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3. Unvereinbarkeit von Zielen und Mitteln

Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass ein zwar im Rahmen der Systemideo- logie, aber innerhalb dieser Grenzen doch autonom denkender und handelnder Mensch Persönlichkeitsmerkmale aufweisen müsste, die nur bedingt mit denen eines borniert Überzeugten deckungsgleich sein können. Es mag unter den im Volksmund sogenannten 100-Prozentigen auch Ideologen gegeben haben, die das Anforderungsprofi l eines mitdenkenden und Eigeninitiative entwickelnden Überzeugten erfüllten. Trotzdem wird das Zusammenbestehen beider Eigen- schaften – borniertes Überzeugtsein hinsichtlich der unrevidierbaren Kernaus- sagen der Ideologie und geistige Selbstständigkeit bei ihrer Anwendung – stets fragil bleiben. Wer sich ein hinreichendes Maß an innerer Autonomie bewahrt,
wird sich immer wieder an den Vorgaben und Auslegungen der Führer und Ideo- logen reiben.
Dergestalt sind Weltanschauungsdiktaturen durch eine innere Widersprüch- lichkeit gekennzeichnet. Sie sind auf die Nutzung von Herrschaftstechnologien (Indoktrination) angewiesen, die sowohl ihrer bestmöglichen Selbstentfaltung entgegenstehen als auch ihren letzten Entwicklungszielen widerstreiten. Dies ist der Grundwiderspruch aller ideologiegeleiteten Herrschaftssysteme, die eine fundamentale Neugestaltung der politisch-sozialen Verhältnisse erstreben.
Aus diesem Widerstreit zwischen Zielen und Mitteln können Weltanschau- ungsdiktaturen nur allmählich herauswachsen. Dafür aber stehen ihnen nur zwei Möglichkeiten offen: Zum einen können sie in dem Maße herauswachsen, in dem es ihnen gelingt, die Gemeinschaftsmitglieder zu idealtypisch Überzeugten zu formen. Die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von gleichsam „ideologisch saturierten" Weltanschauungsdiktaturen ist jedoch unter den Bedingungen der Koexistenz von liberalen, pluralistischen Gesellschaften sowie der modernen Technik der Informationsübertragung eher gering zu veranschlagen. Zum ande- ren können sie eine solche ökonomische Basis, eine solche wirtschaftliche Leis- tungsfähigkeit entwickeln, die ein weitgehend zufriedenstellendes Niveau der Daseinsbewältigung, insbesondere der Befriedigung der materiell-gegenständli- chen Bedürfnisse, garantiert, sodass die Gemeinschaftsmitglieder der Herrschaft und Herrschaftsausübung tatsächlich freiwillig zustimmen. Da die wirtschaft liche Leistungsfähigkeit einer modernen Industriegesellschaft maßgeblich von ihrer In- novationskraft abhängt, diese aber möglichst in jeder Hinsicht freie und unabhän- gige Bürger erfordert, stehen auch die diesbezüglichen Aussichten eher schlecht.