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Fortsetzung

einen Seite konstatieren, dass die Entlastung von substistenzsichernder Arbeit eine Voraussetzung des bios politikös ist, auf der anderen Seite dann jedoch in der eigenen republikanischen Philosophie die Trennung von Bürgerexistenz und Arbeitsleben aufheben. Rousseaus Citoyen, obwohl dem antiken nachmodelliert und nach wie vor zur Direktherrschaft aufgerufen, führt ein hartes Arbeitsleben, das ironischerweise den Stoffwechsel mit der Natur, von dem der pater familias, der Oikodespot der antiken Welt, befreit war, zur sittlich vorzugswürdigen Arbeitsweise erklärt. Rousseaus ökonomisches Ideal ist die agrarische Bedarfsdeckungswirtschaft; sie ist die vermittlungsfreieste Wirtschaftsform, ausschließlich vom Gebrauchswert regiert. Hier herrschen Echtheit, ethische Strenge und die Authentizität des Natürlichen; das Bedürfnis kommuniziert unmittelbar mit dem Naturstoff und gibt ihm eine ihm gerechte Form. Ackerbau, Viehzucht, Fischfang und eine dörfliche Manufaktur, die die rustikale Lebensform mit den notwendigsten Gegenständen und Gerätschaften versorgt. Markt und Handel sind Rousseau suspekt; sie sind der Ort des sittlichen Niedergangs; hier regiert das Gewinnstreben, hier werden die Bedürfnisse verfeinert, sodass sie nach immer ausgefalleneren Befriedigungsformen suchen, hier gedeiht der Luxus.
Indem bei Rousseau den antiken Bürgern ein ländliches Arbeitsleben verordnet wird, entsteht das Bild einer fortschrittsabgewandten Republik, die eher an Siedlungen puritanischer Sektierer in Neuengland erinnert denn an griechisch-römische Republiken. Dieses Bild ist allein eine Schöpfung der Kritik, es zeichnet keinen aussichtsreichen Weg in eine bessere politisch-gesellschaftliche Zukunft. Rousseau will beides: die Kritik an der Repräsentation und die Kritik an Marktwirtschaft, bürgerlichem Kommerz und gesellschaftlichem Individualismus. Daher muss er die Vereinbarkeit von bürgerlicher Direktherrschaft und arbeitsabhängiger Existenzform behaupten, obwohl seine Analyse der Entstehungsursachen der Repräsentation ihm gezeigt hat, dass nur der von allen Subsistenzsorgen entlastete Bürger sich den Luxus einer ausschließlich der Politik gewidmeten Lebensweise leisten kann. Die politische Philosophie nach ihm hat das Dogma von der herrschaftlichen Realpräsenz des Volkes in den Organisationsformen der Demokratie fallen gelassen und das Volk auf eine rechtfertigungsmythologische Ebene zurückgedrängt. Daher ist Rousseau zugleich der erste und der letzte Theoretiker der Volkssouveränität.
Unteilbarkeit
Aus der Unveräußerlichkeit und Unrepräsentierbarkeit der Souveränität folgt auch ihre Unteilbarkeit. Ein Teil kann nicht legitim über die Allgemeinheit bestimmen, auch die Mehrheit nicht. Die Souveränität zeigt sich in der Gesetzgebung. Über das ganze Volk kann aber nur das ganze Volk beschließen. Das Selbstherrschaftsmodell duldet keine Vertretung, auch nicht die Vertretung der Allgemeinheit durch die Mehrheit. Rousseaus Polemik gegen die Teilung der Souveränität hat wenig mit einer Kritik der Gewaltenteilung zu tun, sondern ist zum einen gegen den Gesetzesanspruch von Verwaltungsvorschriften, Dekreten und dergleichen und gegen eine Kompetenzausweitung über die Legislationstätigkeit hinaus gerichtet. Kann die Mehrheit qua Mehrheit sich nie anmaßen, gültige Gesetze zu geben, so können Erlasse, Verordnungen, Deklarationen und Einzelmaßnahmen nie als Souveränitätsäußerungen gelten. Nur der allgemeine Wille selbst kann Gesetzgeber sein; und nur das kann ein Gesetz sein, was auf das Gemeinwohl zielt. Aber es gilt auch der Umkehrschluss: Der allgemeine Wille kann nur Gesetzgeber und nichts anderes sein. Diese enge Korrelation von Gemeinwille, Gesetzgebung und Gesetz bildet den Hintergrund der Rousseau'sehen Ablehnung der Souveränitätsteilung.
In der Literatur herrscht einige Unklarheit über diesen Punkt. Manche lesen diese Kritik als Ablehnung der Gewaltenteilung. Es ist in der Tat nicht recht klar, gegen welche Form von Teilung sich Rousseau eigentlich wendet. Es gibt zumindest drei Bedeutungen von Gewaltenteilung, die strikt auseinander gehalten werden sollten: die herrschaftsrechtlich-ständestaatliche Gewaltenteilung ä la Montesquieu; die zuständigkeitsrechtliche Zerteilung der Souveränität in einzelne Kompetenzzonen ä la Hobbes und Pufendorf; die funktionale Gewaltenteilung im Sinne der kantischen trias politica.
Montesquieu, der ein Jahr vor Hobbes' Tod geboren wurde, entwirft im 6. Kapitel des XL Buches seines Werkes De VEsprit des Lois im Rahmen einer Fortführung der antiken Lehre vom regimen mixtum ein komplexes System der Ausbalancierung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Durch eine ausgeklügelte Verteilung der Kompetenzen halten sich Volk, Adel und König gegenseitig in Schach, hemmen sich wechselseitig, sodass keiner die Übermacht erlangen kann. Montesquieu geht es darum, durch eine Verteilung der Legislativ- und Exekutivfunktionen auf die politischen Gruppen der ständischen Gesellschaft alle an der Ausübung politischer Macht zu beteiligen und an die Notwendigkeit des Interessenausgleichs und des politischen Kompromisses zu binden. Ein verschränktes System von Entscheidungs- und Vetobefugnissen schafft ein Höchstmaß an Interdependenz, die zum Ausgleich zwingt und auf den Prozess der politischen Willensbildung wie ein Filter wirkt, der nur gemeinsam getragene Entscheidungen passieren lässt. Montesquieus gewaltenteilige Grundverfassung ist gegen das nach absoluter Herrschaft strebende Königtum gerichtet. Mit ihrer ausgeklügelten Kompetenzverzahnung legt sie sich wie ein Netz über die zeitgenössische ständische Gesellschaft und erlaubt keiner Kraft, eine für die Freiheit verderbliche unkontrollierte und leviathanische Machtfülle zu erreichen.
