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Zur Rolle der Querulanz

Querulanten sind besondere Problemkinder der Psychiatrie. So steht die Diagnose des Querulantenwahns26 und der querulatorischen Persönlichkeitsstörung27 nicht ganz zu Unrecht unter dem Verdacht, dass sich die Psychiatrie, historisch gesehen, zur Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft gemacht hat, indem sie half, jene Fälle als pathologisch einzustufen, mit denen die Juristen nicht fertigwurden (Mählmann und Borck 2016). Die Schwierigkeit der Diagnose liegt regelmäßig darin, den Wahnsinn im Normalen bzw. das Krankhafte in der Übersteigerung einer Tugend begründen zu müssen. Denn der klassische Querulant28 zieht vorzugsweise aus einem verletzten Gerechtigkeitsempfinden, also per se prosozialem Verhalten, vor Gericht und zeigt dabei auf der formalen Ebene meist keine Denkstörungen. Peters (1990) definiert den „Querulantenwahn" ausdrücklich nicht als eine Psychose, sondern als eine paranoide Charakterentwicklung hin zum „Kampfparanoiker", was die Abgrenzung des Wahns zur querulatorischen Persönlichkeitsstörung wiederum erschwert. Auslöser für das gezeigte Verhalten ist zumeist eine tatsächliche oder auch vermeintliche als Unrecht subjektiv empfundene Behandlung durch eine Obrigkeit, die in einen Teufelskreis aus querulatorischem Verhalten einerseits und zunehmend schrofferer Zurückweisung durch die Gegenseite andererseits mündet (Tölle 1989). Der eigentliche Vorfall rückt dabei vollends in den Hintergrund; die Klage mutiert zum Selbstzweck. Dietrich und Claassen (2010) konstatieren für die letzten 40 Jahre ein deutlich nachlassendes Forschungsinteresse am Querulantenwahn und erkennen aufgrund der vorgenannten diagnostischen Probleme die Tendenz, Querulanz zunehmend als Verhaltenssyndrom anstelle einer Diagnose zu begreifen. Die Grenzen zwischen querulatorischer Persönlichkeitsstörung und Querulantenwahn sind dabei genauso schwer zu ziehen wie die Übergänge von gesundem Verhalten, über die überwertige Idee bis zu einem krankhaften Wahn. Sie bedürfen über die Betrachtung des querulatorischen Verhaltens hinaus weiterer Symptome und einer Einordnung der Gesamtpersönlichkeit in ihren sozialen Kontext (Dietrich und Claassen 2010; Tölle 1989).

Die wenigen empirischen Untersuchungen und Erfahrungsberichte zeigen bezüglich der Phänomenologie der Querulanz ein recht eindeutiges Bild. Querulanten sind überwiegend männlich und mittleren bis fortgeschrittenen Lebensalters, oft alleinstehend; sie betätigen sich als Vielschreiber und Dauerkläger, sind aber in der Regel nicht gefährlich oder gewalttätig (Dietrich und Claassen 2010; Streich 2019; Tölle 1989). In einer empirischen Vergleichsstudie (Lester et al. 2004) mit einer Kontrollgruppe gewöhnlicher Beschwerdeführer zeigte sich, dass Querulanten deutlich mehr und vor allem längere Schreiben verfassten. Ein Viertel der Schriftstücke überstieg 100 Seiten; sie verwendeten zu dem signifikant mehr Großbuchstaben, Unterstreichungen, Anführungszeichen und verschiedenfarbige Textmarker. Den Briefen waren oft viele Kopien anderer vermeintlich wichtiger Dokumente hinzugefügt. Zusätzliche kamen Telefonate häufiger vor, und diese dauerten in über der Hälfte der Fälle länger als eine Stunde. Verständlicherweise stellen Querulanten mit diesem expansiven Beschwerdeverhalten ein Problem für den öffentlichen Dienst dar, da sie viele Ressourcen binden und die Mitarbeiter von der Arbeit abhalten.

Auf Einzelfallebene lassen sich einige „Reichsbürger"-Karrieren ausmachen, bei denen das querulatorische Verhalten besonders stark imponiert. Zu nennen wäre hier der Fall des Mustafa Selim Sürmeli (59 Jahre) aus Stade (Schumacher 2015). Sürmeli hatte 2006 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wegen der überlangen Dauer eines ihn betreffenden Verfahrens um Schmerzensgeld einmalig Recht bekommen und 10.000 € von der Bundesrepublik erhalten. Bis dahin hatte er bereits 24 Jahre wegen eines erlittenen Verkehrsunfalls im Jahr 1982 auf Schadenersatz geklagt. Bestärkt durch dieses einmalige Erfolgserlebnis hat sich Sürmeli zum Milieumanager und Berufsquerulanten weiterentwickelt. Er nennt sich „Europäischer Hochkommissar für Menschenrechte", gründete selbst unter anderem einen „Gerichtshof der Menschenrechte" und traktiert gemeinsam mit seinen wechselnden Anhängern durch verbal äußerst aggressive Anrufe, Besuche und Schreiben die öffentlichen Behörden und Ämter. Seine Querulanz ist ihm zu einer Lebensaufgabe geworden. Das OLG Celle29 attestierte Sürmli in einem abschließenden Urteil nach einem Gutachterstreit30 eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung, die bereits vor dem Kränkungsereignis des Unfalls in seiner Persönlichkeitsstruktur angelegt gewesen sei.

