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„Reichsbürger“ aus konflikttheoretischer Perspektive

Eckert (2020) legt einen konflikttheoretischen Ansatz der Radikalisierung vor, bei dem die politische Radikalisierung als Ergebnis gescheiterter friedlicher Konfliktregelungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gesehen werden kann. Radikalisierung ergibt sich somit aus einer Mischung des Vertrauensverlustes in staatliche Institutionen und der gescheiterten Konstruktion positiver sozialer Identitäten für einen Selbst. Sozialisation und Individuation als zu lösende Entwicklungsaufgaben für das Individuum in der Gesellschaft beschreiben dabei die beiden Hauptkonfliktlinien. Für das Phänomen der „Reichsbürger" bietet sich ein konflikttheoretischer Zugang aus Sicht der Identitätsbildung wegen ihres Hangs zum Rollenspiel ganz besonders an. Zwar wählt Raab (2019) einen anderen Weg, indem er das Phänomen aus bedürfnisorientierter Perspektive motivationspsychologisch ausdeutet. Letztlich mündet die Orientierung an den Bedürfnissen von Autonomie, Selbstbestimmung, eigenem Kompetenzerleben, Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Streben nach Sicherheit aber auch wieder in den Prozess einer gelungenen positiven Identitätskonstruktion. Und diese lässt sich wiederum als gelungene Konfliktbewältigung beschreiben. Das Konfliktmodell zieht seinen Reiz gegenüber dem allgemeineren Motivationsmodell vor allem daraus, dass für viele Vertreter des Milieus die Urszene ihrer Sozialisation zum „Reichsbürger" tatsächlich in einer konflikthaften Konfrontation mit dem Gerichtsvollzieher am Gartenzaun besteht. Diese Menschen lebten die erste Hälfte ihres Lebens mehr oder weniger unbehelligt vom Staat und hatten keinerlei Probleme im Sinne einer positiven Bedürfnismotivation. Erst in der Krise mit der Zuspitzung des Konflikts offenbart sich eine Situation, die neue Antworten auf die Frage „Wer bin ich?" verlangt. Zu Anfang dominieren Fragen um offene Zahlungen, Steuern und Abgaben, zu denen der Betreffende nicht in der Lage ist. Dieser ungelöste finanzielle Konflikt treibt den „Reichsbürger" dann zur Suche nach Lösungen und Schuldigen im Internet an. Der ursprünglich rein materielle Konflikt weitet sich zu einem sozialen und ideellen Konflikt aus. Der Schuldner zweifelt an sich und an einer gerechten Welt. Die durch die Algorithmen im Internet vorgeschlagenen Verschwörungstheorien offerieren nun Schuldige und Sündenböcke für seine missliche Lage. Von den Banken, über „Hochfinanz" und „Rothschild" googelt er sich letztendlich bis zur jüdischen Weltverschwörung. Das eigene Schicksal erscheint im Lichte eines großen Zusammenhangs, der die eigene Lage einerseits nachvollziehbar erklärt und zugleich sozial erträglicher macht. Durch den intensiven Medienkonsum von Verschwörungstheorien tauchen neue „Freunde" in der Krise auf, bisherige Freunde wenden sich dagegen ab. Milieumanager versprechen Hilfe und lehren34 angeblich effektive Vernebelungstechniken und -taktiken zur Gewährung von Zahlungsaufschub. Auf der Ebene des kommunikativen Konflikts mit der Verwaltung nimmt sich der „Reichsbürger" mittels dieser rhetorischen Werkzeuge erstmals wieder als ebenbürtig wahr. Es kommt zu einer Autoritätsumkehr und Imitation von Behördensprache. Das neue eigene Kompetenzerleben wird zu Beginn durch kleine Pyrrhussiege unterfüttert, weil die Verwaltung durch den Papierkrieg tatsächlich kurzeitig und vorübergehend „in die Knie" gezwungen wird. Diese Anfangserfolge verstärken somit den Verhaltensaufbau, und die „Reichsbürger"-Karriere bietet scheinbar die mögliche „Exitstrategie" für den Ausstieg aus allem Unheil. Vorgegaukelt wird stattdessen der Einstieg in ein neues unbeschwertes Leben in vollkommener Autarkie. Auf der Ebene des personalen Identitätskonfliktes hält das Milieu Rollenbilder als Kanzler, König oder zumindest hoher Regierungsbeamter bereit, die auf der Gefühlsebene zur Selbstaufwertung beitragen und auf der Handlungsebenen zur Herleitung der Selbstermächtigung dienen.