Gegen diese Montesquieu'sche Lehre von der Gewaltenteilung kann Rousseau sich schon darum nicht richten, weil das soziologische Substrat seiner Republik - genauso wie das der leviathanischen Staatsgesellschaft Hobbes' oder der vernunftrechtlichen Republik Kants - nicht der Ständestaat Montesquieus ist, sondern eine individualistische Gesellschaft. Seine Äußerungen lassen auch nicht den geringsten Hinweis auf das Montes- quieu'sche Prinzip le pouvoir arrete le pouvoir erkennen. Seine Gewaltenteilungskritik ist Kritik an der Zerlegung der einheitlichen Souveränität in unterschiedliche Befugnisregionen und Tätigkeitsbereiche, wie sie zum Beispiel in Pufendorfs Naturrechtssystem vorgenommen wird. Aber warum soll eine Aufzählung unterschiedlicher Politikabteilungen eine verwerfliche Souveränitätsteilung implizieren? Rousseau will offenkundig nur dem Eindruck entgegentreten, dass sich die Souveränität auf die einzelnen Ressorts verteilen ließe und unterschiedliche Äußerungsformen besitzen könnte. Daher lehnt er auch die Auffassung ab, dass die Souveränität unterschiedliche Rechte umfassen könnte. Hobbes war dieser Meinung; im Leviathan unterscheidet er zwölf Rechtspositionen, die zusammen das „Wesen der Souveränität" ausmachen.62 Aber Hobbes, der wie kaum ein anderer auf die Einheit und Unteilbarkeit der Souveränität geachtet hat, hat keinesfalls geglaubt, durch diese Aufzählung der Souveränitätsrechte die Souveränität zu teilen. Rousseau geht es auch nicht um die ordnungspolitische Brisanz, die Hobbes immer mit der Souveränitätsteilung verknüpft sah. Daher findet sich bei ihm an dieser Stelle auch nicht das Argument von der Fortsetzung des Naturzustandes in einem Staat mit geteilter Souveränität, mit dem Hobbes gegen die Gewaltenteilung polemisiert.63
Rousseau geht es um die angemessene Bestimmung des Souveräns. Soil- verän ist allein der Gemeinwille; und der Gemeinwille kann sich nur in allgemeinen Gesetzen äußern. Damit ist ausschließlich die Gesetzgebung eine authentische Souveränitätsäußerung. Und das herrschaftsrechtliche Profil der Souveränität wird ausschließlich durch das Gesetzgebungsrecht bestimmt. Insofern folgt in der Tat die Unteilbarkeit der Souveränität aus ihrem Begriff. Dieser ist durch die Logik des Assoziationsvertrags so bestimmt, dass es nicht nur ein einziges Herrschaftssubjekt geben kann - wie bei Hobbes -, sondern dass dieses Herrschaftssubjekt nur der vereinigte und allgemeine Wille des Volkes sein kann. Und damit ist auch allein von Begriffs wegen festgelegt, dass die einzige angemessene Tätigkeit des Souveräns die Gesetzgebung ist. Die Konsequenz dieser Einschränkung der Rechte des Souveräns auf das Gesetzgebungsrecht ist eine Ausweitung des Tätigkeitsbereichs der Regierung. Während bei seinen staatsphilosophischen und naturrechtsjuristischen Vorgängern Souveränität und Regierung in der Regel zu einem multifunktionellen Machtkomplex verschmolzen, hält Rousseau Souveränität und Regierung strikt auseinander. Der Verantwortungsbereich der Regierung umfasst all das, was in der Republik an öffentlicher Machtausübungs- und Verwaltungstätigkeit anfällt, von der Vorlage entscheidungsreifer Gesetzesvorschläge bis zur Kriegserklärung. Hauptsächlich obliegt ihr die Rechtsdurchsetzung. Und das heißt: die situationsgerechte Ausformulierung der Gesetzesregeln, ihre Anpassung an die sich verändernde Wirklichkeit. Denn Rechtsdurchsetzung ist nicht subsumtionslogische Anwendung. Obwohl sie in ihrer Tätigkeit der Richtlinienkompetenz des Gemeinwillens unterworfen ist, ist ihre Macht, ihr Gestaltungsspielraum daher ungemein groß.
Mit dieser strikten Trennung zwischen gesetzgebender Souveränität und gesetzesdurchsetzender Regierung bereitet Rousseau Kants Lehre von der trias politica vor. Denn mit der von ihm herausgestellten Unteilbarkeit der Souveränität ist ein funktional ausdifferenzierter Rechtsverwirklichungsprozess durchaus vereinbar, wie ihn Kant in seiner Rechtsphilosophie skizziert.64 Denn natürlich müssen auch in der Rousseau'schen Republik Gesetze durchgesetzt werden; natürlich besitzt auch die Rousseau'sehe Republik ein Justizwesen. Nur ist die rechtliche Kompetenz der Exekutive, die Rousseau mit dem vorherrschenden Sprachgebrauch seiner Zeit „Regierung" nennt, ebenso wie die der Jurisdiktion derivativ, der Legislative nachgeordnet und legitimatorisch im Gemeinwillen verankert. Der Untertan begegnet in jedem dieser drei Funktionsbereiche der Rechtsverwirklichung dem alleinigen Herrschaftssubjekt des Staates, dem Allgemeinwillen. Die Legislative stellt die Gesetze auf, die Jurisdiktion entscheidet strittige Fragen nach dem Gesetz. Die Exekutive setzt das Recht durch. Sie ist die staatliche Gewalt im engeren Sinne. „Die gesetzgebende Gewalt, welche der Souverän ist, hat also eine Gewalt nötig, welche ausübt, das heißt, das Gesetz in Handlungen bringt. Diese zweite Gewalt muss so eingerichtet sein, dass sie immer das Gesetz, und zwar nur das Gesetz selbst ausübt."65 Was immer der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit im Einzelnen zugezählt werden mag, es hat seinen Zweck in der Aufrechterhaltung und Sicherung der öffentlichen Ordnung. Die Regierung ist die Kraft, mit der der Wille den politischen Körper beherrscht und bewegt, die vis coactiva, die die vis directiva der Gesetze zur Geltung bringt. Und es gehört zu den Belangen des Souveräns, darauf zu achten, dass die Exekutive keine Eigendynamik gewinnt und sich ausschließlich in den Dienst des Gemeinwillens stellt.
Unfehlbarkeit
Hobbes' Leviathan kann den Bürgern nicht Unrecht tun. Wie der unsterbliche Gott ist der durch den Vertrag geborene „sterbliche Gott" im Besitz aller Macht und aller Pflichten ledig. Wie dieser ist er auch unfehlbar.
