Skip to main content

Zur Rolle der Verschwörungstheorien

Nicht jeder Verschwörungstheoretiker ist ein Reichsbürger, aber jeder Reichsbürger glaubt an mindestens eine Verschwörungstheorie. So kann man, kurz gefasst, das Verhältnis der Protagonisten im „Reichsbürger"-Milieu zu Verschwörungstheorien10 kennzeichnen. Egal, ob man die Idee der Bundesrepublik als Firma, eine weiter andauernde Besetzung durch die Alliierten oder den Fortbestand des Reiches in den Grenzen von 1937 annimmt, fußen alle Begründungsmythen der Selbstlegitimierung durch „Reichsbürger" an ihrem Ausgangspunkt zumindest auf einem historisch falschen Verschwörungsgedanken. Rathje (2017) geht bedeutend weiter und spricht sogar vom „Wahn des bedrohten Deutschen". Zweifelsohne finden sich in der Fallkasuistik vor allem im Milieu der traditionell nationalistischen „Reichsbürger" sowie unter den Milieumanagern Personen, die mehr oder weniger offen der Szene der Verschwörungstheoretiker zuzurechnen sind.

Demgegenüber steht jedoch eine Vielzahl von Trittbrettfahrern und Nachahmungstätern, die für sich meinen, mit der „Reichsbürger-Masche" einen genialen Steuerspartrick gefunden zu haben. Diese Personen betätigen sich eindeutig eher als Rollenspieler, um mit der Behörde „Katz und Maus" zu spielen. Ein klinischer Wahn auf individueller Ebene kann für diese Fälle aber kategorisch ausgeschlossen werden. Ein kollektiver Wahn im Sinne von rechtsextremistischer politischer Ideologie dient dem persönlichen Querulantentum zwar als Überbau, wird aber weder inhaltlich durchdrungen, noch wird ihm durch alle Protagonisten die entsprechende Bedeutung beigemessen. Dass aber auch die unbewusste oder unbedachte Verbreitung von Stereotypen dennoch zu ihrer Verstetigung und einer Diskursverschiebung in der Gesellschaft beiträgt, ist ebenso wahr.

Unbestritten ist, dass „Reichsbürger", ausgehend von dem einen Verschwörungsgedanken der Nichtexistenz der Bundesrepublik, in der Mehrzahl offen für viele weitere Verschwörungstheorien sind. Das deckt sich mit den empirischen Befunden (Goertzel 1994), die belegen, dass die Anhänger einer Verschwörungstheorie mit höherer Wahrscheinlichkeit auch offen für weitere Verschwörungstheorien sind, selbst wenn diese inhaltlich nicht zusammenhängen. Welche Arten von Theorien miteinander häufig in Verbindung stehen, ist dabei keinesfalls als zufällig anzusehen. Butter (2018) trifft für Verschwörungstheorien eine sinnvolle Unterscheidung zwischen konkreten Ereignisverschwörungen, die sich auf mittlerer Ebene in übergeordnete Systemverschwörungen integrieren lassen und dann auf der höchsten Metaebene zu einer alles umgreifenden „Superverschwörung" führen können.

