„Reichsbürger“-Ideologie – ein Sammelsurium
Die Länge der vorstehenden Definition verweist schon auf ein grundlegendes Problem mit dem Milieu der „Reichsbürger". Die Szene setzt sich sehr heterogen zusammen. Obschon man somit nicht von dem „Reichsbürger" als solchem sprechen kann, findet man doch eine immer wiederkehrende „dünne Ideologie" (Hüllen und Homburg 2017) der stets gleichen fragmentarischen Narrative:
- das Deutsche Reich bestehe fort, zumeist in den Grenzen von 1937, woraus sich ein Gebietsrevisionismus ergibt;
- die BRD sei 1949 nicht wirksam entstanden, weshalb man sich an die Gesetze nicht zu halten und natürlich auch keine Steuern zu zahlen brauche; wahlweise ist die BRD auch 1990 untergegangen und seitdem nicht mehr existent oder die neuen Bundesländer sind nicht wirksam entstanden;
- das Grundgesetz habe keinen Verfassungsrang, sei nicht legitimiert oder habe mit der Wiedervereinigung seinen Geltungsbereich verloren und sei im Ergebnis in jedem Falle ungültig;
- Deutschland habe keinen Friedensvertrag, sei nicht souverän und nach wie vor von den Alliierten besetzt, und es gelte deswegen die Haager Landkriegsordnung;
- die BRD sei eine Firma und kein Staat;
- das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) und mehrere andere Gesetze seien aus Versehen außer Kraft gesetzt worden und müssten deswegen auch nicht mehr befolgt werden und
- andere geheime Mächte wie Reptiloide, außerirdische Aldebaraner, Illuminaten, Freimaurer, Hochfinanz, Eliten und Juden regieren dieses Land nach einem satanischen Plan.
Einige Autoren (Caspar und Neubauer 2017; Schumacher 2015) haben sich die Mühe gemacht, diese alternativhistorischen und pseudojuristischen Argumente auf der Inhaltsebene sachlich Schritt für Schritt zu widerlegen. Das Milieu selbst ist gegenüber derartigen Aufklärungsversuchen immun. Dort herrscht Einigkeit, ja Gewissheit, dass die Bundesrepublik als rechtmäßiger Staat nicht existiert. Dieses Machtvakuum führt zur Gründung eigener Ersatzregierungen, Monarchien, sektenartigen Zusammenschlüssen, ländlichen Siedlungsprojekten wie z. B. der Anastasia-Bewegung (Schenderlein 2020) oder dem Erklären der Eigenstaatlichkeit im Sinne eines Selbstverwalters.
Allen alternativen Regierungsformen ist praktischerweise gemein, dass sie über eigene Gesetze verfügen können, in jedem Falle aber die Gesetze der Bundesrepublik ihre Gültigkeit und Wirkmächtigkeit verloren haben. Der Staat an sich wird zum Feindbild. Deswegen handelt es sich beim „Reichsbürgertum" polizeilich um ein Staatsschutzdelikt sui generis, noch bevor man versucht, es einer politischen Ideologie zuzuordnen. Die Doppelbegrifflichkeit „Reichsbürger"/Selbstverwalter deutet bereits auf den Hybridcharakter innerhalb des Milieus hin. Seit Bekanntwerden der vorgenannten Gewalteskalationen und mit steigendem Verfolgungsdruck durch Behörden bekennt sich nur noch ein Teil des Milieus als „Reichsbürger". Aufgrund des negativen Labelings wären die in Österreich verwendete Begriffe „Staatsleugner" bzw. „Staatsverweigerer" aus phänomenologischer Sicht eigentlich wertneutraler und problembeschreibender. Die Verwendung von „Reichsbürger"/Selbstverwalter hat sich in Deutschland jedoch durchgesetzt.
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