Seine Erzeugungsbedingungen garantieren seine Unfehlbarkeit; er kann nicht Unrecht tun. „Da jeder Untertan [...] Autor aller Handlungen und Urteile des eingesetzten Souveräns ist, so folgt daraus, dass dieser durch keine seiner Handlungen einem seiner Untertanen Unrecht zufügen kann, und dass er von keinem von ihnen eines Unrechts angeklagt werden darf. Denn wer auf Grund der Autorität eines anderen eine Handlung vornimmt, tut damit dem kein Unrecht, auf Grund von dessen Autorität er handelt. Bei dieser Einsetzung des Staates ist aber jeder Einzelne Autor alles dessen, was der Souverän tut, und folglich beklagt sich, wer sich über ein Unrecht seitens seines Souveräns beklagt, über etwas, wovon er selbst Autor ist und darf deshalb niemanden anklagen als sich selbst."66 Das ist das Motto aller Verträge: volenti non fit iniuria - dem, der eingewilligt hat, kann aus dem, worin er eingewilligt hat, kein Unrecht erwachsen.
Hobbes hat die Unfehlbarkeit des Souveräns auch mit einem anderen Argument begründet: Der Souverän agiert in einem gänzlich rechtsfreien Raum. Sein Handeln ist durch keinerlei normative Vorgaben eingeengt. Seine Aufgabe ist es, durch legislatorische Rechtsbestimmung in diesen rechtsfreien Raum eine institutionelle Struktur einzuführen, durch Gesetzgebung rechtliche Verhältnisse zu schaffen. Diese staatlichen Gesetze definieren folglich, was als „recht" und „unrecht" zu gelten hat. Da aber normierende Regeln nicht ihr eigener Anwendungsfall sein können, ist aus Gründen der Logik jeder Möglichkeit staatlichen Unrechts der Weg verlegt. Zumindest kann es keine ungerechten Gesetze geben. Hobbes' gibt zwar zu, dass es gute und schlechte Herrscher gibt, doch ist die Herrschaftsqualität nicht nach rechtlichen Kriterien zu messen, sondern nur nach politisch-instrumentellen. Die Herrschaftsausübung des Souveräns ist umso besser, je wirksamer er das sich in den Vernunftvorschriften oder in den Regeln der natürlichen Gerechtigkeit manifestierende Programm zur Überwindung des Naturzustands betreibt, je mehr er dem Wohl des Volkes dient und die Menschen durch geeignete Gesetze lenkt, damit „sie sich durch ihre heftigen Begierden, Voreiligkeiten und Unbesonnenheiten nicht selbst verletzen"67.
Dass der Souverän den Bürgern nicht Unrecht tun könne: Dieser nach Kant „so im Allgemeinen erschreckliche Satz"68 trifft auch auf Rousseau zu. Auch die volonte generale ist unfehlbar; sie kann schlechterdings nicht irren. Ihre Unfehlbarkeit ist die Folge ihres Konstruktionsprinzips, ihrer Entstehungsbedingungen. Es ist nicht so, dass sich Rousseau keine Herrschaftsirrtümer vorstellen könnte. Die Rede von illegitimer Herrschaft, von ungerechten Gesetzen, von freiheitsverletzender und gemeinwohlschädlicher Machtausübung ist für ihn durchaus verständlich. Darin unterscheidet er sich von Hobbes, für den der staatliche Wille das Definitionsmonopol in Gerechtigkeitsangelegenheiten hat und durch seine faktischen Äußerungen die Bedeutungen der Gerechtigkeitsprädikate festlegt. Der Allgemeinwille wird durch Rousseau aber so konstruiert, dass er unfehlbar sein muss. Je nachdem, ob wir den Gemeinwillen prozeduralistisch oder substanzialistisch auslegen, ist die Unfehlbarkeit das Resultat seiner Genese oder seines natürlichen Inhalts. Wenn alle an seiner Bildung gleichberechtigt beteiligt sind, wenn er nur in einmütigen Entscheidungen in Erscheinung tritt, dann müssen seine Äußerungen notwendigerweise auf das Gemeinwohl zielen, dann muss die in seinen Gesetzen formulierte Freiheitseinschränkung notwendigerweise von jedem für jeden und also auch für sich selbst gewollt sein, dann kann sich in ihm keine Fremdbestimmung bemerkbar machen, dann muss sich in seinen Gesetzen die Autonomie jedes Bürgers realisieren.
Daher kann Rousseau auch mit gutem Grund den Gesetzeszwang als I Zwang zur Freiheit interpretieren. „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam 1 verweigert, muss durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als dass man ihn dazu zwingt, frei zu sein" (1.7; 364; '
77). Sätze wie diese haben manchen Interpreten veranlasst, in Rousseau einen Ahnherrn des Totalitarismus zu sehen: von Hegel zu Hitler, von Rousseau zu Stalin.69 Und es ist nicht zu leugnen, dass dieser Satz, nimmt man ihn isoliert, an Brechts Maßnahme und den perversen Paternalismus totalitärer Schauprozesse erinnert. Der Dissident wird so lange traktiert, bis er sich einsichtsvoll zum Komplizen seiner eigenen Bestrafung macht, die Strafe als unerlässliches Reinigungsmittel, als erforderliches Erziehungsmittel begrüßt und dem Henker dankt. Stellt man den Satz in seinen staatsrechtlichen und legitimationstheoretischen Kontext zurück, dann zeigt sich, dass er nur die These von der Unfehlbarkeit der volonte generale expliziert. Der Zwang gegenüber dem rechtswidrigen Eigenwillen des Gesetzesbrechers ist nur die äußerlich gewordene Überformung der eigensinnigen Partikularität durch das allgemeine, gerechte und von der Allgemeinheit gewollte Recht. In der zwangsbewirkten strategischen Anpassung wiederholt sich äußerlich der Koordinationserfolg der einsichtsbegründeten Verallgemeinerung vollständig-demokratischer Willensbildung. Und da das Gesetz selbst Ausdruck der Freiheit ist, ist seine zwangsbewehrte Durchsetzung Dienst an der Freiheit. Freilich nicht nur in dem harmlosen Sinn, dass ohne Rechtssicherheit Anarchie entstünde, dass Rechtsdurchsetzung allein den freiheitssichernden Effekt der Institutionen sicherstellen kann. Sondern durchaus auch und hauptsächlich in dem Sinne, dass dem gezwungenen, bestraften Gesetzesbrecher im Gesetz sein eigener verallgemeinerter und darum freier Wille begegnet.
