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Einleitung

Rousseau hat nicht das Leben eines Gelehrten geführt; er hat an keiner Universität studiert; selbst seine Schulerziehung war dürftig; nahezu alles hat er sich auf autodidaktischem Wege angeeignet. Rousseaus Leben war das eines Künstlers, Literaten und Intellektuellen, skandalträchtig, unstet und abenteuerlich, viele Jahre auf der Flucht vor dem Haftbefehl des Pariser Parlaments und der Genfer Behörden. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit Autorenhonoraren, mit dem Kopieren von Noten und vor allem mit Hilfe adeliger Gönnerinnen und Mäzene. Er war empfindlich, eitel und streitsüchtig, in späteren Jahren wurde sein Gemüt durch krankhaftes Misstrauen und Verfolgungswahn verdüstert. Seine Überzeugungen trug er mit missionarischem Eifer vor. Jede Kritik erfuhr eine ausführliche Replik. Seine kränkliche Konstitution hinderte ihn nicht daran, sich mit allen Großen seiner Zeit zu Überwerfen. Er wies das ganze Zeitalter in die Schranken. Indem er der selbstsicheren und fortschrittsstolzen Moderne die moralischen und sozialen Kosten der politischen, kulturellen und ökonomischen Modernisierungsprozesse vorrechnete, wurde er zum Erfinder moderner Gesellschafts-, Zivilisations- und Fortschrittskritik. Allen nachfolgenden Generationen des Protests hat er die Motive, Begriffe und Empfindungen vorgegeben. Mit seinem Evangelium der Authentizität begeisterte Rousseau das junge, der erstarrten höfischen Kultur und einengender Konventionen überdrüssige Bürgertum und verschaffte ihm ein neues Selbstverständnis und Weltgefühl. Er wurde der Prophet eines neuen, innengesteuerten Menschentyps, der der gesellschaftlichen Korruption trotzt und sensibel und in moralischer Lauterkeit nach seiner eigenen inneren Wahrheit zu leben sucht. Seine Entdeckungen im unbekannten Land der Privatheit, Intimität und Erziehung, aufgeschrieben im Emile und der Nou- velle Heloise, fesselten das gebildete Publikum Europas. Sein Subjektivismus autobiographischer Selbst- und Lebensinszenierung inspirierte die Sturm-und-Drang-Bewegung und die Romantik. Die jakobinischen Revolutionäre von Paris erblickten in ihm einen Vorläufer ihres Egalitarismus und ihrer Tugendstrenge, und Robespierre feierte ihn als „Lehrer des Menschengeschlechts".
Noch heute gilt Rousseaus republikanisches Bekenntnis im Contrat social zur Volkssouveränität und zum Allgemeinwillen als radikaler demokratieethischer Grundtext, aus dem sich die Kritik an der Bürgerferne der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie und der parteipolitischen

Verstümmelung des Gemeinwohls immer wieder von neuem versorgt. Kaum ein Denker der Neuzeit war einflussreicher und wirkmächtiger als Rousseau; alle haben aus ihm geschöpft, Philosophen wie Dichter. Und kein Denker hat das spannungsvolle Antlitz der Moderne nachhaltiger geprägt. Die Denkmotive, Affekte und Einstellungen dieses Philosophen der Emphase sind längst zu einem anonymen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins der Moderne, zu einer kognitiv-affektiven Formation der modernen Kultur selbst geworden.

Der Gesellschaftsvertrag ist ein schwieriges Buch. Nicht, weil es in äußerster Konzentration eine ebenso abstrakte wie komplexe Argumentation entwickelte, die nur im Rahmen einer sorgfältigen, jeder logischen Verästelung folgenden Rekonstruktion verstanden und geprüft werden kann. Kants Kritik der reinen Vernunft etwa ist ein solches Werk, das eine Satz- für-Satz-Lektüre verlangt, das Satzkolonnen und Abschnitte besitzt, denen man sich nur mit Bleistift und Lineal nähern kann, weil ohne eine genaue Ermittlung ihrer syntaktisch-kompositorischen Struktur keine Aussicht besteht, ihre Semantik zu erfassen und dadurch einen Zugang zu ihrem philosophischen Sinn zu erhalten. Die Schwierigkeit des Contrat social ist von anderer Art.

Rousseaus politikphilosophisches Hauptwerk ist uneinheitlich, spannungsvoll und widersprüchlich. Sein Stil ist ein Konglomerat aus unterschiedlichen Elementen. Der behauptende Gestus überwiegt, kaum Argumentation und Explikation; häufig werden die thetischen Passagen durch historische Abschweifungen in das Verfassungsleben der Antike angereichert. Im Gesellschaftsvertrag wird eine Republikkonzeption entwickelt, die, obwohl mit den Lesefrüchten aus der republikanischen Überlieferung garniert, eher an die Gemeinden puritanischer Sektierer erinnert als an die Bürgergemeinschaft des politischen Aristotelismus oder das Rom der Dis- corsi Machiavellis und in ihrer individualistischen Fundierung und egalita- ristischen Ausrichtung modernen Zuschnitts ist, jedoch zugleich einer kulturellen Homogenisierung das Wort redet, die den neuzeitlichen Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung direkt entgegengesetzt ist. Ihr begründungstheoretisches Fundament wird durch den Kontraktualis- mus bereitgestellt, aber nichts könnte dem neuzeitlichen Vertragsstaat und der durch ihn geschützten liberalen Gesellschaft fremder sein als die Rous- seau'sche Republik des Gemeinwillens. Der durch die kontraktualistische Begründungsfigur entwickelte Grundlagenliberalismus wird durch einen ethischen Republikanismus überformt; der Staat des Rechts versinkt in einer Gemeinschaft des Guten.

