Psychopathologie und politischer Extremismus
Psychopathologie und Extremismusforschung stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Der Vorwurf an die Psychiatrie und klinische Psychologie lautet, dass sie es nicht vermocht haben, eine empirisch überzeugende Ätiologie des Extremismus/Terrorismus herauszuarbeiten (Logvinov 2019). Oder, wie es der US-amerikanische forensische Psychiater und selbst Terrorforscher Marc Sageman auszudrücken pflegt, Terroristen seien „neither bad or mad" (2008, S. 62). Er richtet den Fokus damit auf die Tatsache, dass Radikalisierung ein durch die Gesellschaft bedingter Individuationsprozess sei, bei dem auch altruistische, möglicherweise übersteigerte Gerechtigkeitsmotive eine bedeutsame Rolle spielen können. Radikalisierung sei ein Prozess, der für die Normalpsyche gelte. Folglich sind die gängigen Modelle der Radikalisierung in Bezug auf Terrorismus von Sageman (2008), Moghadam (2005) und McCauley und Moskalenko (2008) eher durch entwicklungspsychologische Stufenabfolgen, Identitätstheorie, Sozialpsychologie und politische Psychologie inspiriert als durch die Psychopathologie der Persönlichkeit.
Der Psychopathologie fällt im Nachhinein oft nur die Frage der Schulfähigkeit zu. Insbesondere bei politisch motivierten Taten wollen die Täter selbst verständlicherweise für zurechnungsfähig gehalten werden, um die Botschaft der Tat nicht zu entwerten. Kann es sich überhaupt noch um eine politische Tat handeln, wenn der Täter zur Tatzeit psychisch erkrankt war? Für Kröber (2020a) imponiert im Falle des Anschlags von Hanau durch Tobias Rathjen das ganze Geschehen eher als finaler psychotischer Amoklauf denn als politisch motivierter Terroranschlag. Hartleb (2020) hält entgegen, wer ausführliche Manifeste zur Bekennung im Vorfeld verfasse, wie die Täter von Utøya, Christchurch, Halle und auch Hanau, der handele nicht spontan und sei deswegen gerade kein Amokläufer, sondern ein Terrorist. Terroristen wiederum seien aber keine Monster oder ferngesteuerte Roboter, sondern Menschen. Gleichwohl geht auch Hartleb davon aus, dass bei Rathjen der Verdacht einer paranoiden Schizophrenie naheliegt. Sein Manifest unterscheidet sich inhaltlich recht deutlich von den Manifesten der anderen drei Täter, wie von Kröber (2020a) auch ausgeführt. Zudem muss noch erwähnt werden, dass sich die Tat von Rathjen durch den Muttermord und seine finale Selbsttötung auch qualitativ deutlich von den anderen drei Taten unterscheidet. Anders Behring Breivik, Brenton Tarrant und Stephan Balliet haben ihre Taten überlebt und keine inkludierten Beziehungstaten begangen. Der Grad der Politisierung liegt in diesen drei Fällen erkennbar höher. Dennoch wäre es falsch, die Tat von Hanau als unpolitisch zu markieren. Eine PMK-Straftat aus dem „rechtsextremistischen Phänomenbereich" mit dem Themenfeld „Hasskriminalität" und den Unterthemenfeldern „islamfeindlich" und „rassistisch" bleibt sie polizeilich schon deshalb, weil diese Kriterien unabhängig vom Geisteszustand des Täters die Opferauswahl begründet haben. Im Nachgang der Tat verlangte nun Rathjens überlebender 73-jähriger Vater (Spiegel 2020b) die Tatwaffen zurück, äußerte sich selbst rassistisch und forderte, die Videoinhalte seines Sohnes wieder freizuschalten. Bereits 2004 hatten Vater und Sohn gemeinsam Anzeigen gegen unbekannte Geheimdienste erstattet, von denen sie sich verfolgt fühlten. Weiterhin streitet der Vater ab, dass sein Sohn die Tat von Hanau überhaupt begangen hat; dies sei ein Doppelgänger unter „false flag" gewesen, der auch seinen Sohn getötet habe.33 Angesichts dieser Umstände liegt eine familiäre Vulnerabilität für Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises in jedem Fall genauso nahe wie die Tatsache, dass rassistische Diskurse auch vor der Tat im Familienkontext bereits über längere Zeit eine prägende Rolle gespielt haben dürften.