Freilich ist für Rousseau eine solche Rückholaktion in den Allgemeinwillen nur bei Gesetzesübertretungen geringeren Ausmaßes möglich. Der Verbrecher ist nicht re-sozialisierbar. Seine Tat - das ist die Kehrseite des emphatischen Gemeinschaftsbegriffs seines Republikideals - gilt Rousseau als Kriegserklärung an das Gemeinwesen, das ihn sofort aus seinen Reihen ausstößt, ihn in die pure Natürlichkeit zurückversetzt und wie ein Tier behandelt. Durch seine verwerfliche Tat verwirkt der Verbrecher den Anspruch auf Zivilisationsschutz und den Rang eines Bürgers und Menschen. Er annulliert für sich den Gesellschaftsvertrag, und das Gemeinwesen tritt ihm gegenüber in den Naturzustand zurück. Das Strafrecht gewinnt dadurch den Charakter eines Ein-Mann-Kriegsrechts.70
In der volonte generale kommt der allgemeine Rechtswille selbst zur Herrschaft. Daher bedürfen die Bürger keines grundrechtlichen Schutzes vor staatlichen Übergriffen.71 Rechtsstaatlichkeit ist bei Rousseau nicht in einer Beachtung vorstaatlicher Individualrechte verankert, sondern im Demokratieprinzip begründet.72 Die Konstitutionsbedingungen des Gemeinwillens bewirken dessen Gerechtigkeit. Damit erweist sich Rousseau als Begründer eines dezidiert demokratischen Kontraktualismus; Rousseau ist der erste Vertragstheoretiker, der das kontraktualistische Argument für die Begründung der These von der Demokratieabhängigkeit der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hat. Rechtsstaatlichkeit wird in seiner Theorie nicht durch Verfassung und Grundrechtsschutz gesichert, sondern durch das uneingeschränkt demokratische Verfahren der politischen Willensbildung. Das souveräne Volk der Rousseau'schen Republik ist darum die radikalste Ausprägung absoluter Souveränität in der gesamten neuzeitlichen politischen Philosophie. Während die Pufendorfianer, während Locke und Kant allesamt die Herrschaftsausübung des Souveräns an unverfügbare normative Vorgaben binden, kennt Rousseau keinerlei naturrechtliche oder vernunftrechtliche Herrschaftsgrenzen. Sein souveränitätstheoretischer Voluntarismus überbietet sogar das Hobbes'sche Vorbild an Radikalität, denn selbst Hobbes kennt natürliche Gesetze, die einen berechtigten Gültigkeitsanspruch stellen und als bürgerliche Gesetze von dem Souverän in Geltung zu setzen sind.73 Diejenigen, die diese Modernität Rousseaus nicht wahrhaben wollen und ihn in die Phalanx der Naturrechtsdenker einreihen wollen74, übersehen, dass dieser Verzicht auf Vernunftrechtsgesetz, Naturrechtsprinzipien und individuelle Grundrechte nur konsequent ist. Der Gemeinwille kann nicht in eine naturrechtliche Leges-Hierarchie eingebunden werden. Genauso wenig können die Bürger seine Tätigkeit mit individuellen Grundrechten einschränken. Nach dem liberalen Grundrechtsverständnis sind die individuellen Grundrechte staatsgerichtete Abwehr- und drittgerichtete Ausgrenzungsrechte. Ihnen liegt die liberale Vorstellung einer Freiheitssicherung durch Parzellierung und Umzäunung zugrunde. Aus dem Blickwinkel liberaler Grundrechtstheorie steht der Staat grundsätzlich im Verdacht, bei der ihm obliegenden Ordnungssicherung die individuelle Freiheit zur Disposition zu stellen. Der Staat ist das Instrument, das man zur Freiheitssicherung braucht; er ist aber auch der machtgierige Gegenspieler, der durch Übergriffsverbote in Schach gehalten werden muss. Wenn jedoch die Rechtsbestimmungen der Freiheit und Gleichheit bei der Gründung und Einrichtung des Staates eine konstitutive Rolle spielen, wenn die Herrschaft so organisiert ist, dass sie aufgrund ihrer staatsrechtlichen Genese und Statur notwendig mit der gleichen Freiheit von jedermann in Übereinstimmung steht, wenn legitime Herrschaft nur direkt-demokratische Herrschaft ist, dann ist die Institution individueller Grundrechte obsolet. Mit diesen richten sich die Bürger als Menschen ja gegen sich selbst als Mitgesetzgeber und Mitautoren aller Gesetze. Es ist in der Tat widersinnig, Bürger mit staatsgerichteten Abwehrrechten zu bewaffnen, die ein aus der staatsrechtlichen Struktur der Souveränität unmittelbar ableitbares unveräußerliches Recht auf gleichberechtigte Beteiligung an der Gesetzgebung, auf gleichteilige Mitautorschaft bei allen Gesetzen besitzen.
Damit das uneingeschränkt demokratische Verfahren der politischen Willensbildung freilich zu gerechten Ergebnissen führen kann, müssen auch bei Rousseau bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Während die liberale Rechtsstaatsidee die faktischen politischen Willensbildungen an rechtliche Auflagen bindet, die ihrer Verfügung entzogen sind, setzt die demokratische Rechtsstaatskonzeption Rousseaus auf rechtsexterne Faktoren, auf Gemeinsinn zum einen und große sozio-ökonomische Homogenität zum anderen. Eine eingelebte Gemeinwohlorientierung und eine annähernd egalitäre Verteilung gesellschaftlicher Güter sind die Hebamme der volonte generale', sie sollen die modernitätstypischen Individualisie- rungs- und Pluralisierungstendenzen verhindern und die für die Rous- seau'sche Republik letalen Dissensrisiken abbauen.
„Legibus absolutus"
Das Rousseau'sche Volk tritt die Nachfolge des princeps legibus absolutus der staatsphilosophischen Tradition an. Wie dieser übt es eine von allen normativen Vorgaben unbehelligte Herrschaft aus. Es kennt keine externen Herrschaftsgrenzen. Es gibt im Rahmen der Rousseau'schen Konzeption keine individuellen Rechte, die herrschaftslimitierend wirken könnten; es gibt auch kein Naturrecht, dem es sich beugen müsste. Es ist der alleinige Herr aller Pflichten und Rechte, die das Zusammenleben der Bürger strukturieren und die staatsrechtlichen Grundbeziehungen zwischen dem Bürgersouverän und dem gesetzesunterworfenen Untertanen konkretisieren. Jedes Gesetz, das es sich gibt, steht grundsätzlich zur Disposition. „Es widerspricht der Natur des politischen Körpers, dass sich der Souverän ein Gesetz auferlegt, das er nicht übertreten könnte" (1.7; 362; 76). Jede gesetzliche Selbstbindung hat nur so lange Geltung, wie der Gesetzgeber es will. Herr der Gesetze zu sein bedeutet auch: Herr über die Gesetze zu sein. Der allmächtige Gesetzgeber ist auch der allmächtige Gesetzesbrecher. Der Bruch der eigenen Gesetze signalisiert nur deren Geltungsende.