Dieser Taxonomie folgend lassen sich für „Reichsbürger" typische Verschwörungstheorien identifizieren, die im Milieu häufig anzutreffen sind. Dies sind auf der Ebene der Ereignisverschwörungen insbesondere „Chemtrails"11, „Reichsflugscheiben" und „Neuschwabenland"12, „Aldebaraner"13 und im Zuge der Coronapandemie auch „Adrenochrom"14, „5G-Sendemasten-Verschwörung"15 und „Impf-Chip-Verschwörung"16. Auf der nächst höheren Ebene der Systemverschwörung stecken hinter allem entweder die „Bilderberger"17, „Freimaurer" und „Illuminaten18". Seit COVID-19 werden auch in Deutschland im Zusammenhang mit „QAnon"19 häufiger der „deep state"20 oder die „Hochfinanz"21 als Feindbild benannt. Man bekennt sich zudem zur esoterischen „Germanischen Neuen Medizin" des 2017 verstorbenen Arztes Ryke Geerd Hamer (Nocun und Lamberty 2020) und schwadroniert vom „Großen Austausch durch die Globalisten"22. Auf der allerhöchsten Ebene der Superverschwörung, bei der alles mit allem in Verbindung gebracht wird, findet man dann häufig die „Reptiloid-Verschwörung"23, die „Neue Weltordnung – NWO"24 und die „jüdische Weltverschwörung" (Baldauf und Rathje 2015), wobei die beiden erstgenannten ebenfalls antisemitische Ressentiments bedienen. Zwischen diesen Verschwörungstheorien bilden sich mehr oder weniger lose aufeinander aufbauende Assoziationspyramiden und Gedankenketten, bei denen verschiedene Ereignisverschwörungstheorien, über Systemverschwörungen aggregiert, dann in der welterklärenden Superverschwörung gipfeln (Abb. 1). Von der „Impf-Lüge" führt der Schritt über die „Germanische Neue Medizin" dann schnell zur angeblich antideutschen jüdischen Medizin und damit zur jüdischen Weltverschwörung. Dasselbe Impfthema geht zugleich auch über die geplante heimliche Sterilisation mit dem „Großen Austausch" in der „NWO"-Verschwörung auf. Was dem normalen Zuschauer auf einer Coronaleugnerdemonstration von außen im ersten Moment als wirr, verschroben, verrückt und vollkommen bunt zusammengewürfelter Haufen erscheinen mag – hier der ultrachristliche, alternativ anmutende, esoterische Impfgegner und dort der holocaustleugnende, aluhuttragende Reichsbürger – entbehrt auf den zweiten Blick nicht einer gewissen Logik. Wenn man sich in diesen Denkwelten auskennt und die Binnenrationalität innerhalb des Milieus nachvollzieht, offenbaren sich einem auf allen diesen Demonstrationen von Stuttgart bis Berlin die immer wiederkehrenden gleichen Diskursstereotype. Somit sind Verschwörungstheorien auf diesen Demonstrationen keine skurrile Einzelfallphänomene, sondern die Regel.

View attachment 6244

Deshalb ist es gesellschaftspolitisch auch nicht hilfreich, Verschwörungstheoretiker als „Spinner" zu bezeichnen, dafür sind es zu viele (Weigmann 2018). So zeigen Daten zur Verbreitung von allgemeiner Verschwörungsmentalität in Deutschland (Rees und Lamberty 2019), dass in Deutschland fast die Hälfte der Befragten (45,7 %) an geheime Organisationen mit großem Einfluss auf politische Entscheidungen glaubt und immerhin noch ein Drittel (32,7 %) Politiker als Marionetten dahinterstehender Mächte ansehen. Konkrete Ereignisverschwörungen werden für etwas weniger wahrscheinlich gehalten. Dennoch denken 25 %, dass der Unfalltod von Prinzessin Diana durch den MI625 verursacht wurde, „Chemtrails" im Auftrag der Regierung halten 18 % für wahrscheinlich, und jeweils 17 % denken, dass die Amerikaner niemals auf dem Mond waren und die USA den Anschlag auf das World Trade Center 9/11 selbst inszeniert hätten. Dabei korrelieren solche Annahmen positiv mit einer Wahlabsicht für die AfD und der intensiven Mediennutzung von Videoplattformen wie Youtube etc. (Schultz et al. 2017).

Ein solcher Glaube an Verschwörungstheorien ist, historisch betrachtet, keinesfalls neu oder ungewöhnlich (Butter, 2018; Hofstadter 1964). Dass Menschen zu allen Zeiten besonders unter den Rahmenfaktoren von Anomie, Furcht, Angst vor Arbeitsplatzverlust, fehlendem interpersonalem Vertrauen, Unsicherheit und Kontrollverlust verschwörungstheoretisch denken, kann als kulturübergreifend evolutionspsychologisch erklärbarer Bestandteil der menschlichen Natur angesehen werden (Van Prooijen und van Vugt 2018; van Prooijen und Douglas 2018; Goertzel 1994, 2010). Darüber hinaus animieren nicht nur Negativemotionen zur Flucht in Verschwörungstheorien. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, sieht sich auch in Abgrenzung von den naiven „Schlafschafen" als Teil einer aufgewachten Gegenelite und befriedigt damit sein Bedürfnis nach Einzigartigkeit (Imhoff und Lamberty 2017) und Individuation. Dieses unbedingte Gefühl, als Privilegierter hinter die Kulissen geschaut zu haben, ist Verschwörungstheoretikern sehr zu eigen und wird als „Illusion explanatorischer Tiefe" (Vitriol und Marsh 2018) bezeichnet. Je stärker diese Illusion des wirklich wahren Durchblicks ausgeprägt ist, desto unkritischer nimmt man in der Folge weitere Verschwörungen an. Menschen neigen zudem seit jeher dazu, in ihrer Umwelt Muster zu erkennen („pattern reception") und den Dingen einen Sinn und innere Ursachen („agency detection") zuzuschreiben. Diese Fähigkeiten waren für die Anpassung der menschlichen Spezies an ihre Umwelt über Jahrtausende überlebensnotwendig.

