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2. Befähigung zur Autonomie als Moment der Realisierung der Systemziele

Weltanschauungsdiktaturen sind wesentlich, mitunter sogar primär, auf die Abwehr von Gefahren gerichtet.28 Neben dieser Gefahrenabwehrintention verfolgen sie jedoch immer auch eine Befreiungsmission oder erheben gar Er- lösungsansprüche. Ihrem Selbstverständnis nach dienen sie sowohl einer Ge- meinschaft, einer Klasse oder der gesamten Menschheit als auch gleichzeitig den menschlichen Individuen. Weltanschauungsdiktaturen unterstellen eine grund- sätzliche, wenn auch nicht in jeder Entwicklungsphase bereits zum allgemeinen Bewusstsein gekommene, Interessenidentität zwischen Führern und Geführten, zwischen Partei und Volk. Aus dieser Annahme entspringt die Zuversicht, dass jeder Einzelne – abgesehen von pathologischen Fällen und abgesehen von Gesell- schaftsmitgliedern mit nicht aufhebbaren sozialen oder biologischen Erkenntnis-

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27 Hans Frank, Technik des Staates, Berlin 1942, S. 15 f. Vgl. auch Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 1936, S. 4. 28 Vgl. dazu Lothar Fritze, Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und natio- nalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012, S. 82 ff.

schranken – prinzipiell in der Lage ist, die Wahrheit und Richtigkeit der System- ideologie und des sich daran orientierenden politischen Handelns der Führer zu erkennen. Die Befreiung des Einzelnen, ja seine wahre Menschwerdung, zeigt sich wesentlich in diesem Bewusstwerdungsprozess. Auch deshalb dürften Welt- anschauungsdiktaturen ihre Befreiungs- und Erlösungsmissionen stets mit dem Anspruch verknüpfen, den Einzelnen zu befähigen, auf der Basis und im Sinne der Systemideologie selbstständig denken, urteilen und entscheiden zu können.
Ideologiegeleitete Diktaturen sind insofern auf mitdenkende und selbststän- dig handelnde Gemeinschaftsmitglieder nicht nur angewiesen; solche Menschen hervorzubringen ist ein Moment der Realisierung ihrer Systemziele. Aus der Perspektive eines Beobachters, der zentrale Bestandteile der jeweiligen System- ideologie für falsch oder unrealisierbar hält, erscheint der Anspruch, selbststän- dig urteilende und entscheidende Gemeinschaftsmitglieder hervorbringen zu wollen, freilich selbstwidersprüchlich – nicht so jedoch aus der Innenperspektive eines von der Wahrheit und Realisierbarkeit der Systemideologie Überzeugten.
Es würde somit den Sinn der Indoktrinierungsbemühungen nicht treffen, wenn man pauschal urteilte, die totalitären Herrscher zielten darauf ab, dem Menschen das selbstständige Denken abzutrainieren. Der Einzelne sollte sehr wohl selbstständig denken – allerdings im Sinne und innerhalb der feststehenden und nicht hinterfragbaren Grenzen der Systemideologie. Wenn wir sagten, Welt- anschauungsdiktaturen seien an borniert überzeugten Parteigängern interes- siert, so gilt dies mit der nunmehr deutlich gewordenen Einschränkung: Denken fi ndet grundsätzlich statt innerhalb eines Rahmens aktuell nicht hinterfragter Gewissheiten. Die Indoktrination zielt darauf ab, diesen Rahmen entsprechend des unrevidierbaren Kernbestandes der Systemideologie neu zu konfi gurieren – neue Grenzen des Nicht-Denkbaren zu fi xieren. Weltanschauungsdiktaturen sind im Interesse eines effektiven Funktionierens sogar darauf angewiesen, dass der Einzelne innerhalb dieses Rahmens schöpferisch mitdenkt. Sie müssen da- rauf bauen, dass Gemeinschaftsmitglieder in einem förderlichen Maße mit Eigen- initiative im Rahmen der Systemideologie handeln.