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Kapitel 4 Die Polizei und das Recht auf Leben

I

nhalt​

  1. Einleitung 44​
  2. Artikel 2 EMRK: Schutzbereich 46​
  3. Rechtfertigung einer Entziehung des Rechts auf Leben 47​
  4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Notwendigkeit der Anwendung von Gewalt 49​
  5. EGMR, McCann et al./Vereinigtes Königreich, 27. Sept. 1995, Nr. 18984/91 50​
  6. EGMR, Andronicou und Constantinou/Zypern, 9. Okt. 1997, Nr. 25052/94 . . . . 50​
  7. EGMR (GK), Makaratzis/Griechenland, 20. Dez. 2004, Nr. 50385/99 51​
  8. EGMR, Wasilewska und Kalucka/Polen, 23.02. 2010, Nr. 28975/04​
und 33406/04 52​
  1. EGMR (GK), Giuliani und Gaggio/Italien, 24. März 2011, Nr. 23458/02 52​
  2. EGMR, Finogenov et al./Russland, 20. Dez. 2011, Nrn. 18299/03 und 27311/03 . . . 53​
  3. EGMR, Fanziyeva/Russland, 18. Juni 2015, Nr. 41675/80 54​
4.5 Einsatz von Elektroschockgeräten und Elektroentladungswaffen (Taser) 55
4.5.1 EGMR, Fox/Vereinigtes Königreich, 20. März 2012, Nr. 61319/09 56
4.5.2 EGMR, Anzhelo Georgiev et al./Bulgarien, 30. Sept. 2014, Nr. 51284/09 56
4.6 Schlussfolgerungen 58
Referenzen 59
Zusammenfassung Dieser Beitrag skizziert die Auswirkungen von Artikel 2 der EMRK (Recht auf Leben) auf polizeiliches Handeln und liefert eine eingehende Analyse der Rechtsprechung des EGMR zu diesem Thema. Dazu ist es notwendig, zunächst den Geltungsbereich des (europäischen) Menschenrechts auf Leben zu verstehen. Eine Tötung aufgrund von Maßnahmen der öffentlichen Gewalt kann unter außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt sein. Da die Rechtsprechung des EGMR die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betont und gemäß dem Wortlaut der EMRK die Anwendung von Gewalt nur dort zulässt, wo sie für bestimmte Zwecke unbedingt erforderlich ist, wird in diesem Beitrag ausführlich darauf eingegangen

Prof. Robert Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau. Seit 2010 leitet er das Research Center Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP).

R. Esser (*)

Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: Robert.Esser@uni-passau.de

© Springer International Publishing AG 2018 43 R. Alleweldt, G. Fickenscher (eds.), The Police and International Human Rights

Gesetz, https://doi.org/10.1007/978-3-319-71339-7_4

dieser Anforderung und analysiert mehrere Urteile, in denen der EGMR den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgelegt und präzisiert hat. Tatsächlich musste sich der EGMR mit einer Vielzahl von Fallkonstellationen auseinandersetzen, in denen das Recht auf Leben berührt wurde, wie zum Beispiel Rettungsaktionen, die Verhinderung von Terroranschlägen oder ganz allgemein die Festnahme mutmaßlicher Terroristen. Bemerkenswert ist jedoch, dass das Recht auf Leben auch im unglücklichen Fall einer Alltagssituation thematisiert werden kann, mit der die Polizei routinemäßig außer Kontrolle geraten muss. Schließlich liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der jüngsten Rechtsprechung in Bezug auf die Verwendung des relativ neuen Geräts, das allgemein als „Taser“ bekannt ist, durch die Polizei.​

  1. Einführung​
„Die Polizei und das Recht auf Leben“ ist zweifellos ein sehr breites Thema, das man darstellen kann. Während die direkte Verbindung zu Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Schutz des „Rechts auf Leben“ offensichtlich ist, ist es noch wichtiger zu beachten, dass sich die folgenden Zeilen nur auf zentrale Teile des Ganzen konzentrieren müssen Spektrum, das Artikel 2 EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bieten.

Wir überspringen im Folgenden die Frage der effektiven Ermittlung – einer Ermittlung, die durchgeführt werden muss, wenn das Leben einer Person in Gefahr war – und konzentrieren uns stattdessen auf den Wortlaut und den Umfang des Schutzes, den Artikel 2 EMRK im Hinblick auf die präventive Perspektive der Polizei gewährt Aktion.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, dass Artikel 2 EMRK eine der grundlegendsten Bestimmungen der Konvention ist Verpflichtungen nach Artikel 2 EMRK2 getroffen werden (Artikel 15 § 2 EMRK).

In Verbindung mit Artikel 3 EMRK – dem Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Bestrafung – verankert Artikel 2 EMRK einen der Grundwerte demokratischer Gesellschaften, aus denen der Europarat (CoE)1 besteht, und legt sehr strenge Bedingungen fest, unter denen eine Entbehrung erfolgt des Lebens gerechtfertigt sein kann.

