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3. Der idealtypisch indoktrinierte Mensch

Ideologiegeleitete Diktaturen sind an Menschen interessiert, die eine bestimmte
Einstellung ihren Überzeugungsinhalten gegenüber haben – und zwar sind sie
auf Menschen geradezu angewiesen die diese Inhalte, jedenfalls was die Kern
aussagen der Ideologie anlangt, für absolut gewiss, mithin weder für revisionsbe
dürftig noch für revisionsfähig, halten.
Indoktrination zielt deshalb auf ein vollständiges und unkritisches Überzeugt
sein. Der Indoktrinierte soll an den Überzeugungsinhalten, die er für wahr oder
richtig hält, nicht zweifeln. Zweck der Indoktrination ist die Schaffung des bor
niert
Überzeugten – eines Überzeugten, der die Gründe seines Überzeugtseins
nicht reflfl ektiert und dessen Überzeugungen sich durch keine denkbaren Argu
mente erschüttern lassen.
Auf einer Kulturkonferenz der Freien Deutschen Jugend im Oktober 1982
forderte Chefifi deo loge Kurt Hager, man solle weder an der Weltanschauung noch
der Politik der SED zweifeln, denn „wenn man zweifelt, kann man sie ja gar
nicht verwirklichen".16 Hager stand mit dieser Überlegung in der bolschewisti
schen Tradition. Für Grigori L. Pjatakow, selbst Bolschewik seit 1910, bestand
die „Prüfung für den wahren Bolschewiken" darin, „seine Persönlichkeit in der
Kollektivität, der ‚Partei', in einem solchen Ausmaß aufgehen zu lassen, dass er
die notwendige Anstrengung unternehmen kann, sich von seinen eigenen An
sichten und Überzeugungen zu trennen und aufrichtig mit der Partei übereinzu
stimmen".17 Hager hätte sich aber ebenso auf Joseph Goebbels berufen können,
der dazu aufgerufen hatte, „Wissen und Erkenntnis nicht zum Gegenbeweis des
Glaubens zu erniedrigen".18
Weltanschauungsdiktaturen benötigen Menschen, die sich ihrer Glaubens-
überzeugungen absolut sicher und damit lenkbar sind. Wer hingegen zweifelt,
gibt zu erkennen, dass er sich eines Besseren belehren lassen könnte. Er gilt als
jemand, auf den nicht bedingungslos Verlass ist, und man begegnet ihm mit Vor
behalt. Zweifel, erst recht öffentlich gemacht, untergraben die Bedingungen des
Indoktrinierungserfolgs.
Wer jedoch nicht mehr zweifelt, sucht auch nicht mehr nach der Wahrheit – je
denfalls nicht in der Hinsicht, in der er vermeint, bereits korrekturunbedürftige
Überzeugungen zu besitzen. Wer einen Irrtum für ausgeschlossen hält, hält den
Prozess der Wahrheitsfifi ndung für abgeschlossen. Der übergeordnete Zweck al
ler Indoktrinierungsbemühungen ist es, Menschen in diesen geistigen Zustand

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16 Zit. nach Jürgen Kuczynski, Ein Leben in der Wissenschaft der DDR, Münster 1994,
S. 14.
17 Zit. nach Robert Conquest, Am Anfang starb Genosse Kirow. Säuberungen unter Stalin, Düsseldorf 1970, S. 159.
18 Joseph Goebbels, Der geistige Arbeiter im Schicksalskampf des Reiches. Rede vor der
Heidelberger Universität am Freitag, dem 9. Juli 1943, München o. J., S. 8.

kognitiver Sicherheit zu versetzen. Auf diese Weise bedienen Weltanschauungsdiktaturen ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis. Zugleich kann gerade
auf der Basis des geistigen Zustands der kognitiven Sicherheit ideologiekonformes Verhalten erwachsen. Vor allem aber ist er ein Nährboden für Fanatismus,
und vor allem aus einem fanatischen Gestimmtsein entspringt die psychische
Stärke, für die Durchsetzung der als gut und richtig erkannten Ziele notfalls auch
„schlechte Mittel" einzusetzen.
Wer hingegen den Zweifel im Sinne eines methodischen Skeptizismus pfl egt
und sich in Toleranz gegenüber abweichenden Gedanken übt, befi ndet sich bereits in ideologischer Selbstaufl ösung. Jede innere Erosion der Glaubensgewissheit erschwert nicht nur die für die Systemstabilität so wichtige Feindbildproduktion; vor allem destruiert sie die Bereitschaft, sich im Kampf für die Systemziele
selbst aufzuopfern.
Deshalb war die kommunistische Erziehung und Propaganda darauf gerichtet, einen Menschen hervorzubringen, der, wie es Leo Trotzki für sich selbst in
Anspruch nahm, „im unerschütterlichen Glauben an die Zukunft des Kommunismus"19 lebt und stirbt. Und aus demselben Grund hielt es Hitler für unverzichtbar, einen politischen Glauben zu prägen, der, so wie im Falle religiöser
Überzeugungen, nicht mehr der „kritischen Prüfung" durch den Einzelnen und
damit einer „schwankenden Bejahung oder Verneinung" unterliegt, sondern die
Form eines „apodiktischen Glaubens annimmt".20
Da Gewissheit ein subjektiver Zustand ist, ist es nicht falsch zu sagen, ideologiegeleitete Diktaturen versuchten, das Innerste des Menschen zu beeinfl ussen.
Natürlich gilt dies für jeden absichtlichen Indoktrinationsversuch – ganz gleich,
ob er unter den Kommunikationsbedingungen einer freiheitlichen Demokratie
oder einer totalitären Diktatur unternommen wird. In Weltanschauungsdiktaturen aber werden solche Versuche staatlich organisiert und systematisch im Interesse der Etablierung einer mit Ausschließlichkeit vertretenen und jeder öffentlichen Kritik entzogenen Systemideologie durchgeführt.
Nur der idealtypisch indoktrinierte Mensch ist wirklich fähig, allen Anfechtungen seines Glaubens, welche die Realität bereithält, zu widerstehen. Ebendeshalb sind Weltanschauungsdiktaturen an borniert überzeugten Parteigängern
interessiert. Die Übereinstimmung mit der Systemideologie soll nicht nur bekannt, auch nicht nur im äußeren Verhalten dokumentiert, noch nicht einmal
nur schlechthin, sondern in Gestalt eines apodiktischen und unerschütterlichen
Glaubens geistig vollzogen werden.

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19 Leo Trotzki, Tagebuch im Exil, Köln 1958, S. 95 (Hervorhebung von L. F.).
20 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, S. 504–508. Aufl age München
1940, S. 417 f. (Hervorhebung von L. F.).