1. Autonomie trotz ideologiekonformen Überzeugtseins
Wer die Inhalte der Systemideologie aufgrund eigenen Nachdenkens oder eigener geistes- oder sozialwissenschaftlicher Forschung für plausibel hält und
deshalb in seinen Überzeugungsbestand aufnimmt, ist immer noch geistig unabhängig. Weil er aber trotz seines ideologiekonformen Überzeugtseins autonom
ist, kann er jederzeit aufgrund neuen Nachdenkens und neuer Forschungen Irrtümer erkennen und seine Auffassungen korrigieren. Wer seine Auffassungen
eigenständig bildet, kann jederzeit zu einem Abtrünnigen werden.
Die Erfahrungen, die beide paradigmatischen Weltanschauungsdiktaturen des
20. Jahrhunderts, vor allem die bolschewistische, aber auch die nationalsozialistische Diktatur, mit einer nicht unerheblichen Menge von Renegaten zu machen
hatten, bestätigen dies. Der zwar ideologisch Überzeugte, aber eigenständig Denkende ist letztlich unkontrollierbar; er gilt zu Recht als unsicherer Kantonist. Der
in beiden, weltanschaulich so unterschiedlichen, Diktaturen virulente Vorbehalt
gegenüber Intellektuellen und allen selbstständig Denkenden ist daher nachvollziehbar. Der intellektuell Autonome gilt zu Recht als potenzielle Bedrohung.
Allerdings gilt nicht nur seine geistige Unabhängigkeit als Bedrohung. Die Führer von Weltanschauungsdiktaturen legen es nicht nur darauf an, Zustimmung
zu erlangen zu den Inhalten ihrer Ideologie; ihnen geht es zugleich um Zustimmung zu ihrer Herrschaft und damit immer auch ihrer Herrschaftsausübung. Es
ist jedoch für keinen rationalen Akteur vernünftig, der Ingeltungsetzung einer
Norm zuzustimmen, die politische Führer ermächtigt, Mittel der Indoktrination
– nämlich zum Zwecke einer irrationalen Überzeugungsbildung – einzusetzen
und damit auch ihn selbst geistig zu manipulieren. Damit aber wird ein intellektuell Autonomer eine entscheidende Herrschaftstechnologie ideologiegeleiteter
Diktaturen ablehnen und der Art und Weise der Herrschaftsausübung gerade
nicht zustimmen.
Mithin ist festzuhalten: Die Führer ideologiegeleiteter Diktaturen können
nicht schlechthin an Gemeinschaftsmitgliedern interessiert sein, die den Inhalten der Systemideologie zustimmen. Zur Realisierung ihrer Herrschaftsziele
sind sie auf eine Bevölkerung angewiesen, die zugleich auch ihre Herrschaft
und Herrschaftsausübung – man könnte auch sagen: die ihre Ideologie in einem größtmöglichen Umfang, also einschließlich der Art und Weise der Herrschaftsausübung – akzeptiert. Um derart Überzeugte zu generieren, sind diese
Diktaturen gezwungen, generell auf eine Ideologiekonformität zu setzen, die auf
Indoktrination beruht. Sie werden also versuchen – wenn auch nicht zwingend
intentional, so doch zumindest faktisch –, Zustimmung zu erlangen auf der Basis
einer irrationalen Überzeugungsbildung.
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