Um mit einigen allgemeinen Überlegungen zu Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beginnen, garantiert diese Bestimmung „jedermann das Recht auf Leben“, das „durch das Gesetz geschützt“ werden muss (§ 1 Satz 1). Außerdem darf „niemandem das Leben vorsätzlich genommen werden“ (§ 1 Satz 2). Die Ausnahme „außer bei der Vollstreckung eines Urteils eines Gerichts nach seiner Verurteilung wegen einer Straftat, für die diese Strafe gesetzlich vorgesehen ist“ geht auf die 1950er Jahre zurück und kann seit Artikel 1 des Protokolls Nr. 6 als „überholt“ eingestuft werden die Konvention und Artikel 1 und Artikel 2 des Protokolls Nr. 13 zur Konvention haben die Todesstrafe auch in Kriegszeiten abgeschafft.

Seit 1989 müssen neue Mitgliedstaaten des Europarates vor dem Beitritt die Todesstrafe abschaffen und (mindestens) ein Moratorium für die Verhängung dieser Strafe einführen (normalerweise sollte die Verpflichtung zur Abschaffung der Todesstrafe die Ratifizierung des Protokolls nach dem Beitritt beinhalten Nr. 6).1

Art. 2 Abs. 2 EMRK wendet sich an Einschränkungen des Rechts auf Leben, die auch unter menschenrechtlichen Maßstäben als gerechtfertigt angesehen werden können. Der Tod einer Person – von der Konvention als „Lebensentzug“ bezeichnet – stellt unter bestimmten und eng definierten Umständen keine Verletzung der EMRK dar („darf nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen werden“) wenn (lit. a) „es sich aus der Anwendung von Gewalt ergibt, die nicht mehr als unbedingt erforderlich ist, um eine Person gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen“,1 (lit. b) „um eine rechtmäßige Festnahme zu bewirken oder die Flucht einer rechtmäßig inhaftierten Person“ oder (lit. c) „bei einer rechtmäßigen Handlung zur Unterdrückung eines Aufstands oder Aufstands“.

Artikel 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) schützt das Recht auf Leben in vergleichbarer Weise, ähnelt aber dem bereits 1966 entwickelten Stand des Menschenrechtsschutzes:​

  1. Jeder Mensch hat das angeborene Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich geschützt. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.​
  2. In Ländern, die die Todesstrafe nicht abgeschafft haben, kann die Todesstrafe nur für die schwersten Verbrechen in Übereinstimmung mit dem Gesetz verhängt werden [...].​
  3. Wenn der Entzug des Lebens das Verbrechen des Völkermords darstellt, [...].​
  4. Jeder zum Tode Verurteilte hat das Recht auf Begnadigung oder Umwandlung der Strafe. Amnestie, Begnadigung oder Umwandlung des Todesurteils können in allen Fällen gewährt werden.​
  5. Die Todesstrafe darf nicht für Straftaten verhängt werden, die von Personen unter achtzehn Jahren begangen wurden, und darf nicht an schwangeren Frauen vollstreckt werden.​
  6. Nichts in diesem Artikel darf geltend gemacht werden, um die Abschaffung der Todesstrafe durch einen Vertragsstaat dieses Pakts zu verzögern oder zu verhindern.​
  1. Artikel 2 EMRK: Schutzbereich​
Wenn wir uns erneut auf Artikel 2 EMRK konzentrieren, wird deutlich, dass durch diese Bestimmung menschliches Leben garantiert wird. Der genaue Schutzumfang ist aber im Detail im konkreten Fall – auch bei polizeilichem Handeln – nicht ganz einfach nachzuvollziehen.

Sicherlich setzt die Bestimmung den Rahmen für ein allgemeines Tötungsverbot für Staatsbedienstete, einschließlich Polizeibeamte. Das bedeutet, dass es jedem „Hohen Vertragsstaat“ (Artikel 1 EMRK) in Ausübung seiner Befugnisse untersagt ist, aktiv das Leben einer Person zu nehmen, mit Ausnahme der Einschränkungen, die in Artikel 2 § 2 EMRK festgelegt sind.

Das ist aber nicht der einzige Schutzbereich, den der EGMR aus Art. 2 EMRK abgeleitet hat. Der Gerichtshof hat eine „positive Verpflichtung“ des Staates und seiner Vertreter konstruiert: Demnach sind die Vertragsstaaten verpflichtet, eine öffentliche Ordnung zu schaffen, die einen angemessenen Schutz des Rechts auf Leben für alle Personen vorsieht.1 Diese zweite „Säule“ im Schutzbereich von Art. 2 EMRK spielt in der Praxis eine viel wichtigere Rolle als das Verbot der aktiven „Tötung“, insbesondere in Fällen, in denen es um die Anwendung von Gewalt durch Polizeibeamte geht.

Hinsichtlich des Schutzumfangs ist das Recht auf Leben unabhängig von sozialer oder wirtschaftlicher Herkunft, Alter oder Krankheit auszulegen. Genauer gesagt verbietet Artikel 2 EMRK jede Art von Tötung.1 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat betont, dass es kein „Recht auf Suizid“ gibt und keine aktive Form der Sterbehilfe unter der Bestimmung akzeptiert werden kann, die ein „Recht auf Selbstmord“ garantiert Leben.“2

Nähert man sich dem konkreten Thema, dem Schutz des Lebens durch polizeiliche Eingriffe, ist zu berücksichtigen, dass jede Tötung, die einem Vertragsstaat zurechenbar ist (Art. 1 EMRK), als Eingriff in das Recht auf Leben anzusehen ist. Dies gilt sogar für unbeabsichtigte Tötungen, z. durch Polizeikräfte.1

Die positive Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens verlangt, dass jede das Leben einer Person ernsthaft bedrohende Maßnahme – durch Staatsbedienstete oder Privatpersonen – verboten wird.

