3. Zugriff auf das Denken und Fühlen
Indem Weltanschauungsdiktaturen auch auf eine Formierung der persönlichen
Überzeugungen entsprechend ihrer Systemideologie angewiesen sind, wird in
ihnen eine Trennung aufgehoben, die bereits für den als absolutistisch geltenden
Staat Thomas Hobbes' konstitutiv war. Danach ist der Staat berechtigt, über das
Glaubensbekenntnis zu bestimmen, der Glaube selbst aber gilt als Privatsache.3
Hobbes hatte mit dieser Konzeption eine Unterscheidung zwischen einem
Subjekt-Inneren und Subjekt-Äußeren, zwischen privatem Glauben und
öffentlichem Bekenntnis eingeführt und damit den Keim für die Entstehung
der modernen Vorstellungen von Gedanken- und Gewissensfreiheit gelegt, die
ihrerseits die geistige Grundlage für den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat
und die ihn kennzeichnende Etablierung von individuellen Freiheitsrechten
bildeten.4
Allerdings dürfte Hobbes die innere Dynamik verkannt haben, die durch eine
Unterscheidung von privatem Glauben und öffentlichem Bekenntnis freigesetzt
wird. Denn mit den individuellen Freiheitsrechten war das Recht auf Meinungs-
äußerungsfreiheit anerkannt, und auch wenn die Freiheit des Denkens und der
Meinungsäußerung unter dem Vorbehalt der Wahrung des inneren Friedens und
der Unantastbarkeit der souveränen Gewalt des Staats stand, war doch mit der
Idee der Gedanken- und Glaubensfreiheit und dem Verzicht auf jede staatlich
gesteuerte gesellschaftliche Überzeugungsbildung der, wie Carl Schmitt formulierte, „Todeskeim" gelegt, der den absoluten Staat „von innen her zerstört" hat,
indem die damit gesetzte „Unterscheidung von innerem Glauben und äußerem
Bekenntnis" sich „unwiderstehlich" entfaltete und „zur alles beherrschenden
Überzeugung" wurde.5
Und in der Tat: Die Artikulation von abweichenden Auffassungen und Kritik
beschwört für den Hobbes'schen Staat die Gefahr herauf, dass er seine friedensfördernde Funktion nicht mehr angemessen wahrnehmen kann. Staatliche Souveränität fordert daher vom Einzelnen nicht nur Gesetzesgehorsam, sondern die
Akzeptanz, dass er kein Recht hat, auch nur auf Revisionsbedarf hinzuweisen
sowie auf Veränderungen in der Herrschaftsausübung zu drängen oder bei dieser gar mitzuwirken.
Man könnte meinen, dass die Führer der Weltanschauungsdiktaturen des
20. Jahrhunderts die herrschaftszersetzende Gefahr, die mit der Unterscheidung
von öffentlichem Bekenntnis und privatem Glauben verbunden sein kann, gera-
--
3 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg 1996, S. 396 f., 400, 574 f.
4 So Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Köln 1982, S. 85 f. Vgl. dazu auch Michael Groß-
heim, Religion und Politik. Die Teile III und IV des Leviathan. In: Wolfgang Kersting
(Hg.), Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und
bürgerlichen Staates, 2., bearbeitete Aufl age Berlin 2008, S. 233–259, hier 245, 252.
5 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 86, 91.
dezu instinktiv durchschaut hatten. Sie bestanden nicht nur auf Konformität im
äußeren Verhalten, sondern legten Wert darauf, dass ihre Ideologie gleichsam
das Innere des Menschen erfasst und sich auch sein Denken und Fühlen ideologiekonform gestaltet. Der Einzelne sollte sich zur Systemideologie nicht nur
öffentlich bekennen; er sollte diese verinnerlichen und entsprechend denken
und fühlen; er sollte eine der Systemideologie entsprechende Lebenshaltung
ausbilden, die an ihn gestellten Forderungen freudig bejahen und sich aus innerer Überzeugung aktiv am Aufbau und der Entfaltung der neuen Ordnung
beteiligen.
Deshalb gilt: Weltanschauungsdiktaturen sind nicht nur an ideologiekonform
Handelnden interessiert, sondern an Gemeinschaftsmitgliedern, die die Systemideologie internalisiert, das heißt in ihren Überzeugungsbestand aufgenommen,
haben. Daher stehen sie permanent vor der Aufgabe, ihre Systemideologie in die
Hirne und Herzen der Gemeinschaftsmitglieder zu pfl anzen.
Um die politisch und sozial relevanten Überzeugungen im Sinne der Systemideologie zu transformieren, werden Methoden der geistigen Manipulation
genutzt: Man versucht, den Herrschaftsunterworfenen durch ein staatliches
System der Erziehung, Ausbildung und Propaganda sowie durch Kontrolle der
gesellschaftlichen Informationsfl üsse ein bestimmtes Weltbild einzutrichtern, sie
durch ständige Wiederholung und Überredung zur Übernahme bestimmter politischer Meinungen zu bewegen, ihr Unterbewusstsein mittels Psychotechniken
zu formen, um gewünschte Assoziationen zu wecken und ideologiekonforme
Denkmuster zu erzeugen. Somit ist festzuhalten: Eine unverzichtbare Herrschaftstechnologie der Weltanschauungsdiktatur ist die Indoktrination.
No Comments