„Es gehört zum Wesen der souveränen Gewalt, dass sie nicht eingeschränkt werden kann: sie kann alles, oder sie ist nichts (eile peut tout ou eile n'est rien)."75 Es ist unverkennbar, dass sich die Souveränität des kontraktualistischen Staatsrechts ihr Kompetenzprofil vom voluntaristischen Gott der Hochscholastik entlehnt hat. Allmacht ist eine notwendige Wesensbestimmung. Und diese Allmacht impliziert auch die absolute Verfügungsgewalt über die Bindewirkung früherer Entscheidungen. Rousseau wiederholt und verstärkt hier nur ein staatsphilosophisches Standardargument. Der Hobbes'sche Staat wurde ins Leben gerufen wurde, weil die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit friedlichen Zusammenlebens nicht ausreicht, um den Naturzustand zu befrieden, ja selbst zwischenmenschliche Friedensverträge keine Wirksamkeit entfalten können, weil niemand sich sicher ist, dass sich die Partner an die selbstauferlegten vertraglichen Verpflichtungen halten. Der Staat kompensiert also die Wirksamkeitsmängel vertraglicher Selbstverpflichtung. Der externe Zwang ist effektiver als die Selbstbindung. Angesichts dieser Situation wäre es aber sinnwidrig, von dem Souverän nun seinerseits zu verlangen, seine Herrschaft durch Selbstbindung zu limitieren, sein eigenes zukünftiges Handeln durch eigenen Entschluss einzuschränken. Allein sein aktueller Wille ist der Ursprung von Recht und Pflicht. Die Uneinschränkbarkeit des Herrschaftswillens impliziert auch die Unverbindlichkeit früherer Entscheidungen: „es ist absurd, dass sich der Wille Ketten für die Zukunft auferlegt" (II.1; 368 f.; 85).
Dieses Argument erfährt im Rahmen der Rousseau'schen Konzeption noch eine Verstärkung. Denn die Volkssouveränität verdankt sich der legitimationstheoretischen Bedingung, eine mit der Freiheitsqualität und dem Selbstbestimmungsrecht von jedermann harmonierende Vorstellung von politischer Herrschaft zu entwickeln. Und nur das frei über sich selbst herrschende Volk erfüllt diese Bedingung. Frei über sich selbst zu herrschen bedeutet aber auch, nie unter die Herrschaft seiner eigenen Handlungsergebnisse, Entschlüsse zu geraten. Freiheit und Autonomie verlangen die Unantastbarkeit der Priorität des Subjekts. Nicht nur von der Willkür anderer ist der Wille des freien Menschen unabhängig; er ist auch unabhängig von den Ergebnissen und Resultaten seines eigenen Wollens. Der freie Wille muss auch Herr seiner Verpflichtungen bleiben. Freiheit und Selbstbindung schließen einander aus. Gestrige Entscheidungen sind heute bedeutungslos. Freiheit existiert nur im Modus der Gegenwärtigkeit. „Der Gemeinwille, der den Staat lenken muss, ist nicht der Wille der Vergangenheit, sondern der gegenwärtige Wille. Der wahre Charakter der Souveränität besteht darin, dass zwischen der Richtung des Gemeinwillens und der Verwendung der politischen Macht immer eine Übereinstimmung in Zeit, Ort und Wirkung besteht."76 Rousseaus Freiheitsrepublik erweist
sich als fortgesetzte Selbstschöpfung. Sie ist darum von beträchtlicher Fragilität. Das Institutionelle kann in ihr die ihm eigene soziale Schwerkraft nicht entwickeln. Die stete Präsenz des Souveräns ist vonnöten; denn die Republik lebt nur in seinem Willen. Die Letztinstanzlichkeit des Souveräns ist bei Rousseau also nicht nur in stabilitätspolitischer Notwendigkeit begründet, sie ist auch aus freiheitstheoretischen Gründen unerlässlich.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Rousseau - wie übrigens alle anderen Vertragstheoretiker auch - kein Konstitutionalist ist. Wie sollte sich der Souverän durch eine Verfassungsordnung fesseln können, wenn schon das einfache selbstgegebene Gesetz ihn nur so lange bindet, wie er es will? Es gibt keine seinem Zugriff entzogenen Grundgesetze (loix fondamentales; loix politiques).77 Rousseau hat ihm sogar den Gesellschaftsvertrag selbst zur Disposition gestellt. Das ist überraschend. Denn Rousseau spricht ausdrücklich von der „Unverletztlichkeit und Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags (saintete du Contrat)". Im selben Atemzug erklärt er den Gesellschaftsvertrag aber auch für unverbindlich, da der Gesellschaftsvertrag, wie er infolge einer irrtümlichen kontraktuellen Interpretation seiner internen staatsrechtlichen Verpflichtungsstruktur meint78, ein Vertrag sei, den das Volk aufgrund der nummerischen Identität der Vertragsschließenden und der gesetzgebenden Versammlung mit sich selbst geschlossen habe, mit sich selbst geschlossene Verträge jedoch nicht bindend sein könnten (1.7; 363; 76). Andererseits aber erhebt er die Unantastbarkeit des Gesellschaftsvertrags auch wieder in den Rang eines zivilreligiösen Glaubensartikels (IV8; 468; 207). Wie ist diese merkwürdige Marginalisierung des Gesellschaftsvertrags durch sich selbst zu verstehen? Wäre Rousseau ein Liberaler, dann müsste man sich nicht wundern. Denn für den Liberalen gehört die Selbstschädigung durchaus zu den freiheitsrechtlich geschützten Verwendungsweisen der Freiheit. Man verwirkt sein Freiheitsrecht nicht, wenn man schlechten Gebrauch von ihm macht. Und so schreibt dann auch Rousseau in 11.12: „Wenn es dem Volk gefällt, sich selbst zu schaden, wer hat dann das Recht, es daran zu hindern?" (393; 115). Aber was heißt hier: sich selbst zu schaden?
Rousseaus kritische Durchsicht der wichtigsten machtpolitischen und vertragstheoretischen Legitimationstheorien ist zum Ergebnis gekommen, dass ausschließlich der von ihm im Contrat social entworfene Gesellschaftsvertrag einen Weg zur Vergesellschaftung und Herrschaftserrichtung weist, der mit der menschlichen Wesensbestimmung der Freiheit in Übereinstimmung steht. Man kann doch nun nicht auf der einen Seite Pufendorf und Hobbes vorwerfen, sie hätten einen rechtswidrigen Selbstversklavungsvertrag entwickelt, und auf der anderen Seite dem aus dem einzig legitimen Gesellschaftsvertrag entstandenen Volk in Wahrnehmung der ihm als Souverän zukommenden absoluten Freiheit das Recht einräumen, seine eigene staatsrechtliche Grundlage zur Disposition zu stellen und den Gesellschaftsvertrag für null und nichtig zu erklären. Rousseau hat leider nichts darüber gesagt, was denn unter einem Bruch des Gesellschaftsvertrags genauer zu verstehen ist. Es scheint mindestens zwei Möglichkeiten zu geben, den Gesellschaftsvertrag zu brechen. Die eine Möglichkeit führt zu alternativen Herrschaftsformen; ihr drastischster Ausdruck wäre der Entschluss des Volkes, sich einem fremden Willen zu unterwerfen, sich selbst zu versklaven. Die andere Möglichkeit gipfelt in der politischen Selbstauslöschung, in der kollektiven Rückkehr in den Naturzustand.