Daher muss ein Staat ein wirksam funktionierendes Strafrechtssystem einschließlich gesetzlicher Bestimmungen einrichten. Das bedeutet in der Praxis, dass jeder gewaltsamen Tötung einer Person eine wirksame strafrechtliche Untersuchung durch staatliche Behörden folgen muss.

Nicht zuletzt ist die positive Lebensschutzpflicht des Staates auch für den Schutz von Personen in staatlicher Obhut wichtig, insbesondere für inhaftierte Personen, z. in Polizeigewahrsam nach Festnahme.1​

  1. Rechtfertigung einer Entziehung des Rechts auf Leben​
Für Polizeikräfte sind die in Art. 2 Abs. 2 EMRK geregelten Gründe, die eine Entziehung des Lebensrechts rechtfertigen, abstrakte „Mindest“-Leitlinien für ihre tägliche Arbeit.

Zunächst erwähnt die Konvention „die Verteidigung jeder Person vor rechtswidriger Gewalt“. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss die Situation ex ante beurteilt werden.1 Aber auch dann dürfen keine milderen Gewaltmittel zur Verfügung stehen, d. h. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss ernst genommen werden.2 Die Gericht hat sich jedoch noch nicht eindeutig mit der Frage befasst, ob die Tötung einer Person zum Schutz materieller Güter nach Artikel 2 § 2 lit. eine EMRK. Dies ist eines der viel diskutierten Themen im deutschen Strafrecht, das sich für einen recht weitreichenden Rechtfertigungsgrund der Notwehr entschieden hat.3

Ein weiterer in Art. 2 Abs. 2 EMRK genannter Rechtfertigungsgrund ist die Vollstreckung einer „rechtmäßigen Festnahme oder Verhinderung der Flucht einer rechtmäßig inhaftierten Person“. Der Wortlaut dieser Vorschrift wurde vom EGMR so konstruiert, dass eine vorsätzliche Tötung in klarem Widerspruch zu Art. 2 Abs. 2 lit. b EMRK.1

Der letzte Rechtfertigungsgrund von Art. 2 Abs. 2 EMRK, eine „rechtmäßige Handlung zur Unterdrückung eines Aufruhrs oder Aufstands“, ist einer der am meisten diskutierten Rechtfertigungsgründe.1 Am 15. Juli 2016 ein Staatsstreich wurde in der Türkei von einer Fraktion innerhalb der türkischen Streitkräfte versucht. Der Versuch wurde gegen staatliche Institutionen durchgeführt, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die türkische Regierung. Während des Putsches wurden mehr als 300 Menschen getötet und über 2100 verletzt. Die Regierung reagierte mit Massenverhaftungen und mehr als 6.000 Inhaftierten, darunter mindestens 2.850 Soldaten und etwa 2.700 Richter.2 Als Reaktion auf den Putschversuch kündigte der türkische Präsident Erdogan am 20. Juli 2016 einen dreimonatigen Staat an Notstand.3 Darüber hinaus wurde der Generalsekretär des Europarates am 21. Juli 2016 von den türkischen Behörden darüber informiert, dass die Türkei eine Abweichung von der Europäischen Menschenrechtskonvention gemäß Artikel 15.4 notifizieren werde

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass für all diese Rechtfertigungen von „Einschränkungen“ des Rechts auf Leben die Anwendung von Gewalt immer absolut notwendig sein muss mit dem Recht auf Leben in Konflikt geraten, haben Staatsbeamte stets dafür zu sorgen, dass in der konkreten Situation nicht mildere Mittel ausreichen.2 Dabei geht es dem Gericht um eine strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Bei Polizeieinsätzen sind einige Aspekte zu beachten: Bei der Planung eines Polizeieinsatzes sind Maßnahmen gegen jede Form von Eskalation zu berücksichtigen. Beispielsweise muss die Polizei im Falle einer Versammlung oder Demonstration, die zu einer aggressiven Anwendung von Gewalt durch die Teilnehmer oder einige Gegengruppen führen könnte, das potenziell hohe Risiko einer Eskalation berücksichtigen. Polizeibeamte, die für die Polizeitaktik zuständig sind, müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen, um das Risiko für das Leben der Menschen zu verringern, die an einer solchen Demonstration oder ihrem Gegenstück teilnehmen. Doch wie soll ein solcher Polizeieinsatz ablaufen? Und wie soll die Operation im Detail ablaufen? Inwieweit darf bei einem solchen Einsatz tödliche Gewalt angewendet werden?

Anzumerken ist, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Laufe der Jahre zu einem sogenannten Erforderlichkeitsgrundsatz geformt hat. Folglich ist eine strenge und zwingende Erforderlichkeitsprüfung anzuwenden – sowohl im Stadium der Planung einer Polizeiaktion als auch während ihrer Durchführung.1

Die Anwendung tödlicher Gewalt durch staatliche Organe wurde erstmals am 27. September 1995 im Fall McCann und andere gegen Vereinigtes Königreich thematisiert. In seinem Urteil stellte der EGMR den Grundsatz auf, dass Artikel 2 EMRK Ausnahmen vom Recht auf Leben zulässt nur wenn es absolut notwendig ist, und betonte auch, dass ein strengerer und zwingenderer Erforderlichkeitstest anzuwenden ist als der normalerweise anwendbare, wenn festgestellt wird, ob staatliches Handeln in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist, wie es Artikel 2 § 2 EMRK vorschreibt.1​