Neben materiellen Konflikten finden sich in den Biografien immer wieder persönliche Kränkungserfahrungen durch einerseits berufliche Zurücksetzungen oder gesellschaftlichen Ansehensverlust und andererseits durch körperliche oder seelische Erkrankungen, die ebenfalls als Angriff auf das Selbst empfunden werden. Auch für diese biografischen Krisen finden sich im „Reichsbürger"-Milieu Anleitungen, das eigene Leben umzuschreiben. Die Übernahme einer „Reichsbürger"-Identität stellt somit einen dysfunktionalen35 Coping-Versuch für eine sehr persönlich-motivierte Konfliktlage dar. Soziale und übergeordnete politische Motive folgen erst in zweiter Linie, wenn überhaupt. Das gesamte Milieu reicht dabei vom unpolitischen Trittbrettfahrer und Rollenspieler über den politisch überzeugten Agitator bis hin zum psychisch wahnhaften Kranken. Die zugrunde liegende „Reichsbürger"-Ideologie als solche ist keinesfalls neu, man darf sie jedoch nicht ignorieren oder verharmlosen. Für die öffentliche Verwaltung stellen „Reichsbürger" ein ernst zu nehmendes Problem dar. Ihre Diskurse befeuern die allgemeine Demokratieverachtung und untergraben schrittweise das Vertrauen in staatliche Behörden und Mandatsträger. Umgekehrt sind „Reichsbürger" aber auch nicht als militante Terroristen zu verteufeln, denn das sind sie in der Regel nicht. Sie sind mehr Epiphänomen als Phänomen und schwimmen nur mit im breiten Strom des rechtspopulistischen, verschwörungstheoretischen und antifaktischen Zeitgeistes. Ihrer Skurrilität und Obskurität wegen werden sie aber von den Medien gerne herausgestellt. Das Radikalitätsprädikat, dass man heutzutage beispielsweise einer Demonstration mit der Erwähnung der Teilnahme von Reichsbürgern verleiht, entwirft ein Zerrbild einer Realität, die mehrheitlich aus älteren, männlichen Vielschreibern besteht, die ihren Kampf für gewöhnlich mehr mit der Schreibmaschine als auf der Straße führen (Tab. 5).

Konfliktlinien „Reichsbürger"-Motiv
Materieller Konflikt Steuern sparen, Zahlungsaufschub erreichen, Pfändungen vermeiden
Sozialer Konflikt Arbeitslosigkeit, Frühverrentung, Einsamkeit, Streben nach Autarkie, „my home is my castle", Wagenburgmentalität, Probleme mit der Familie, Probleme mit Obrigkeiten
Innerer Konflikt Narzisstische Krise, Kränkungserfahrungen, Wunsch nach Selbstermächtigung, Selbstaufwertung, Selbstdarstellung, Einzigartigkeit, Größenfantasien
Ideeller Konflikt Esoterik, Sinnsuche, Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus, Geschichtsrevisionismus
Kognitiver Konflikt Wunsch nach Welterklärung, Abwehr von Ambiguität, dualistisches egozentrisches Weltbild
Gesundheitlicher Konflikt Körperliche Erkrankungen, psychische Erkrankungen, paranoide Gedanken, Zwanghaftigkeit, Depressivität, Wahnhaftigkeit
Kommunikativer Konflikt Papierkrieg mit den Behörden, Vielschreiberei, Querulanz, Kampfrhetorik gegenüber Behördenmitarbeitern, Kompetenzerleben und Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Besuch von „Reichsbürger"-Schulungen