Der Glauben an Verschwörungstheorien erfüllt außerdem noch eine sozial ordnende Funktion. Eine geteilte Verschwörungstheorie hebt die individuelle Furcht auf die Ebene eines Gruppenkonfliktes bzw. einer kollektiven Angst und geht mit der Aufwertung der Eigengruppe und der Abwertung der Fremdgruppe einher (van Prooijen und Douglas 2018). Zudem ist es auf individueller Ebene bei der Mustererkennung evolutionär verzeihlicher, einen Ast hundertmal für eine giftige Schlange zu halten als einmal eine Schlange für einen Ast. Ebenso ist es als Kollektiv historisch verzeihlicher, eine Fremdgruppe fälschlich einer Verschwörung gegen die Eigengruppe zu bezichtigen, als eine existierende Verschwörung zu übersehen und dies wohlmöglich mit dem Tod der eigenen Gruppe bezahlen zu müssen (Van Prooijen und van Vugt 2018). Verschwörungstheorien können zusammenfassend sozusagen normopathisch bzw. subklinisch gut mit Theorien aus der Kognitions- und Sozialpsychologie erklärt werden. Welche Verschwörungstheorien dabei zu welchen Zeiten als wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich angesehen werden, hängt von den umgebenden gesellschaftlichen Faktoren ab. Tendenziell steigt allein mit der Verbreitung und Rezeption einer Verschwörungstheorie über die Zeit ganz unabhängig von der Faktenlage auch der Glaube daran, dass sie wahr sein könnte. Dadurch wird z. B. die Mondlandung durch die Amerikaner zunehmend immer unwahrscheinlicher (Goertzel 1994). Auch an anderer Stelle fehlt den Theorieinhalten die logisch-faktische Stringenz. Personen, die glauben, dass Prinzessin Diana in Wirklichkeit vom MI6 umgebracht wurde, halten es für ebenso wahrscheinlich, dass sie ihren Tod nur inszeniert habe, um unbehelligt von der Öffentlichkeit weiterleben zu können (Wood et al. 2012). Hinter solchen an sich konträren Annahmen verbirgt sich die generalisierte Gewissheit („higher order beliefs"), dass „nichts ist, wie es scheint" (Barkun 2013) und an der offiziellen Version in jedem Falle zu zweifeln ist. In der Folge eines solchen „general conspiracy thinking" (Federicio et al. 2018) lassen sich die Theoriegebilde von Verschwörungstheoretikern schnell um neue gesellschaftliche Phänomene wie die Coronapandemie oder den 5G-Netzausbau erweitern.

Es entsteht ein Teufelskreis: An je mehr Theorien man glaubt, umso mehr ist man davon überzeugt, dass den „Eliten da oben" alles zuzutrauen sei, was die Integration neuer Theorien wiederum katalysiert und so zur immer naiveren Aufnahme weiterer Theorien führt. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass sich „Reichsbürger" stets für neue Verschwörungstheorien begeistern können, insbesondere dann, wenn sich diese explizit gegen die Obrigkeit richten, welche der „Reichsbürger" mit seiner Selbstkonstruktion per se delegitimieren möchte. Trotz der Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Normalität darf man Verschwörungstheorien jedoch nicht als harmlos abtun und die Augen davor verschließen, dass sie als Begründungsnarrative für gesellschaftsschädliches und potenziell sogar lebensgefährliches Verhalten dienen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie von Vertretern der Wissenschaft selbst vertreten werden (Goertzel 2010), wie es auch jetzt in der Pandemie leider zu beobachten ist, z. B. durch den ehemaligen Amtsarzt Wolfgang Wodarg, der sich in den sogenannten Alternativmedien als „Anti-Drosten" inszeniert (Kröber 2020b). Gefährliches Verhalten beginnt bei sinkender Impfbereitschaft und riskantem Gesundheitsverhalten im Zusammenhang mit dem Glauben an Impfverschwörungen (Jolley und Douglas 2017; Taylor 2019) und endet bei den veröffentlichten Manifesten der rechtsterroristischen Einzeltäter von Utøya, Christchurch, Halle und Hanau, die sich explizit auf „Tempelritter-Orden", den „Großen Austausch" und „ZOG" („zionist occupied government") und konspirative Eliten berufen. Zudem haben sie sich mit ihren Taten über die Ländergrenzen hinweg gegenseitig zur Nachahmung inspiriert (Hartleb 2020; Kröber 2020a, b). Zu wissen, es gibt eine schlechte Welt da draußen und einen klar benennbaren Feind, der dies zu verantworten hat, schaffte für diese Täter ihre Ordnungs- und Handlungsrahmen. Die Verschwörungstheorie liefert die Legitimation für ihre Gewalt, sie bestimmt die Opfergruppe, sie gibt ihnen das Gefühl von Einzigartigkeit und Handlungsmacht und ist damit ein Rechtfertigungskatalysator sowie Radikalisierungsbeschleuniger (Bartlett und Miller 2010). Rees und Lamberty (2019) argumentieren, dass der Polizistenmörder Wolfgang Plan 2016 in Georgensgmünd wohl deshalb ohne zu zögern das Feuer eröffnete, weil er für sich ein Notwehrnarrativ konstruierte, bei dem die Polizisten als Teil der Verschwörung gegen ihn galten.