  1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Notwendigkeit der Anwendung von Gewalt​
Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut von Artikel 2 EMRK („Anwendung von Gewalt, die nicht mehr als unbedingt erforderlich ist“) und wurde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankert.​

  1. EGMR, McCann et al./Vereinigtes Königreich, 27. Sept. 1995,​
Nr. 18984/91

Der Fall McCann betraf den Tod von drei Mitgliedern der IRA1, die verdächtigt wurden, im Besitz einer Fernbedienung zu sein, mit der eine Bombe gezündet werden sollte. Die IRA hatte zuvor ferngesteuerte Zünder eingesetzt, und Geheimdienste schlugen vor, dass ein Auto, das die Verdächtigen an einem überfüllten Ort geparkt hatten, mit Sprengstoff manipuliert worden war, wobei die Verdächtigen den ferngesteuerten Zünder hielten (was sich später als falsch herausstellte). Die Verdächtigen wurden von Soldaten des Special Air Service (SAS) auf offener Straße in Gibraltar erschossen.2

Der EGMR prüfte, ob die Schießerei in keinem Verhältnis zu den Zielen stand, die der Staat mit der Festnahme der Verdächtigen und dem Schutz der Bürger von Gibraltar vor rechtswidriger Gewalt erreichen wollte.1 Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf die Tötung der drei Terroristen fest : Es handelte sich nicht um eine zwingend erforderliche Gewaltanwendung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 EMRK. Die Verletzung von Artikel 2 EMRK wurde mit 10 zu 9 Stimmen in Bezug auf die Planung und Kontrolle des Einsatzes durch die Behörden festgestellt, da sie nicht streng verhältnismäßig zu den zu erreichenden Zielen, d. h. der Rettung von Menschenleben, war.2​

  1. EGMR, Andronicou und Constantinou/Zypern, 9. Okt. 1997, Nr. 25052/94​
Dieser zweite „Leitfall“ in der Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 2 EMRK betraf die mutmaßliche rechtswidrige Tötung eines jungen Paares durch Beamte einer Spezialeinheit der Polizei (MMAD) im Zuge einer Rettungsaktion.1 Die konkrete Planung und Kontrolle der Rettung Betrieb wurde vom Gericht angefochten. Das vorliegende Problem bestand darin, festzustellen, ob die Behörden unter diesen Umständen bei der Planung und Kontrolle der Rettungsaktion angemessene Sorgfalt walten ließen, einschließlich der Entscheidung, MMAD-Beamte einzusetzen, um das Risiko für das Leben des Paares zu minimieren, und eine angemessene Bewertung von Alternativen Möglichkeiten, mit der Situation im Nachhinein umzugehen.2

Die Behörden führten langwierige Verhandlungen in dem Wissen, dass es sich um ein junges Paar handelte (nur „Liebesstreit“, aber keine Terroristen). Die Verhandlungen wurden in Anbetracht der Umstände in angemessener Weise geführt. Als die Situation jedoch zunehmend gefährlicher wurde, konnten die Behörden vernünftigerweise zu dem Schluss kommen, dass entschlossene Maßnahmen ergriffen werden mussten, um den Vorfall zu beenden. Begründet wurde dies mit der Befürchtung, dass der bekanntermaßen bewaffnete junge Mann seine Verlobte töten und Selbstmord begehen würde. Die Entscheidung, MMAD-Offiziere zu entsenden, wurde erst nach sorgfältiger Überlegung und Beratung auf hoher Ebene getroffen.

Die Beamten seien klar angewiesen worden, das Feuer nur dann zu eröffnen, wenn das Leben der jungen Frau oder ihr eigenes Leben in Gefahr seien, und nur verhältnismäßige Gewalt anzuwenden. Die Entscheidung, die MMAD-Beamten einzusetzen, galt als letzter Ausweg.1 Die Beschwerdeführer konnten nicht nachweisen, dass die Rettungsaktion nicht so geplant und organisiert worden war, dass die Lebensgefahr der Paare so gering wie möglich gehalten wurde. Die Anwendung tödlicher Gewalt ging unter diesen Umständen nicht über das unbedingt Notwendige hinaus, um das Leben der jungen Frau und das Leben der Beamten zu verteidigen (keine Verletzung von Artikel 2 EMRK).2​

  1. EGMR (GK), Makaratzis/Griechenland, 20. Dez. 2004, Nr. 50385/99​
1995 versuchte die Polizei, den Beschwerdeführer, einen unbewaffneten Zivilisten, anzuhalten, nachdem er im Zentrum von Athen über eine rote Ampel gefahren war; er hielt nicht an, sondern beschleunigte. Von mehreren Polizisten verfolgt, kollidierte sein Auto mit mehreren anderen Fahrzeugen; zwei Fahrer wurden verletzt. Nachdem er fünf Straßensperren der Polizei durchbrochen hatte, begannen die Polizisten, auf sein Auto zu schießen. Er hielt sein Auto an einer Tankstelle an, schloss aber die Türen ab und weigerte sich auszusteigen; Die Polizisten feuerten weiter. Makaratzis erlitt viele Verletzungen; an seinem Auto wurden 16 Kanonenlöcher gefunden.1

