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3. Zur Ubiquität irrationaler Überzeugungsbildung

In allen politisch-sozialen Systemen lassen sich Menschen kritiklos mitreißen; in
den verschiedensten Situationen fi nden Führer eine gedankenlose Gefolg schaft;
unter beliebigen politischen Umständen werden fragwürdige Ideen ohne Prüfung
verinnerlicht. Vermutlich wäre es sogar falsch anzunehmen, die Zustimmung zur
Demokratie käme mehrheitlich auf der Grundlage demokratietheoretisch akzeptabler Überlegungen zustande.
Ebenso wenig sind Indoktrination und bewusste Indoktrinierungsversuche
Vorgänge, die ausschließlich in Weltanschauungsdiktaturen anzutreffen wären.
Auch in demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaften sind politische
Propaganda und geistige Manipulation an der Tagesordnung. Gerade hier stößt
man auf nicht wenige Indoktrinierte und Fanatiker unterschiedlichster Couleur.
Der Unterschied zwischen einer ideologiegeleiteten Diktatur und einer liberalen Demokratie kann also nicht im Bestehen oder Nicht-Bestehen von irrationaler Überzeugungsbildung und Indoktrination gesucht werden. Entscheidend ist vielmehr: Während der Einzelne in der pluralistischen Gesellschaft
mit einem freien Markt der Ideen, Meinungen und Glaubensüberzeugungen
konfrontiert ist, auf dem er sich letztlich eigenständig orientieren muss, sieht
er sich in der Weltanschauungsdiktatur einem Informations-, Propaganda- und
Erziehungsmonopol gegenüber. Sich dem dadurch erzeugten Indoktrinationsdruck zu entziehen ist nicht einfach, obwohl gerade die Massivität und Erkennbarkeit dieses Drucks auch als Alarmsignal wirkt und Gegenkräfte wachrufen
kann. Ent scheidend ist aber auch, dass in einer ideologiegeleiteten Diktatur
die Bedingungen bewusst und systematisch zerstört werden, die eine rationale Urteils- und Überzeugungsbildung erst ermöglichen: nämlich die Meinungs-
äußerungsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, das Recht und die praktische Möglichkeit, öffentlich zu kritisieren, sowie die persönliche Freiheit, sich geistigen
Beeinfl ussungen zu entziehen.
Martin Drath hat zu Recht die „Bildung des Staatswillens" auf einer „grundsätzlich staatsfreien individuellen Urteils- und Willensbildung" als „Grundzug
der freiheitlichen Demokratie" bezeichnet.7
Diese „Grundzugbestimmung" ist


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7 Martin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. In: Siegfried Jenkner/Bruno Seidel (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968, S. 310–358, hier 328.

allerdings normativ zu verstehen; sie ist nicht notwendigerweise eine zutreffende
Beschreibung sämtlicher politisch-sozialer Systeme, die die Freiheit auf ihre Fahne geschrieben haben.
Natürlich ist nicht jede Form der geistigen Beeinfl ussung eine Indoktrination.
Wenn in liberalen Verfassungsstaaten etwa Anstalten der politischen Bildung auf
eine system- beziehungsweise wertekonforme Bewusstseinsbildung ausgerichtet
sind, so sollten sie den Einzelnen jederzeit als ein autonomes, zum Selbstdenken fähiges Wesen respektieren und an einer rationalen Überzeugungsbildung
inte ressiert sein. Statt den einzelnen Bürger unter Ausschaltung seiner Vernunft
dazu zu bringen, staatlich gewünschte Überzeugungen auszubilden, werden sie
für die Übernahme bestimmter Überzeugungsinhalte Gründe, sachliche Gesichtspunkte, anführen, die der Handelnde auf der Basis eigener Überlegungen
bewerten kann. Gelangt er zu dem Ergebnis, dass es sich um gute Gründe handelt, hat er einen hinreichenden Grund, eine bestimmte Auffassung zu übernehmen und auch öffentlich zu vertreten.