Mir scheint, dass man der Rousseau'schen Äußerung von der Unverbindlichkeit des Gesellschaftsvertrags nur dann Sinn abgewinnen kann, wenn man die zweite Möglichkeit zugrunde legt und den Bruch des Gesellschaftsvertrags als staatspolitische Selbstannihilation liest. Man darf ja nicht vergessen, dass die Rousseau'sche Republik genauso wie der Hobbes'sche Leviathan ausschließlich konditionalen Charakter besitzt. Aus dem Naturzustand herauszutreten und sich, wie die Hobbes'schen Naturzustandsbewohner, unter dem Dach eines mächtigen Staates zu vergesellschaften oder sich politisch zu organisieren, wie die Rousseau'schen Naturzustandsbewohner, ist klug, ratsam, vorteilhaft; es ist aber keine Pflicht, nicht rechtlich odet moralisch notwendig. Folglich ist die Preisgabe des staatlichen Schutzes, die Aufgabe der politischen Lebensform sicherlich unklug, irrational, von großem Nachteil, aber keinesfalls eine Pflichtverletzung, keinesfalls ein Rechtsbruch. Zwischen der Republik und dem Naturzustand steht kein moralisches oder rechtliches Hindernis, das der freie Wille nicht überwinden könnte. Der Souverän ist ein konventionelles Produkt, von Natur aus ist er nicht. Auch wenn er in allem dem Einzelmenschen nachgebildet ist, wenn sich in der Bürgerherrschaft die Autonomiebestimmung des Menschen wiederholt, ist er doch nicht mit dem Einzelmenschen gleichursprünglich. Dieser verliert seine ihm wesenhaft zukommende Eigenschaft des Menschseins, wenn er auf seine Freiheit verzichtet; er hört auf, Mensch zu sein. Und er darf es als Mensch nicht wollen, sich in die Botmäßigkeit eines anderen zu begeben und ein untermenschliches Leben zu führen. Der Souverän verliert ebenfalls durch Selbstauflösung seine Existenz, aber niemand kann ihn hindern, seine Nicht-Existenz zu wollen.
Die Sache sieht jedoch anders aus, wenn die Souveränitätsmitglieder nicht in den Naturzustand, in den Zustand natürlicher Freiheit zurückkehren, sondern in einem staatlichen Zustand verbleiben, jedoch auf Selbstherrschaft verzichten und sich fremder Herrschaft unterstellen. Sie würden dann ja genau einen Vertrag von der Art schließen, die Rousseau vehement wegen ihres freiheitszerstörenden Charakters verworfen hat. Sollte also

das souveräne Volk den Gesellschaftsvertrag auch in dem Sinne brechen dürfen, dass es die Bürden der politischen Selbstherrschaft abwirft und das politische Freiheitsrecht gegen ein Linsengericht der politischen Betreuung eintauscht, dann hätte sich der souveränitätstheoretische Voluntarismus Rousseaus gegen seine eigenen freiheitsrechtlichen Grundlagen versündigt. Denn ob nun der Einzelne unmittelbar oder mittelbar, als Mitglied des Souveräns, einen Zuschnitt herbeiführt, in dem ihm die ihn als Menschen ausmachende Eigenschaft der Freiheit abhanden kommt, ist gleichgültig. Fremdherrschaft darf nicht gewollt werden: Dieser Satz besitzt für Rousseau analytische Wahrheit.
Wenn die Verfügung über den Gesellschaftsvertrag durch das souveräne Volk in Rousseaus Augen auch das Recht beinhalten sollte, seine eigene Unfreiheit zu beschließen, dann hätte er sich vom souveränitätstheoretischen Voluntarismus in einen offenen Widerspruch hineinziehen lassen. Denn es ist unverkennbar, dass sich die Rede von der Unverbindlichkeit des Gesellschaftsvertrags dem Bestreben verdankt, dem souveränitätstheoretischen Voluntarismus stärksten Ausdruck zu verleihen. Der Souveränität eignet Maßlosigkeit; sie ist sich in allem selbst das Maß. Sie verfügt sogar über ihre eigene staatsrechtliche Grundlage. Dieser disponierende Zugriff auf die eigenen Voraussetzungen korrespondiert genau dem oben erwähnten Präsentismus, der der Republik nur eine Existenz im Modus kontinuierlicher Selbsterschaffung gestattet.
5. AJlgemeinheitsbegriffe
Der einzig legitime Souverän ist die vereinigte Bürgerschaft, und jeder Bürger ist Mitgesetzgeber. Daraus folgt aber nicht, dass nur dann ein Gesetz in Geltung gesetzt werden kann, wenn es einstimmig beschlossen wird. Nur der Gesellschaftsvertrag verlangt - per definitionem - Einmütigkeit. Wer ihm nicht zugestimmt hat, ist kein Bürger, steht außerhalb der Gemeinschaft. Alle anderen Gesetze bedürfen nur der gleichberechtigten Mitwirkung aller Bürger bei ihrem Zustandekommen, nicht jedoch der einmütigen Annahme durch alle Bürger.
Der Allgemeinwille ist ein normatives Prinzip, keine empirische Bestimmung. Und die ihm zugeordnete Gerechtigkeitskonzeption ist die der zuständigen Sozialformation eingeschriebene normative Wohlordnung. Diese ist nicht aus den empirischen Manifestationen des Allgemeinen zu entnehmen. Sondern es gilt umgekehrt, dass die empirischen Manifestationen des Allgemeinen nur dann Ausdruck der Gerechtigkeit sind, wenn sie Ausdruck des Allgemeinwillens sind. Freilich ist dieser Hinweis auf den Unterschied zwischen einer empirischen Ebene und einer normativen Ebene noch kein Argument gegen die prozeduralistische Auslegung des Allgemeinwillens. Schließlich unterscheiden auch Diskursethik und Kontraktualismus zwischen den Ergebnissen empirischer Übereinkünfte und idealer Übereinkünfte. Aber Rousseau operiert nicht mit der Vollkommenheitsdifferenz zwischen zwei Verfahrensgestalten, um das normative Gefälle zwischen Allgemeinwillen und empirischer Demokratie zum Ausdruck zu bringen. Rousseaus Kriterium ist die allen Verfahren vorgängige Gemeinwohlorientierung, nicht etwa, wie manche meinen, ein ideales Gesetzgebungsverfahren, das den Bestimmungen des Vernunftrechts folgt: Dienen die Beschlüsse einer empirischen Volksversammlung dem Gemeinwohl, dann sind sie Ausdruck des Allgemeinwillens. Und um die Chancen zu erhöhen, gemeinwohldienliche Beschlüsse zu fassen, ist es notwendig, die Menschen durch Tugenderziehung und eine geeignete sozio-ökonomische Formierung ihrer Lebensumstände zu Bürgern und Patrioten zu machen. Und dieses Verbürgerlichungsprogramm hat nichts mit dem Ensemble von kontrafaktischen Bedingungen zu tun, die für den diskursethischen Proze- duralisten einen herrschaftsfreien Diskurs garantieren.
