1. Autonomes Denken und Handeln im Rahmen der Systemideologie
Eine rationale Person wird jede irrationale Überzeugungsbildung zu vermeiden suchen und nur dann eine bestimmte Überzeugung in ihr Überzeugungssystem inkorporieren, wenn sie gute Gründe dafür hat. Wer hingegen Überzeugungen im Zuge eines Prozesses der Indoktrinierung bildet, macht gerade keinen Ge- brauch von seinem Vermögen der Selbstbestimmung. Er glaubt zwar, dass er sei- ne Überzeugungen selbstbestimmt bildet, ist aber nicht wirklich Herr dieses Pro- zesses. Er ist nicht autonom und hat daher keine Kontrolle darüber, ob seine so gebildeten Überzeugungen tatsächlich in bestmöglicher Weise der Realisierung seiner Ziele dienen. An einer solchen Überzeugungsbildung kann eine rationale Person nicht interessiert sein. Indoktrination zerstört menschliche Autonomie.
Gleichwohl wäre es ein Missverständnis zu meinen, Weltanschauungsdikta- turen legten es darauf an, die Autonomie der herrschaftsunterworfenen Men- schen möglichst komplett zu zerstören und jede Form der Selbstbestimmung zu unterbinden. Ein Herrschaftssystem, das sich so verhielte, führte wahrscheinlich binnen Kurzem seinen Untergang herbei; kein bekanntes Herrschafts system dürfte diesem Prinzip je gefolgt sein. Die Gründe dafür sind leicht nachvollzieh- bar und waren den Führern der Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhun- derts gegenwärtig.
Die Führer jedes Herrschaftssystems sind nämlich zur Durchsetzung ihrer Herrschaft und zur Realisierung ihrer Systemziele auf Gehilfen, auf aktive Un- terstützer angewiesen. Geltende Regeln müssen aber interpretiert und in konkre- ten Handlungssituationen angewendet werden. Hinzu kommt, dass die Zukunft stets nicht voraussehbare Probleme bereithält, die durch individuelles Handeln vor Ort gelöst werden müssen. Zudem stellt ein Beschreiten von gesellschaft- lichem Neuland, wie es gerade für Weltanschauungsdiktaturen typisch ist, be- sondere He rausforderungen. Dies alles sind Gründe, weshalb ideologiegeleitete Diktaturen nicht nur auf Menschen bauen können, die robotergleich oder wie „restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten"21 vorgegebene Regeln befol- gen, zumal kein Regelsystem auch nur denkbar ist, das in allen Situationen des praktischen Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung einschlägig und für sämtliche Fälle hinreichend präzise wäre. Alle Regel- und Normensysteme, Vor- schriften, Gesetzestexte enthalten allgemeine Formulierungen, Generalklauseln, die von den Handelnden sinngemäß ausgelegt und selbstständig auf die konkrete Situation bezogen werden müssen.
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21 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus – Imperia lismus – Totale Herrschaft, München 1991, S. 698.
Aus diesen Gründen sind in einem gewissen Maße immer auch persönliche Initiative und selbstständiges Handeln gefragt. Es ist daher unzutreffend, wenn Hannah Arendt meinte, dass totalitäre Regime darauf angelegt seien, dass „Men- schen, sofern sie mehr sind als reaktionsbegabte Erfüllungen von Funktionen", für solche Regime „schlechterdings überfl üssig" werden.22 Im Gegenteil: Totalitä- re Regime sind sehr wohl auf „Menschen" in einem – freilich begrenzten – empha- tischen Sinne, nämlich auf selbstständig denkende und handelnde, zugleich aber von der Systemideologie auf irrationale Weise überzeugte und sich daher aus- schließlich im Rahmen der ideologischen Grenzziehungen selbst bestimmende Menschen, angewiesen. Die Führer ideologiegeleiteter Diktaturen müssen im Interesse der Durchsetzung ihres Gesellschaftsprojekts an einer ideologisch li- mitierten Form von Selbstbestimmung wenigstens einer beträchtlichen Menge von Funktionären und Gesellschaftsmitgliedern interessiert sein. Und tatsäch- lich: Weltanschauungsdiktaturen können – wie etwa die breite und initiativreiche Mitwirkung von NS-Funktionären an der Judenvernichtung zeigt23 – beträchtliche Eigeninitiativen freisetzen.