Problematisch war in diesem Fall, dass einige Polizisten den Tatort verließen, ohne ihre Identität preiszugeben und alle notwendigen Informationen über die verwendeten Waffen preiszugeben.1 Gegen sieben Beamte leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren ein, das mit einem Freispruch endete. Da nicht alle an dem Vorfall beteiligten Beamten identifiziert worden waren, konnte das Strafgericht nicht zweifelsfrei feststellen, dass die sieben Angeklagten diejenigen waren, die auf den Beschwerdeführer geschossen hatten.2 Makaratzis beschwerte sich gemäß Artikel 2 EMRK, dass die Polizei Beamte hatten übermäßige Feuerkraft gegen ihn eingesetzt und sein Leben aufs Spiel gesetzt.3

In Bezug auf das kriminelle Verhalten von Makaratzis und die mehreren terroristischen Aktionen gegen ausländische Interessen zu dieser Zeit akzeptierte das Gericht, dass die Anwendung von Gewalt gegen ihn auf einer ehrlichen Überzeugung beruhte, die zu diesem Zeitpunkt als gültig angesehen wurde. Allerdings kritisierte das Gericht den chaotischen Umgang der Polizei mit den Schusswaffen. Es stellten sich ernsthafte Fragen zur Durchführung und Organisation des Polizeieinsatzes. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer, unabhängig davon, ob die Polizei tatsächlich beabsichtigt hatte, ihn zu töten, Opfer eines Verhaltens geworden war, das seiner Natur nach sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, obwohl er letztendlich überlebt hatte ; Artikel 2 EMRK wurde daher verletzt.1​

  1. EGMR, Wasilewska und Kalucka/Polen, 23.02.​
2010, Nr. 28975/04 und 33406/04

Der Fall betraf den Tod eines Verdächtigen während einer Antiterroroperation. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 2 EMRK fest: Die polnische Regierung hatte keine Stellungnahme zur Verhältnismäßigkeit des von der Polizei angewandten Gewaltniveaus, zur Organisation des Polizeieinsatzes und zur Schaffung eines angemessenen Rechts- und Verwaltungsrahmens abgegeben zum Schutz der Menschen vor Willkür und Gewaltmissbrauch.1​

  1. EGMR (GK), Giuliani und Gaggio/Italien, 24. März​
2011, Nr. 23458/02

Der Fall betraf den Tod eines jungen Mannes (Carlo Giuliani), der während des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001 an einer Protestaktion gegen die Globalisierung teilnahm. Seine Familie reichte beim EGMR eine Beschwerde ein, in der behauptet wurde, Italien habe gegen Artikel 2 EMRK verstoßen. Der EGMR stellte keine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf die Anwendung tödlicher Gewalt fest.1 Allerdings waren 7 der 17 Richter anderer Meinung, insbesondere zu vielen Aspekten der Entscheidung in Bezug auf das Recht auf Leben.2

Der EGMR stellte fest, dass es keine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf den innerstaatlichen Rechtsrahmen zur Regelung der Anwendung tödlicher Gewalt oder in Bezug auf die an die Strafverfolgungsbehörden auf dem G8-Gipfel in Genua ausgegebenen Waffen gab: Es war keine übermäßige Verletzung oder unverhältnismäßig zu dem, was absolut notwendig war, um eine Person vor ungesetzlicher Gewalt zu schützen.1

Das Gericht stellte keine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf die Organisation und Planung der Polizeieinsätze auf dem Gipfel fest: Die Behörden seien verpflichtet, das friedliche Verhalten und die Sicherheit aller Bürger bei rechtmäßigen Demonstrationen zu gewährleisten, aber „sie (konnten nicht ) dies uneingeschränkt gewährleisten und (hatten) einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der einzusetzenden Mittel.“1

Insbesondere gab es jedoch unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der (sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlichen) Pflichten des Staates zum Schutz des Lebens, einschließlich des Einsatzes von Schusswaffen bei Polizeieinsätzen, der Ausgabe nicht tödlicher Waffen, und ob es ein höheres Maß an Verantwortung gab, wo groß angelegt, hoch -Risikodemonstrationen sind geplant.1

Die abweichenden Meinungen von vier Richtern stellten jedoch einen Mangel an staatlicher Organisation fest, der das Recht auf Leben verletzte: die Kriterien für die Auswahl von Streitkräften,​

  1. e. die begrenzte Erfahrung und Ausbildung der Beamten und die mangelnde Unterstützung für den Beamten, der schließlich Carlo Giuliani erschoss. Der Polizist wurde in einem Fahrzeug zurückgelassen, das nicht ausreichend geschützt war, mit einer tödlichen Waffe als einziger Verteidigung. Das Fehlen eines angemessenen Rechtsrahmens für den Einsatz von Schusswaffen sowie die Mängel bei der Vorbereitung der Polizeieinsätze und der Ausbildung des Strafverfolgungspersonals führten dazu, dass die Maßnahmen des Staates tatsächlich mit Carlos Tod in Verbindung standen.1​
  1. EGMR, Finogenov et al./Russland, 20. Dez. 2011, Nrn. 18299/03 und 27311/03​
Der Fall betraf die Geiselnahme im Dubrovka-Theater in Moskau durch tschetschenische Separatisten (Belagerung des Nord-Ost-Theaters) im Oktober 20021 sowie die Entscheidung, die Terroristen zu überwinden und die Geiseln zu befreien, indem ein unbekanntes Rauschgas in das Theater gepumpt wurde. Die Beschwerdeführer behaupteten, ihre Angehörigen (Terroristen sowie Geiseln) hätten unter den Aktionen der russischen Sicherheitskräfte gelitten und seien gestorben. Darüber hinaus wurde behauptet, dass die Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitskräfte unverhältnismäßig und die Hilfe für die Überlebenden unzureichend gewesen sei.2

Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf die Entscheidung fest, die Geiselnahme durch Beendigung der Verhandlungen, Stürmung des Gebäudes und Freisetzung des Rauschgifts zu lösen. Der EGMR stellte fest, dass „eine reale, ernsthafte und unmittelbare Gefahr von Massenverlusten von Menschen bestand und dass die Behörden allen Grund zu der Annahme hatten, dass ein erzwungenes Eingreifen unter den gegebenen Umständen das ‚geringere Übel‘ sei“, während der Einsatz von Gas nicht in Frage käme diese Umstände eine unverhältnismäßige Maßnahme darstellen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).1

Der Gerichtshof stellte jedoch eine Verletzung von Artikel 2 EMRK in Bezug auf die unzureichende Planung und Durchführung der Rettungsaktion sowie den Mangel an medizinischer Hilfe für die Geiseln fest. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Rettungsaktion nicht ausreichend vorbereitet war.1 Bedeutsamerweise darf selbst bei einer Operation zur Terrorismusbekämpfung die Anwendung tödlicher Gewalt durch den Staat nicht mehr als das absolut Notwendige sein

47

notwendig.1

  1. EGMR, Fanziyeva/Russland, 18. Juni 2015, Nr. 41675/80​
2007 besuchte Frau Eneyeva zusammen mit Herrn A. einen lokalen Markt; einer der Standbesitzer vermutete, dass Frau Eneyeva vorhatte, einen Rock von einem Marktstand zu stehlen; die Polizei kam und verhaftete die Tochter des Beschwerdeführers wegen Diebstahlsverdachts; Frau Eneyeva und Herr A. wurden beide in ein Polizeifahrzeug gebracht. Laut Herrn A. näherte sich ein unbekannter Polizist dem Fahrzeug, trat Frau Eneyeva 15 Mal gegen die Beine und ging davon. Auf der Polizeiwache wurde Frau Eneyeva in den Verhörraum im zweiten Stock der Polizeiwache gebracht und von den Polizisten geschlagen, bis sie ohnmächtig wurde. Es war nicht klar, ob Frau Eneyeva versuchte zu fliehen, indem sie aus einem zweiten Stock sprang, oder ob sie von nicht näher bezeichneten Polizisten aus dem Fenster geworfen wurde.1 Frau Eneyeva wurde ins Krankenhaus gebracht, starb jedoch an komplexen inneren Verletzungen am Kopf , Körper und Extremitäten.

Der EGMR kam zu dem Schluss, dass die staatlichen Behörden Frau Eneyeva keinen ausreichenden und angemessenen Schutz vor einer vorhersehbaren Gefahr für ihr Leben gewährten, wie in Artikel 2 EMRK gefordert, und betonte die Verpflichtung der Behörden, die Gesundheit und das körperliche Wohlergehen von Personen zu schützen festgenommen, inhaftiert oder in Gewahrsam.1 Trotz ausreichender Beweise dafür, dass die Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass die Gefahr bestand, dass Frau Eneyeva versuchen könnte, durch einen Sprung aus einem Fenster im zweiten Stock zu fliehen, gab es einige grundlegende Gründe Vorkehrungen, die von Polizeibeamten gegenüber inhaftierten Personen erwartet werden sollten, um eine potenzielle Gefährdung ihres Lebensrechts zu minimieren (vorhersehbare Gefahr).

Obwohl der EGMR nicht im Detail beurteilen konnte, ob die Überwachungsvorkehrungen für die Inhaftierung von Frau Eneyeva angemessen waren, kritisierte das Gericht, dass einer der Staatsbediensteten Frau Eneyeva, einer festgenommenen Person, erlaubt hatte, unbeaufsichtigt in der mit einem zu öffnenden Fenster ausgestatteten Toilette zu bleiben .​

  1. Einsatz von Elektroschockgeräten und Elektroentladungswaffen (Taser)​
In den letzten Jahren wurden immer mehr nationale Polizeieinheiten in Europa mit Nahkampfwaffen ausgestattet. Als zentrales Argument für den Erwerb solcher Waffen, z.B. Elektroschockgeräten und Funkenerosionswaffen, ist häufig, dass Polizisten ohne solche Waffen, die mit erheblich aggressivem Verhalten konfrontiert werden, dann gezwungen sind, ihre Schusswaffe als Fernwaffe einzusetzen, um eine unzumutbare Selbstgefährdung zu verhindern.1 Es ist überzeugend wie dieser Gedanke auf den ersten Blick erscheinen mag, so eindeutig sind jedoch die Anforderungen, die Art. 2 EMRK an den Einsatz solcher Spezialwaffen stellt. Für eine detailliertere Erklärung, wie ein Taser tatsächlich funktioniert, siehe (5.1) EGMR, Fox/Vereinigtes Königreich, 20. März 2012, Nr. 61319/09.

