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2. Ideologiekonformes Überzeugtsein

Weltanschauungsdiktaturen sind, weil sie ein gesellschaftliches Projekt verfolgen, also auf grundlegende Umgestaltung abzielen, auf die uneigennützige Initiative und die Opferbereitschaft der Einzelnen angewiesen. Opportunisten und
politisch Indifferente leisten jedoch in der Regel – vielleicht abgesehen von Situationen der nationalen Verteidigung – weder das eine noch das andere in dem
erforderlichen Maße. Dies schmälert die Erfolgsaussichten von Weltanschauungsdiktaturen.
Deshalb ist die Herausbildung ideologiekonformer Überzeugungen eine Bedingung ihrer langfristigen Fortexistenz. Ideologiegeleitete Diktaturen können
nicht nur auf ein ideologiekonformes Verhalten bauen; sie sind auf Menschen
angewiesen, die die Systemideologie verinnerlicht haben, das heißt von ihrem
propositionalen Gehalt überzeugt sind. Ziel der Indoktrination ist es daher nie
nur, bestimmte Überzeugungsinhalte mitzuteilen beziehungsweise zu vermitteln,
sondern Überzeugungen auszubilden, also für ein Überzeugtsein, ein festes Fürwahr- oder Für-richtig-Halten, zu sorgen.
Zugleich aber wird es auch nicht nur um die geistige Verankerung bestimmter inhaltlicher Überzeugungen gehen. Weltanschauungsdiktaturen müssen auf
Menschen bauen, die unter historisch-konkreten Umständen und in spezifi schen
Situationen in der Lage sind, selbstständig ideologisch angemessene Überzeugungen zu fassen. Deshalb ist Indoktrination immer auch auf die Bildung von
kognitiven Mustern, von Wahrnehmungs- und Denkweisen gerichtet, die zur
Ausbildung der ideologisch gewünschten Art von Überzeugungen disponieren.
Indoktrination verfolgt das Ziel, Dispositionen zur Bildung von ideologiekonformen Überzeugungen zu generieren.12 Indoktrination könnte zum Beispiel
bewirken, dass man die Welt in vorbestimmter Weise kategorial strukturiert,
dass man ganz bestimmte Erklärungen favorisiert oder dass man nur bestimmte
Handlungsmöglichkeiten sieht. Im Ergebnis wird der geistig Manipulierte bestimmte Überzeugungen oder auch Wünsche ausbilden, die er ansonsten nicht
ausgebildet hätte, und er wird letztlich auch in einer Weise handeln, in der er
sonst nicht hätte handeln wollen. Allgemein gilt: Ein ideologiekonform Überzeugter hat die Fähigkeit, ideologiekonforme Überzeugungen zu bilden.

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12 Vgl. Lothar Fritze, Indoktrination und irrationale Überzeugungsbildung. Über eine
Herrschaftstechnologie der Weltanschauungsdiktatur. In: Totalitarismus und Demokratie, 10 (2013) 1, S. 135–163, hier 143.

Je erfolgreicher eine ideologiegeleitete Diktatur in ihrem Bemühen ist, durch
Indoktrination ideologiekonforme Überzeugungen sowie Dispositionen zur Bildung von ideologiekonformen Überzeugung auszubilden, desto mehr beruht
sie auf konditionierter Macht. Die „Milderung der Härte des Regimes in der
Zeit nach Stalin", so konnte Alexander Sinowjew feststellen, „war zum Teil auch
deshalb möglich geworden, weil der ideologische Mechanismus der Gesellschaft
einen bedeutenden Teil der Arbeit, die früher die Unterdrückungsorgane ausübten, übernommen" hatte.13 In gewisser Weise war damit doch wahr geworden,
was Lenin von Anfang an vorgeschwebt hatte – nämlich, dass die Bevölkerung
der Sowjetherrschaft zustimmt. Nur hatte er nicht an eine Zustimmung gedacht,
die auf dem Wege ideologischer Manipulation bewirkt wird, sondern sich im Ergebnis einer beispielhaften Entwicklung des Sozialismus als eine natürliche und
vernünftige Reaktion einstellt.
Allgemein kann man festhalten: Weltanschauungsdiktaturen versuchen, Überzeugungs- und Konsensgemeinschaften zu etablieren. In dem Maße, in dem sowohl von den Führern als auch der Bevölkerung dieselben Auffassungen und
Wertvorstellungen geteilt werden, können sich diese Herrschaftssysteme in ihrer
Binnenperspektive tatsächlich als wirkliche Volksherrschaften, oder als „wahre
Demokratien",14 begreifen.
Umgekehrt gilt allerdings auch, dass eine Rückkehr zu repressiven Formen
der Machtausübung – und zwar innerhalb des politisch-sozialen Systems einer
Weltanschauungsdiktatur – ein fortdauerndes Überzeugtsein von der Legitimität
und Sinnhaftigkeit des Gesellschaftsprojekts aufseiten der Führer voraussetzt.15
Der europäische Kommunismus ist zusammengebrochen, als die Zustimmung
und freiwillige Gefolgschaft schwand, als immer weniger Menschen bereit waren, diese Systeme wenigstens ohne Widerspruch zu dulden, und selbst die Führer von der Bedeutung und der Realisierbarkeit ihrer Ideen nicht mehr hinreichend überzeugt waren. Die Macht in Gestalt der technischen Möglichkeiten,
die Bevölkerung zu zwingen, war immer noch vorhanden, aber nicht mehr der
unbedingte Wille der Führer sowie deren Bereitschaft, im Falle eines Sieges der
„Konterrevolution" auch persönlich für ihr Handeln einzustehen. Macht im Sinne
einer Fähigkeit zur Repression ist nicht alles. Hinzutreten muss ein Überzeugtsein wenigstens der Führer. Nur die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen
aber kann eine Stabilität auf Dauer gewährleisten.

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13 Alexander Sinowjew, Die Macht des Unglaubens. Anmerkungen zur Sowjet-Ideologie,
München 1986, S. 163.
14 Vgl. Joseph Goebbels, Das eherne Herz. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1941/42,
München 1943, S. 281.
15 Dies schließt nicht aus, dass Weltanschauungsdiktaturen zu Despotien entarten können. Dies ist dann der Fall, wenn den Führern der Glaube an die Systemideologie abhandengekommen ist und sie ihre Herrschaft primär zur Sicherung ihrer Machtpositionen fortsetzen.