Die Normativität des Gemeinwillens hat aber auch nichts mit einer vernunftrechtlichen Prinzipienebene zu tun, wie manche Interpreten vermuten. Sicherlich hat Kant den Contrat social als Ideal des Staatsrechts gefeiert und den Rousseau'schen Gesellschaftsvertrag zum Vorbild seines contractus originarius genommen. Kant hat auch die Normativität des Gemeinwillens übernommen und den Vertrag als Gerechtigkeitsnorm verwandt: Mit seiner Hilfe haben jeder Herrscher und jeder Untertan ein dem kategorischen Imperativ verwandtes Kriterium an der Hand, um die Gerechtigkeitsqualität des positiven Rechts zu überprüfen.79 Damit wird die vernunftrechtliche Vertragskonstruktion zur Legitimationsnorm empirischer Herrschaftsausübung. Verständlicherweise entledigen sich manche Interpreten des sperrigen, modernitätsfeindlichen Republikanismus der Rousseau'schen Konzeption, indem sie den Rousseauismus Kants bereits in Rousseau hineinlesen. Dann finden sie einen Kantianismus Rousseaus, der ihnen ein geglättetes Rousseau-Bild schenkt.
Wohin man im Contrat social auch immer seinen Blick richtet, immer stößt man auf eine Liberalismus-Republikanismus-Spannung. Sie ist das Leitmotiv des Rousseau'schen Denkens; sie färbt alle Konzepte und Lehrstücke ein und gibt ihnen eine doppelte Lesart. Auch die volonte generale wird von dieser Doppeldeutigkeit nicht verschont. Eine republikanischethische Lesart steht unverbunden neben einer liberal-staatsrechtlichen Lesart. Betrachten wir ihre Herkunft aus der kontraktualistischen Legitimationstheorie, dann ist sie der allein rechtmäßige Souverän. Denn nur die Herrschaft des Allgemeinwillens erlaubt eine mit der Freiheit von jedermann in Übereinstimmung stehende Gesetzesherrschaft. Aber diese Lesart ist nicht die einzige; wäre sie die einzige, dann könnte es keinen Unterschied zwischen volonte generale und volonte de tous geben. Wäre sie die einzige, müsste Rousseau sich keinerlei Gedanken über das Problem der Erziehung der Bürger und der Sicherung kultureller Homogenität machen. Der Forderung nach einer legitimen Herrschaft würde durch die Etablierung einer direkten Demokratie entsprochen werden können. Aber die Dimension der staatsrechtlichen Legitimität erschöpft eben nicht die normative Bedeutung der volonte generale, da zwischen einer legitimen Herrschaftsorganisation und der Qualität ihrer Gesetzgebungsleistung keinerlei notwendige Beziehung besteht. Daher kann die legitimationstheoretische Vertragsprozedur nicht als metaethisches Vorbild für einen kognitiven Pro- zeduralismus verwandt werden. Die Doppeldeutigkeit des Rousseau'schen Gemeinwillens würde durch seine solche prozeduralistische Halbierung nicht angemessen erfasst.
Der Kontraktualismus ist eine moderne Rechtfertigungstheorie, die den Objektivismus durch ein Verfahren ersetzt, einen Voluntarismus an die Stelle des Intellektualismus setzt. Das, was Herrschaft legitim macht, was gerecht ist, wird nicht mittels naturrechtlicher Prinzipien erkannt, nicht unter Zuhilfenahme von Naturzwecken und Seinsbestimmungen ermittelt. Über die legitime Herrschaft und gerechte Gesetze entscheidet in der Moderne allein die Zustimmung der Betroffenen. Freilich nicht die rhapsodisch aufgegriffene, demoskopisch ermittelte Zustimmung, sondern die vernünftige, unter selbst einsichtigen und normativ ausgezeichneten Randbedingungen erfolgte Zustimmung von rationalen Individuen. In den Mittelpunkt der Rechtfertigungstheorie rücken damit zustimmungsverbürgende, konsensgenerierende Verfahren. Auch der Rousseau'sche Kontraktualismus ist diesem metaethischen Prinzip des Prozeduralismus verpflichtet. Insofern der einzig legitime Souverän der vereinigte Wille aller ist, insofern sich die Legitimität des Souveräns in seinem gerechten Willen zeigt, ist die Gerechtigkeit funktional abhängig von einem Verfahren der Einheitsstiftung und Gemeinschaftsbildung. Wir haben aber gesehen, dass sich im Rahmen der Rousseau'schen Gesellschaftsvertragskonzeption die Rechts- begrifflichkeit verändert; ihre Begriffsformen werden mit dem neuzeitfremden, modernitätsfeindlichen Geist eines sittlichen Republikanismus angefüllt. Diese tief greifende Modifikation betrifft auch die Bedeutung des Prozeduralismus. Nichts könnte irreführender sein, als die Willensbildung der volonte generale nach dem Muster universalistischer Verfahren zu verstehen. Nicht die demokratische Qualität der Verfahren bringt die volonte generale zur Sprache, sondern allein die Tugend der Bürger. Oder anders formuliert: Damit das demokratische Verfahren zu gemeinwohldienlichen Gesetzen führt, müssen tugendhafte Bürger vorausgesetzt werden. Nur dann also kann das demokratische Verfahren den Allgemeinwillen zur Darstellung bringen, wenn sehr weitreichende und gänzlich verfahrensexterne, selbst durch keinerlei Verfahren sicherzustellende Voraussset-
zungen in den abstimmenden Subjekten vorliegen.
Rousseaus Republikanismus ist nicht Ausdruck der politischen Moderne. Er stellt das Gute vor das Recht; und er stellt Tugend und Gemeinwohl vor das Verfahren. Damit verstellt er genau die beiden Wege, die die Moderne beschreitet, um legitime Herrschaftsausübung zu erreichen. Da ist einmal der liberale Weg, der politische Gerechtigkeit über die Respektie-
> rung der individuellen Grundrechte erreichen will. Da ist zum anderen der ' demokratische Weg, der das, was politisch richtig ist, über die Einbeziehung
' möglichst vieler in die Willensbildung ermitteln will. Es ist charakteristisch für die politischen Organisationen der Gegenwart, dass sie beide Wege
miteinander kombinieren; dass sie eine demokratisch organisierte Herr-
' Schaftsausübung in einen rechtsstaatlichen und verfassungsstaatlichen Rahmen stellen, dessen politische Unantastbarkeit von einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit überwacht wird.