Laut Amnesty International (AI) haben Studien gezeigt, dass Taser-Schocks eine erhebliche Gefahr darstellen, nachteilige Auswirkungen auf Menschen zu haben, die an einer Herzerkrankung leiden oder deren Systeme aufgrund einer Drogenvergiftung oder nach einem Kampf beeinträchtigt sind. Die Sonden können nur einmal abgeschossen werden, also müssen sie treffen; Andernfalls würde das Nachladen des Tasers höchstwahrscheinlich zu lange dauern.1

Auch der EGMR und andere internationale Aufsichtsgremien mussten sich bereits mit der Zulässigkeit der Anwendung von Tasern und anderen Elektroschockgeräten auseinandersetzen – vor allem aber im Kontext des Folterverbots des Art. 3 EMRK und anderer paralleler internationaler Regelungen.​

  1. EGMR, Fox/Vereinigtes Königreich, 20. März 2012,​
Nr. 61319/09

In diesem Fall behauptete der Beschwerdeführer, er sei bei seiner Festnahme von Polizeibeamten mit einem Taser schwer angegriffen worden. Er sei mindestens viermal „getasert“ worden; Der Taser wurde direkt auf die Haut aufgetragen und nicht aus der Ferne. Ein Psychiater verglich die Behandlung mit einer „extremen Elektrokrampftherapie“, die schwere Traumata und Verletzungen verursachte.1 Ein Taser ist ein pistolenähnliches Gerät, das zwei Sonden aus einer angebrachten Patrone abschießt; Drähte sind an den Sonden befestigt. Wenn der Abzug gedrückt wird, wird eine elektrische Ladung von etwa 50.000 Volt durch die Drähte und, wenn die Sonden an der Testperson befestigt sind, durch seinen Körper geleitet. Der elektrische Impuls dauert etwa fünf Sekunden oder länger, wenn der Auslöser gedrückt gehalten wird.2

Das Gericht erklärte die Beschwerde für unzulässig.1 In ähnlichen Fällen kann die Verwendung eines Tasers jedoch einen vertretbaren Verstoß gegen Artikel 3 EMRK darstellen, d. h. eine unmenschliche und/oder erniedrigende Behandlung.2​

  1. EGMR, Anzhelo Georgiev et al./Bulgarien, 30. Sept. 2014, Nr. 51284/09​
Der Fall betraf Vorwürfe des übermäßigen Einsatzes von Polizeikräften und insbesondere des Einsatzes von Elektroschockwaffen. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass sie während eines Sondereinsatzes der Polizei, der 2008 in den Büros ihres Internetunternehmens durchgeführt wurde, von bewaffneten, maskierten Polizeibeamten misshandelt worden seien, um illegale Software zu durchsuchen und zu beschlagnahmen. Einer der Beschwerdeführer (Kosev) behauptete, dass gegen ihn eine Elektroschockpistole eingesetzt wurde, während er mit Handschellen an ein Fenstergitter gefesselt war. Die Beschwerdeführer erlitten während des Eingriffs Verletzungen, darunter Blutergüsse, Abschürfungen und Verbrennungen, die in den Berichten über die am nächsten Tag durchgeführten medizinischen Untersuchungen aufgeführt sind.1

Die Verletzungen der Beschwerdeführer waren schwer genug, um das Mindestmaß an Schwere zu erreichen, das erforderlich ist, damit eine Beschwerde die Schwelle von Artikel 3 EMRK überschreitet.1 Außerdem hatte die vorläufige Untersuchung keine plausible Erklärung für die Notwendigkeit der gegen die Beschwerdeführer angewandten Gewalt geliefert. Das Gericht hielt es für unbefriedigend, dass die Strafverfolgungsbehörden trotz unzureichender Beweise dafür, dass die Verdächtigen die Anordnungen der Polizeibeamten in einer Weise missachtet hatten, die den Einsatz von solche Waffen.2

Der Einsatz von Tasern wird international kontrovers diskutiert. Taser eignen sich von Natur aus für Missbrauch. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) hat Beweise dafür gesammelt, dass solche Waffen missbraucht wurden, um Personen, denen die Freiheit entzogen war, schwere Misshandlungen zuzufügen. Der Ausschuss hat häufig Vorwürfe erhalten, dass inhaftierten Personen mit Misshandlung durch den Einsatz von Tasern oder anderen elektronischen Waffen gedroht wurde.1

In einem UNCAT-Bericht aus dem Jahr 2007 heißt es: „Das Komitee war besorgt, dass der Einsatz von Taser X26-Waffen, die extreme Schmerzen hervorrufen, eine Form der Folter darstellt und in bestimmten Fällen auch zum Tod führen kann, wie mehrere zuverlässige Studien und bestimmte zeigen Fälle, die nach der praktischen Anwendung aufgetreten sind.“1

Amnesty International (AI) hat auch große Bedenken hinsichtlich der Verwendung anderer Elektroschockgeräte durch die amerikanische Polizei sowie in amerikanischen Gefängnissen geäußert, da sie dazu verwendet werden könnten, Personen grausame Schmerzen zuzufügen.1

Bevor eine so groß angelegte Anschaffung dieser Elektroschockgeräte für Polizeieinheiten in Deutschland realisiert werden kann, muss eine sehr sorgfältige Zweck-Nutzen-Analyse stattgefunden haben. Auch dieses Vorgehen ist Teil eines „präventiven staatlichen Lebensschutzes“, wie der EGMR aus Art. 2 EMRK ableitet. Es versteht sich von selbst, dass bei einer theoretischen Folgeoperation der Verzicht auf eine Schusswaffe nicht mit einem „automatischen Standardeinsatz“ von Tasern einhergehen darf.​