Die Polarisierung „amtlich anerkannter Rechtsextremist" hier und „irrer Einzeltäter" dort führt am Problem vorbei. Das Phänomen in Gänze zu pathologisieren und damit zu entpolitisieren, hieße, die Opfer sowie die gesellschaftliche Dimension aus der Tatbewertung auszuschließen. Radikalisierung als Prozess findet nie im politisch leeren Raum innerhalb eines Einzelindividuums alleine statt; sie ist immer ein zwischenmenschlicher Prozess vor dem Hintergrund eines kulturellen Konfliktes. Eine reine Politisierung der Tat verkennt dagegen wiederum das Einzelschicksal und verwischt alle klinischen und subklinischen Abstufungen des Verhaltens, die natürlich einen steuernden Einfluss auf die Tatausführung haben. Letztlich gibt es Grenzfälle, die man paradoxerweise als „psychisch kranke Überzeugungstäter" bezeichnen muss und denen man nur in der Einzelfallbetrachtung gerecht werden kann – wenn man die politisch induzierten und psychopathologisch vorhandenen Persönlichkeitsanteile in ihrer Wechselwirkung zueinander richtig gewichtet. Nehmen wir den Fall des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik, bei dem unter anderem ein Asperger-Autismus, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, antisoziale Verhaltenstendenzen, Tierquälerei im Kindesalter, Steroiddoping und Aufputschmittelkonsum sowie eine Depression diagnostiziert wurden (Allely und Faccini 2017; Faccini und Allely 2016). Im ersten Gutachten nach der Tat hatte die Diagnose noch paranoide Schizophrenie gelautet, weil die in seinem rechtsextremen Narrativ begründete Vorstellung, er sei einer von mehreren in Europa heimlich verstreut agierenden „Tempelrittern", als sprachlicher Neologismus und Größenwahn fehlinterpretiert wurde (Melle 2013). Auch Verbigeration und Perseveranz wollten die Psychiater in seinem, zugegeben, weitschweifigen, größtenteils aber fremdkopierten Manifest festgestellt haben. Hier zeigt sich das Problem einer rein psychiatrischen Betrachtungsweise, der es an zusätzlichem kriminalistisch-kriminologischem Hintergrundwissen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität fehlt. Manch vermeintlicher Neologismus offenbart so mehr über den Kenntnisstand des Diagnostikers als über die Diagnose des Patienten. Auch der erste selbsternannte „Reichskanzler" Wolfgang Ebel (Schumacher 2015) bekam 2004 die Diagnose Schizophrenie, weil es damals offensichtlich nicht für denkbar gehalten wurde, man könne ernsthaft für sich beanspruchen, im Auftrag der Alliierten ein weiterbestehendes Deutsches Reich zu regieren. Für Ebel zahlte sich die Diagnose indes aus, er konnte fortan unbehelligt den Holocaust leugnen, da er von Amtswegen polizeilich nicht mehr belangt werden durfte. Wie auch immer es gesundheitlich um den mittlerweile verstorbenen Ebel gestanden haben mag; seinem klinischen „Reichs"-Wahn unterliegen in der Bundesrepublik heute gut 15 Jahre später knapp 20.000 Personen.
Ist der Wahn kollektiv, mutiert er zur Verschwörungsideologie. Die Schwierigkeit der Diagnose liegt nun darin, den individuellen krankhaften Wahn von den Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Dabei springt dem klinischen Diagnostiker sofort ins Auge, dass sich viele gängige Ereignisverschwörungstheorien des „Reichsbürger"-Milieus wie „Chemtrails" und „5G" auf Strahlen- und Vergiftungsinhalte oder Außerirdische und Ufos beziehen. Also mithin genau die Wahnthemen, die bei paranoidem Wahn oder Vergiftungswahn häufig auftreten können. Ohne das konkret kriminalistische Vorwissen über die in der Szene gängigen Verschwörungsnarrative können Äußerungen von „Reichsbürgern" durch reine Kliniker schnell als wahnhaft fehldiagnostiziert werden. Wer um die Verschwörungshinhalte der „Reptiloid-Verschwörung" in Bezug auf von Echsen fremdgesteuerte Doppelgängermenschen nicht weiß, landet vielleicht fälschlicherweise beim Capgras-Syndrom, um hier nur ein mögliches Beispiel zu nennen. Umgekehrt darf der Forensiker nicht außer Acht lassen, dass sich auch die echten wahnhaften Störungen in ihren Wahninhalten am gesellschaftlichen Diskurs orientieren und sich unter den Reichsbürgern auch wahnhaft Erkrankte befinden, die mit ihrem persönlichen Wahn auf verschwörungstheoretische Inhalte aufsatteln, wie es beispielsweise auch für Rathjen angenommen werden kann. Religiöser Wahn ist undenkbar, ohne Bezug zur Religion. Es sind Fälle bekannt, bei denen die unheilvolle Mischung aus politischer Verschwörungsideologie und psychotischer Störung tragischerweise im wahnhaft induzierten Suizid des „Reichsbürgers" endete oder eine Angststörung im Zusammenhang mit der Euro-Krise erst der Grund war, überhaupt auf die vermeintlichen Hilfsangebote der „Reichsbürger" im Internet hereinzufallen (Keil 2017, 2018). Bei der Differenzialdiagnose muss deshalb den subjektiven Qualitäten des Wahnerlebens und dem Eigenbezug ein besonderes Gewicht in der Exploration zukommen. Es ist nicht vom Zufall bestimmt, welche Narrative und Vorbilder sich ein Täter aussucht, um der Tat die nötige Aufwertung und Aufmerksamkeit zu verleihen. Eine Tat, die rassistische Narrative spiegelt, entsendet ihre giftige Botschaft selbst dann in die Gesellschaft, wenn der Täter dies nicht bewusst intendiert. Am Ende kann somit auch im Falle erwiesener Schuldunfähigkeit die politische Bedeutung einer Tat bestehen bleiben. Solche Taten undifferenziert zu betrachten, hilft Rechtspopulisten, ihre Theorie vom „geisteskranken Einzeltäter" aufrechtzuerhalten, und lenkt von der eigenen geistigen Brandstiftung in diesen Fällen ganz bewusst ab.
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