das rechtsextreme Weltbild noch die auf diese Weise selbstinduzierte neue Biografie des „Reichsbürgers" und damit die grundlegende Bereitschaft zum Gesetzverstoß auflösen werden. Damit jemand in der Statistik innerhalb der 5 %-Schnittmenge von Rechtsextremisten und „Reichsbürgern" auftaucht, muss er entweder gleichermaßen in beiden Deliktfeldern polizeilich auffällig geworden sein, oder mit einem Delikt, welches beiden Phänomenbereichen eindeutig zugeordnet werden kann.
Haase (2018) gibt den Prozentsatz der registrierten politisch motivierten Gewaltdelikte der polizeilich bekannten „Reichsbürger" zwischen 2 % und 15 % an. Damit ist aber nicht die tatsächliche Anzahl der aus der Ideologie des „Reichsbürger"-Milieus direkt hervorgehenden Gewalttaten beschrieben. So kann beispielsweise eine Person, die auch als „Reichsbürger" bekannt ist, einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft aus rein fremdenfeindlichen Motiven begehen. Umgekehrt kann ein „Reichsbürger" einen Gerichtsvollzieher tätlich angreifen, um sich dem Vollzug staatlicher Maßnahmen zu entziehen. In diesem Fall ist das Tatmotiv objektiv rein materieller Natur, entspringt aber dem typischen Verhalten der Insolvenzverschleppung durch „Reichsbürger". Die Schusswechsel in Reuden und Georgensgmünd lassen sich auch als „Suicide-by-cop"-Handlungen auf der letzten Eskalationsstufe von „Reichsbürger"-Karrieren interpretieren (Keil 2017) und stellen damit milieuspezifische Gewaltdelikte dar. Häufig greifen Selbstverwalter auf ihren Grundstücken befindliche Amtsträger und Behördenvertreter an, weil sie für diese Gebiete die uneingeschränkte territoriale Hoheit reklamieren. Letztlich ist auch der Fall denkbar, dass sich rechtsextreme Ideologieelemente mit den für „Reichsbürger" typischen Handlungsweisen zu einer Melange vermischen. Diese geschah beispielsweise am 29.08.2020 beim gemeinsamen Versuch von Anhängern der „Reichsbürger"-Szene und Rechtsextremisten, den Reichstag in Berlin im Rahmen der Anticoronamaßnahmendemonstration zu erstürmen. Innerhalb des Rechtsextremismus sind „Reichsbürger" schon aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und des relativ hohen Frauenanteils nicht die Haupttäter in Bezug auf rechtsextremistisch motivierte Gewaltstraftaten. Die Hauptwaffe des „Reichsbürgers" ist nach wie vor die Vielschreiberei. Eine von Speit (2017) unterstellte generelle Militanz lässt sich mit polizeilichen Zahlen aus dem Hellfeld nicht belegen.
Im Ergebnis zeigen sich aus polizeilicher Sicht zwei relativ unterschiedliche Tätertypen. Während Rechtsextremisten primär gesellschaftsfeindliche Motive bemühen, das „System" überwinden wollen und dafür im Extremfall politische Attentate wie im Mordfall Walter Lübcke oder der NSU-Mordserie begehen, haben „Reichsbürger" vordergründig den individuellen Ausstieg aus dem System im Sinn, weil sie sich ihren Gläubigern entziehen wollen. Gleichwohl kommen für Hassverbrechen wie fremdenfeindliche und antisemitische Propagandadelikte beide Tätergruppen in Betracht (Tab. 1).
| Rechtsextremistisch politisch motivierte Kriminalität (PMK) | „Reichsbürger"/Selbstverwalter | |
|---|---|---|
| Alter | Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter | Mittleres und spätes Erwachsenenalter |
| Motiv | Ideologisch und politisch motivierter Überzeugungstäter | Materielles Motiv (Schulden) Bereicherung (Milieumanager) Narzisstische Motive Dramatische Motive Querulatorische Motive |
| Abgrenzungsmotiv (von der BRD) | Aussteigermotiv (aus der BRD) | |
| Ziel | Systemüberwindung Abschaffung der Demokratie Errichtung eines Führerstaates |
Systemausstieg persönliche Autarkie |
| Delikt | Widerstandshandlungen Propagandadelikte Hassverbrechen Terrorismus Attentate |
Ordnungswidrigkeiten Propagandadelikte Hassverbrechen „Papierterrorismus" „Suicide by cop" |
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