Was Querulanten und „Reichsbürger" eint, ist das gemeinsame Feindbild der Behörde, der Modus Operandi der Vielschreiberei und das fortgeschrittene Lebensalter. Beide Personengruppen fallen auf der Ebene der Persönlichkeit durch ihre rechthaberische, narzisstische, rigide, teilweise zwanghafte und humorlose sowie für Therapie- und Hilfsangebote nicht einsichtige Charakterstruktur auf. Die Unterschiede sind im Grad der Ideologisierung, im auslösenden Ereignis, in der Identitätskonstruktion, der sozialen Situation und in der Verhaltensintention der Querulanz zu sehen. Während der Querulant ein echtes oder vermeintliches Unrecht erfährt, welches er nicht in seine Biografie integrieren kann und deshalb aus verletztem Gerechtigkeitsempfinden vor Gericht zieht, um dort Wiedergutmachung zu erfahren, ist der Reichsbürger meistens in eine finanzielle Schieflage geraten und versucht, sich mit juristischen Tricks den Gerichtsvollzieher vom Hals zu halten. Der Querulant strebt zwanghaft nach Anerkennung durch den Staat und gibt seinen endlosen Kampf vor Gericht erst auf, wenn seine finanziellen Mittel erschöpft sind (Streich 2019). Ganz anders verhält es sich beim „Reichsbürger"/Selbstverwalter, der sich dem Staat komplett entziehen möchte und diesen als unrechtmäßig negiert. Der eine opponiert gegen die Rechtsprechung, der andere gegen den Rechtsprechenden. Während der Reichsbürger bereits am Anfang des Querulierens bankrott ist, gilt das für den Querulanten in der Regel am Ende. Überschneidungen sind aber möglich. Da einem Querulanten vor Gericht alle Argumentationswerkzeuge für die eigene Sache recht sind, wird er sich auch aus dem großen Fundus der pseudojuristischen Konstruktionen der „Reichsbürger" bedienen. Umgekehrt nutzen „Reichsbürger" im Anklagefall auch dankbar die Möglichkeiten der Prozessbühne, um ihren dramatisch-histrionischen Bedürfnissen nach Selbstdarstellung in der „Reichsbürger"-Rolle vor Gericht nachzukommen, so geschehen bei den Prozessen gegen Adrian Ursache und dem selbsternannten „König von NeuDeutschland" Peter Fitzek. Trotz der partiellen Überschneidung der Phänomenbereiche besteht der wesentliche Unterschied der Identitätskonstruktion darin, ob das Querulieren selbst oder die „Reichsbürger"-Ideologie als Kompensat der Identität fungieren (Tab. 3).

  Querulanten „Reichsbürger"/Selbstverwalter
Auslösendes Ereignis Kränkungserfahrung, verletztes Gerechtigkeitsempfinden Materielle Not (Schulden) und Konfrontation mit dem Gesetz, (Kränkungserfahrung)
Grad der Ideologisierung Ideologischer Überbau nicht zwingend nötig, diffuser Kampf gegen Obrigkeiten, zum Schluss ein verzweifelter Kampf „einer gegen alle" Flucht in einen größeren übergeordneten ideologischen Zusammenhang, Konstrukt der Außer- oder Eigenstaatlichkeit
Identitätskonstruktion Aufgehen in der Querulanz als Lebensaufgabe, Ringen um offizielle Anerkennung des Selbst Konstrukt der Eigenstaatlichkeit und Selbstermächtigung, Aufwertungserfahrung in der neuen Rolle als „Reichsbürger"
Soziale Situation „David gegen Goliath", Rebellion von unten, erkennt Gerichte/Staat grundsätzlich an Sieht sich außerhalb der sozialen Situation, lehnt Gerichte/Staat ab, Selbstüberhöhung, schaut von oben herab
Intention/Ziel der Querulanz „Recht bekommen", Gericht aufsuchen, finanzielles Verausgaben im juristischen Streit „Recht haben", Flucht vor Behörden, Zahlungsverweigerung