Auch wenn man für die Erklärung von Verschwörungstheorien nicht die Psychopathologie bemühen muss, stellt sich die berechtigte Frage, aus welchen inneren Gründen heraus sich jemand ausgerechnet für die speziellen pseudohistorischen Verschwörungsgedanken zum „Reichsbürgertum" entscheidet? Wie bereits erwähnt sind Verschwörungstheorien für ihre Anwender nützlich. Dies gilt insbesondere für Menschen mit einer geringer ausgeprägten Ambiguitätstoleranz (Frenkel-Brunswik 1949) und dem starken Bedürfnis danach, in einer gerechten Welt (Lerner 1977) zu leben. Diesen Menschen helfen die Verschwörungstheorien dabei, einen dualistischen Gut-böse-Ordnungsrahmen für eine in Wahrheit komplexere Welt zu finden. Im Fokus steht somit eher die Ordnung der Außenwahrnehmung und des sozialen Umfelds, dagegen bleibt die eigene Identität – mit Ausnahme des Gefühls, sich für schlauer als den Rest zu halten – im Kern weitgehend unberührt. Verschwörungstheorien können somit instrumentell im Sinne eines Wahrnehmungsfilters verstanden werden: Man greift sich nach Belieben mehrere „innere Brillen" heraus, durch die man die äußere Welt wieder ein wenig klarer sieht. Die Verschwörungsgedanken zum „Reichsbürgertum" bieten darüber hinaus einen bedeutsamen Mehrwert für die eigene Identität, indem sie ein klar strukturiertes Rollenangebot machen. Es kommt zur persönlichen Aufwertung als „Gegen-Kanzler" im eigenen kleinen Reich. Es werden konkrete Handlungsschemata und Rhetorikskripte vermittelt, mit denen man sich im Konflikt mit den Behörden wieder als selbstwirksam und auf Augenhöhe erlebt. Zur Komplexitätsreduktion und Welterklärung des Außen, die alle Verschwörungstheorien bieten, gesellt sich also im Falle der „Reichsbürger"-Ideologie eine spezifische Anreicherung des Innen mit einer durch Abgrenzung entstandenen vollkommen neuen Identität als „Reichsbürger"/Selbstverwalter. Es lässt sich hierin durchaus der produktive Lösungsversuch eines Identitätskonfliktes erkennen, der zudem einen konkreten Ausweg aus der materiellen Krise verheißt (Tab. 2).

  Verschwörungstheoretiker „Reichsbürger"/Selbstverwalter
Auslösesituation Paranoide Gedanken, Gesundheitssorgen, Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg, Verunsicherung, Anomie Gesundheitliche Probleme, narzisstische Krisen, Schulden, konkreter Verfolgungsdruck durch Behörden/Gerichtsvollzieher
Kognition/Bedeutung Musterillusion, „Gerechte-Welt"-Illusion, dualistisches Denken, das große Ganze allgemein wieder verstehen wollen Einen konkreten Ausweg suchen, um die eigene Lage zu verbessern, die Dinge im persönlichen Bereich neu regeln
Identitätskonstruktion Eigene Einzigartigkeit unterstreichen, kein „Schlafschaf" mehr sein Eine neue Identität erlangen, „Abnabelung" von der Bundesrepublik, Autarkie
Handlung/Funktion Komplexitätsreduktion, Entlastungsfunktion Komplexitätsreduktion, Selbstwirksamkeitserfahrung durch Rhetorikschulung, Zahlungsaufschub erwirken