Ob man in Bezug auf diese begrenzte Form von Selbstbestimmung, deren Grenzen durch die Systemideologie festgelegt und durch Indoktrination psy- chisch und geistig fi xiert werden, von „Autonomie" sprechen möchte, scheint – je- denfalls dann, wenn man „Autonomie" ohnehin als einen idealtypischen Zustand oder auch ein solches Potenzial betrachtet – weniger eine Frage zweckmäßiger Begriffl ichkeit denn der Wortwahl zu sein. Gerade weil aber ideologiegeleitete Diktaturen auch auf Menschen ideologisch limitierter Autonomie bauen müssen, ist eine Entfaltung totalitärer Regime in der von Arendt gedachten Form einer „totalen Beherrschung", einer Abrichtung der Menschen mit dem Ziel, sie gefü- gig zu machen und sie auf ein Niveau herabzudrücken, auf dem sie nur noch zu „rein tierischen Reaktionen" fähig sind, unmöglich.24 Die Realisierbarkeit einer totalen Herrschaft fi ndet im Hinblick auf das Angewiesensein auf hinreichend autonome Menschen ihre selbst gesetzte Grenze.
Ganz im Sinne einer ideologisch limitierten Form von Selbstbestimmung war es für Lenin einerseits klar, dass der Kommunismus studiert werden muss. An- dererseits hielt er es für ebenso offensichtlich, dass, wer nur kommunistisches Lehrbuchwissens erwirbt, „nicht so handeln können" wird, „wie es der Kommu- nismus wirklich verlangt".25 Der Kommunismus dürfe nicht etwas Angelerntes sein, sondern etwas, was man „selber durchdacht" habe, wobei man sich zu den Tatsachen „kritisch zu verhalten verpfl ichtet" sei.26 Lenin dachte über die Anfor- derungen nach, die an ein Gesellschaftsmitglied zu stellen sind, damit es sich auf
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22 Ebd. 23 Vgl. Michael Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 168–170. 24 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 698 f. 25 Wladimir I. Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände. In: Ders., Werke, Berlin 1959, Band 31, S. 272–290, hier 274. 26 Ebd., S. 277 f.
dem Boden und innerhalb der Grenzen des kommunistischen Klassenbewusst- seins sinnvoll am Aufbau des Kommunismus beteiligen kann.
Das Angewiesensein auf ein auf dem Boden und innerhalb der Grenzen der herrschenden Ideologie selbstständig urteilendes und aus Eigeninitiative han- delndes Gemeinschaftsmitglied hat ebenso Hans Frank, Reichsminister in der nationalsozialistischen Diktatur und Präsident der Akademie für Deutsches Recht, in der Formulierung seines „kategorischen Imperativs" auf eine treffende Weise zum Ausdruck gebracht. Dieser Imperativ: „Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde",27 bestätigt sowohl die Rolle Adolf Hitlers als die in jeder Hinsicht maßstabsetzen- de Persönlichkeit des Dritten Reichs als auch die ganz fraglose Bedeutung des selbstständig handelnden Gemeinschaftsmitglieds. Der Einzelne ist dergestalt aufgefordert, zur Lösung konkreter Lebensprobleme den mutmaßlichen Füh- rerwillen zu ermitteln und diesem entsprechend nach eigenem Entschluss zu handeln. Dies allerdings ist nur deshalb möglich, weil der Führer in seiner eige- nen Person nicht einer irrationalen Willkür folgt, sondern, wie Führer von Welt- anschauungsdiktaturen generell, im Dienste (vermeintlicher) gesellschaftlicher Erfordernisse agiert, die in der Ideologie des Systems im Grundsätzlichen ausfor- muliert sind. So wie der Führer seinen konkreten Willen an den konkreten gesell- schaftlichen Erfordernissen ausrichtet, ist es auch jedem Einzelnen zumindest im Prinzip möglich, sein Handeln unter Berücksichtigung des gesellschaftlich Er- forderlichen zu bestimmen und dabei mit dem Führerwillen übereinzustimmen.
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