Der Contrat social enthält keinen einzigen originären Begriff, alle konzeptuellen Angelpunkte der in ihm entworfenen Theorie entstammen der klassischen und der neuzeitlichen Überlieferung. Und doch ist es ein einzigartiges Werk, das in der ganzen neuzeitlichen politischen Philosophie nicht seinesgleichen hat. Denn alle Begriffe, vom Vertrag bis zum Gesetzgeber, vom Gemeinwillen bis zum Gesetz werden uminterpretiert, gewinnen eine neue, zumeist schillernde, alte Bedeutungsschichten mit neuem Firnis überziehende Bedeutung. Die das ganze Werk prägende Liberalis- mus-Republikanismus-Spannung färbt sie ein und gibt ihnen eine doppelte Lesart. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht dem Umstand geschuldet, dass der Gesellschaftsvertrag von Rousseau als Teil eines größeren Projekts gedacht war, das eine erschöpfende Behandlung aller politischen Institutionen bieten sollte und nicht ausgeführt wurde. Es ist kein Kontext, keine Vervollständigung denkbar, die das Knäuel einander widersprechender Motive, Gedanken und Lehrstücke entwirren könnte. Der Grund für die Zwiespältigkeit des Contrat social zeigt sich erst dann, wenn wir das Werk in einen modernitätstheoretischen Zusammenhang stellen, sein Verhältnis zur Moderne betrachten.1 Der Contrat social bietet keine konstruktive politische Philosophie, die sich mit Aussicht auf Zukunft der Entwicklungsdynamik der Moderne anpasst. Der Contrat social ist ein durchweg kritisches, sich in der Kritik erschöpfendes Werk, das die Vormoderne gegen die Moderne in Stellung bringt. Aufgrund dieser modernitätskritischen Funktionalisierung der Vormoderne ist der Contrat social aber zugleich auch ein durch und durch modernes Werk.

Die Idee des einheitlichen Gesamtwerks besitzt für viele Interpreten eine rätselhafte Attraktivität. Brüche, Verwerfungen, Widersprüche scheinen ihnen anrüchig. Der große Zusammenhang, die konsequente Fortentwicklung ist ihr hermeneutisches Ideal. Als ob philosophische Schriftstellerei einer heimlichen Entelechie folgen würde, sich in ihr, dem Organischen verwandt, ein Keim durch mehrere Entwicklungsstadien bis zur rundenden Vollendung entfalten wolle. Auch in der Rousseau-Forschung hat das Einheitsprinzip Anhänger. Viele sehen zwischen dem Ungleichheits-Diskurs und dem Gesellschaftsvertrag eine innere Verbindung, erblicken keine entscheidenden Differenzen zwischen den Vertragsmodellen der explanativen Geschichtsphilosophie und der normativen Politikphilosophie. Auch den Gesellschaftsvertrag selbst unterwerfen sie einer vereinheitlichenden Interpretation, stören sich weder an der Spannung zwischen dem Grundlagenliberalismus und der tugendethischen Inneneinrichtung der Vertragsrepublik noch an dem Widerspruch zwischen der Volkssouveränitätskonzeption des Begründungsteils und dem Auftritt des menschenbildenden Gesetzgebers im Verwirklichungsteil des Buches.

Ich bin kein Freund der vereinheitlichenden, konziliatorischen Interpretationsperspektive. Die Herausstellung von Unterschieden und Brüchen, von Verwerfungen und Mehrdeutigkeiten scheint mir allemal größeren Erkenntnisgewinn abzuwerfen. Differenz und innere Spannung verdienen daher vorrangig hermeneutische Aufmerksamkeit. Das gilt insbesondere für das Rousseau'sche Werk, das einer bruchstellensensitiven, auf Unterschiede pochenden hermeneutischen Strategie ein reiches Betätigungsfeld bietet. Um diese Spannungen herausarbeiten zu können, muss die textimmanente Betrachtungsperspektive zugunsten einer kontextuellen Zugangsweise verlassen werden. Näherhin versuche ich die Vorzüge der werkgeschichtlichen und der ideengeschichtlichen Kontextualisierung zu verbinden. Denn zum einen ist es hilfreich, den Ort des Contrat social innerhalb des Entwicklungsgangs des Rousseau'schen Denkens zu bestimmen und darum zu den beiden Diskursen, der Abhandlung über die Politische Ökonomie und seinem ersten Entwurf, dem Genfer Manuskript, in Beziehung zu setzen. Zum anderen ist es unumgänglich, die einschlägigen Lehrstücke und Begriffe in ihren ideengeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Nur dann, wenn man den Rousseau'schen Vertrag mit der Vertragskonzeption Hobbes', Lockes und Pufendorfs vergleicht, erschließt sich seine Besonderheit. Ebenfalls ist es notwendig, einen Blick auf Machiavellis Vorstellung vom politischen Gründungsheros und Verfassunggeber zu werfen, um dem Rousseau'schen Legislateur Kontur zu verleihen. Und erst recht verlangt der schwierige Hauptbegriff des Contrat social, die volonte generale, einen komparatistischen Zugriff, der nicht nur den Unterschied zum Diderot'schen Verständnis des Gemeinwillens herausstellt, sondern auch nach-rousseausche Varationen des Gemeinwillens heranzieht, um eine genaue semantische Abgrenzung zu erreichen.​