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„Reichsbürger“ sind alt – atypischer Extremismus der zweiten Lebenshälfte

Sowohl aus den Daten des Brandenburger Verfassungsschutzes (n = 440; Hüllen und Homburg 2017), des Landeskriminalamtes Brandenburg (n = 224; Keil 2017; n = 580; Keil 2018), des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen (n = 718; Haase 2018) als auch weiterer Studien durch Presseartikelauswertungen (n = 487; Fiebig und Köhler 2019) lässt sich einheitlich ableiten, dass im Mittel jeder zweite „Reichsbürger" über 50 Jahre (Md = 50) alt ist, die Standardabweichung um die 13 Jahre liegt und der Frauenanteil zwischen 13 % und 29 % beträgt. Dieser für kriminogene Phänomene relativ hohe Frauenanteil erklärt sich durch das typische „Reichsbürger"-Verhalten, welches durch mindere Formen der Gewaltanwendung, dafür aber starke verbale Aggressivität und Vielschreiberei gekennzeichnet ist. Obwohl einige Frauen durchaus auch als Milieumanagerinnen in Erscheinung treten, sind die Rollenbilder in der Szene mehrheitlich klassisch patriarchalisch geprägt (Bischof 2017). Vergleicht man die Lebensläufe polizeibekannter9 „Reichsbürger" mit den Biografien von Terroristen aus dem rechtsextremistischen, linksextremistischen oder islamistischen Milieu, deren Radikalisierung meist in der Spätadoleszenz liegt (Keil 2018), kann man bei „Reichsbürgern" von einem atypischen Extremismus der zweiten Lebenshälfte sprechen.

Bis dahin hatten diese mehrheitlich durchaus bürgerliche Normalbiografien vorzuweisen. So sind 70 % aller polizeibekannten „Reichsbürger" in Brandenburg zuvor noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten (Keil 2017). Der späte Einstieg korrespondiert bei der Betrachtung der Verläufe mit einer erheblichen Persistenz der neuen Wahlbiografie als „Reichsbürger". Bei zunehmender sozialer Isolation und Zuspitzung der materiellen Konfliktlagen durch anhaltende Zahlungsverweigerung muss man – konträr zum jugendlichen Extremismus – leider von einer schlechten Sozialprognose ausgehen. Viele „Reichsbürger"-Karrieren beschäftigen die Behörden über etliche Jahre, und nur in sehr seltenen Fällen kommt es zu einer aktiven Abwendung vom Milieu. Fiebig (2018) weist richtigerweise darauf hin, dass mögliche Aussteigerprogramme, wenn sie überhaupt Aussicht auf Erfolg haben sollen, aufgrund der generellen Ablehnung aller staatlicher Institutionen durch „Reichsbürger" von zivilen Trägern getragen sein sollten und dabei die persönliche Problemlage der Alltagsnöte und finanziellen Sorgen stärker im Fokus stehen muss als die konfrontative Arbeit in Bezug auf die politische Ideologie und Haltung.