  1. Schlussfolgerungen​
Die Ausführungen zum allgemeinen Schutzbegriff des Art. 2 EMRK und die Darstellung der konkreten Ausgestaltung dieses Begriffs durch die Rechtsprechung des EGMR zeigten deutlich, dass auch aus einer eher scheinbar abstrakt geschriebenen Menschenrechtsgarantie, wie dem Recht auf Leben ( Art. 2 EMRK) lassen sich konkrete Anforderungen für den täglichen Einsatz von Polizeibeamten ableiten. Gerade in diesem sensiblen Bereich, der von der Anwendung von „Polizeigewalt“ bis zum tödlichen Ausgang eines Polizeieinsatzes reicht, ist es erforderlich, dass nach Abschluss der Ausarbeitung entsprechender Szenarien auf nationaler Ebene ein internationales Aufsichtsgremium für die Überprüfung von Menschenrechtsstandards kann obendrauf eingesehen werden. Damit leistet der EGMR auch wichtige Präventionsarbeit. Damit räumt sie den Vertragsstaaten der Konvention einen erheblichen Handlungsspielraum bei der Vorbereitung und Durchführung von Polizeieinsätzen ein. Dies ist angemessen, da selbst der Gerichtshof in Straßburg weiß, dass Rückblick leichter ist als Vorausblick. Durch die Proklamation übertriebener Sorgfaltspflichten wurde nie ein auf der Straße operierender Polizist erreicht. Noch wichtiger ist jedoch, dass den Betroffenen (insbesondere ihren nahen Angehörigen) bereits auf nationaler Ebene eine effektive Beschwerdemöglichkeit gegeben wird, um einen rechtswidrigen Eingriff in das Recht auf Leben geltend zu machen. Deutschland sieht für diesen Fall ein Klageerzwingungsverfahren vor, § 172 der deutschen Strafprozessordnung (StPO). Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten zwei Jahren in vier vielbeachteten Entscheidungen erhebliche „Wirksamkeitsparameter“ zum Schutz des Lebens und anderer Grundrechte für dieses Verfahren aufgestellt.1

Diese Art der gerichtlichen Kontrolle gefällt niemandem – denn bei einem tödlich enden- den Polizeieinsatz steht für alle Beteiligten viel auf dem Spiel. Aber das Recht auf Leben mit seiner herausgehobenen Stellung, die es durch den EGMR selbst und durch die Rechtsprechung des EGMR erhalten hat, verlangt in der Tat nach einer solchen Kontrolle – sowohl aus präventiver Perspektive als auch aus Sicht einer retrospektiven Evaluation .

Der EGMR hat in den letzten Jahren für beide Perspektiven „Wirksamkeitsaspekte“ entwickelt, die weit mehr sind als nur ein abstraktes Menschenrechtsskelett. Die Straßburger Standards, auch im Polizeialltag, sind in letzter Zeit immer konkreter geworden. Deshalb lohnt es sich, den Straßburger Gerichtshof auch im Kontext des „Schutzes des Lebens bei Polizeieinsätzen“ im Auge zu behalten – gerade für Forscher und erst recht für Praktiker, denn sie werden es zu tragen haben die negativen Folgen einer mangelhaften Sensibilisierung in diesem Bereich.​

Verweise

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Fälle

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BVerfG, Decision of 6 October 2014 - 2 BvR 1568/12 (Gorch Fock), NJW 2015, 150 = EuGRZ

  1. 719 BVerfG, Decision of23.3.2015 - 2 BvR 1304/12 (Münchener Lokalderby)​
BVerfG, Decision of 19 May 2015 - 2 BvR 987/11, NJW 2015, 3500 = EuGRZ 2015, 429 = JZ

  1. 890 (Kundus)​
EGMR, A et al. gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 19. Februar 2009, Nr. 3455/05

EGMR, Andreou gegen die Türkei, Urteil vom 27. Oktober 2009, Nr. 45653/99

EGMR, Andronicou und Constantinou gegen Zypern, Urteil vom 9. Oktober 1997, Nr. 25052/94

EGMR, Angelo Georgiev et al. v. Bulgarien, Urteil vom 30. September 2014, Nr. 51284/09

EGMR, Fanziyeva gegen Russland, Urteil vom 18. Juni 2015, Nr. 41675/08

EGMR, Finogenov et al. gegen Russland, Urteil vom 20. Dezember 201 1, Nr. 18299/03 und 273 1 1/03

EGMR, Fox gegen Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 20. März 2012, Nr. 61319/09

EGMR, Giuliani und Gaggio gegen Italien, Urteil der Großen Kammer vom 24. März 2011, Nr. 23458/02

EGMR, Makaratzis gegen Griechenland, Urteil der Großen Kammer vom 20. Dezember 2004, Nr. 50385/99

EGMR, McCann gegen Vereinigtes Königreich, Urteil der Großen Kammer vom 27. September 1995, Nr. 18984/91​

EGMR, Pretty gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02

EGMR, Söring gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88

EGMR, Timurtas gegen die Türkei, Urteil vom 13. Juni 2000, Nr. 23531/91

EGMR, Wasilewska und Kalucka gegen Polen, Urteil vom 23. Februar 2010, Nrn. 28975/04 und 33406/04​