Die ethisch-juridische Doppeldeutigkeit des Rousseau'schen Kontraktualismus prägt auch sein zentrales Konzept der volonte generale. Die Radikalität des souveränitätstheoretischen Voluntarismus wird immer nur
dann deutlich sichtbar, wenn man seine sittliche Einbettung vernachlässigt. Sie äußert sich in einem Radikalismus des Formalen, der sofort in einen Konservatismus des Inhaltlichen umschlägt, wenn die volonte generale in ihrer gemeinwohldienlichen Arbeit betrachtet wird. Mit dem Gemeinwohlkonzept dringt eine substanzielle Theorie des Guten in das radikal voluntaristische Staatsrecht ein. Eben noch mit moderner absoluter Souveränität begabt, vergisst die volonte generale ihre normativ-staatliche Maßlosigkeit und findet sich als bürgerethische Tugendherrscherin wieder. Bedauerlicherweise sind Rousseaus Auskünfte über sein zentrales Konzept äußerst undeutlich. Sobald seine Beschreibung der volonte generale nicht mehr den Rückhalt des souveränitätstheoretischen Schemas hat, sobald es nicht mehr um die vertrauten Eigenschaften der Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit und Unfehlbarkeit geht, sondern um die politische Genese der volonte generale und um die Epistemologie des Gemeinwohls, verschwimmen die Konturen. Um das sich bei jedem Konzept der politischen Philosophie Rousseaus, bei jeder Wendung seiner Lehre neu aufbauende rechtlich-ethische Spannungsfeld weiter zu durchleuchten, soll im Folgenden der Allgemeinheitsbegriff näher betrachtet werden, der den Konzepten des Gemeinwillens und des Gemeinwohls zugrunde liegt.
In der politischen Philosophie lassen sich drei Allgemeinheitskonzepte unterscheiden. Da ist zuerst die Interessenallgemeinheit des generalisierten Egoismus; sie basiert auf den transzendentalen Interessen der Individuen, die in Grenzsituationen - wie der Naturzustand eine ist - auffällig werden und nur durch kollektive Anstrengungen, durch institutionelle Ordnungen befriedigt werden können. Da ist zum anderen die kompakte Gemeinschaftsallgemeinheit, die in den geteilten Selbstinterpretationen und Wertüberzeugungen einer partikularen Gruppe wurzelt und folglich anders als die Interessenallgemeinheit des generalisierten Egoismus entschieden antiuniversalistisch und exklusiv ist. Und da ist drittens die kommunikative Allgemeinheit, die wie die Allgemeinheit der transzendentalen Interessen universalistisch ausgerichtet ist, aber anders als diese nicht von gegebenen Interessen ausgeht, sondern auf die argumentative Ermittlung vorläufig konsensfähiger Interessen, Gründe und Projekte zielt.
Im ersten Fall haben wir es mit der formal-juridischen Allgemeinheit des Liberalismus zu tun, die inhaltlich genau dem überlappenden Konsens von Rationalegoisten entspricht. Es ist die Allgemeinheit, die in den Verträgen des Kontraktualismus zum Ausdruck kommt; sie umfasst den ordnungspolitischen Hauptnenner, auf den sich die dem Stamm des homo oeconomicus zugehörigen Naturzustandsbewohner einigen können. Diese Allgemeinheit manifestiert sich im status civilis in Gestalt von Rahmenordnungen, die den Individuen gleich große Parzellen für die individuelle und eigenverantwortliche Lebensgestaltung zuweisen. Allgemeinheit ist hier darum weitgehend Verträglichkeit differenter Privatheit. Im zweiten Fall können wir von der partikulären Ethos-Allgemeinheit des Republika- nismus sprechen; diese Allgemeinheit ist eine Seinsallgemeinheit, sie gründet im sittlichen Gleichsein, in der das ganze Leben durchziehenden Gruppenzugehörigkeit. Sie ist sprachlos, denn was richtig ist, was zu tun ist, weiß man. Hier geht es nicht darum, Argumente auszutauschen, sondern nur darum, sich einander zu versichern, welche Überzeugungen man seit je geteilt hat. Das dritte Allgemeinheitsmodell können wir als kommunika- tionsethisch-deliberative Allgemeinheitsvorstellung bezeichnen. In der Rousseau'schen Vertragsrepublik ist das Konzept der sittlichen Allgemeinheit vorherrschend.
Das Vergesellschaftungsmodell des kontraktualistischen Standardvertrags bietet eine überzeugende Veranschaulichung der Verfassung des rechtlich geordneten Egoismus; es entspricht gleichermaßen den legitima- torischen Standards und den motivationalen Ressourcen einer individualistischen Gesellschaft. Diese konzeptuelle Tauglichkeit hängt damit zusammen, dass die Reproduktion der Ordnung der individualistischen Gesellschaft externalistisch organisiert ist. Das Allgemeine wird nicht als Gegenstand einer handlungs-, verhaltens- und charakterprägenden Sorge betrachtet. Zwar ist es intendiert, seine Etablierung und Reproduktion wird nicht der unsichtbaren Hand eines freien Marktes überlassen. Die Naturzustandstheorie hat in den modernen kontraktualistischen Philosophien übereinstimmend die Aufgabe, das Koordinationsmodell des freien Marktes als Fiktion zu entlarven und an seine Stelle die Etablierung eines kollektiven Handelns zu setzen, das auf die intentionale Einführung des kollektiven Gutes Sicherheit und Rechtssicherheit gerichtet ist. Der Kon- traktualismus ist die sichtbare Hand. Im Vertrag wird die ordnende Hand sichtbar, er ist die ordnende, intentional das Allgemeine sichernde Hand. Die Voraussetzung dieser ganzen Argumentation ist aber - und nur darum kann der Vertrag als Vergesellschaftungsmodell innerhalb individualistischer Ordnungen überzeugen -, dass die Menschen sich nicht ändern müssen, dass sie die rational kalkulierenden Egoisten bleiben, die sie vorher im Naturzustand gewesen sind. Oder anders formuliert: Dann ist der Vertrag ein geeignetes Mittel der Theorie, Vergesellschaftungsprozesse paradigmatisch abzubilden, wenn die Theorie mit der sparsamen Motivationsausstattung der reduktionistischen Anthropologie auskommt; wenn sie eine extemalistische Integrationstheorie entwickelt, die auf strategische Anpassung des Egoisten an die Ordnung setzt.
Die Bürger gewinnen durch die Herrschaft des vertraglich konstituierten und zwangsbewehrten Willens der Gemeinschaft zugleich wirkliche rechtliche und politische Freiheit; rechtliche Freiheit, weil eine gesetzliche Rechtsordnung etabliert wird, die gerecht ist und durch eine allgemeine Beschränkung individueller Willkür allen gleiche Freiheitsermöglichungsbedingungen bereitstellt; politische Freiheit, weil die Herrschaft des gesetzgebenden allgemeinen Willens von den Individuen nicht als Fremdbestimmung erlebt wird, sondern von ihnen getragen und mitgestaltet wird. Die rechtliche Freiheit innerhalb der Rousseau'schen Republik gleicht strukturell der Freiheit, die den Individuen in den liberalen Systemen des rechtlich geordneten Egoismus zuteil wird. Es ist die in Rechtsgleichheit begründete individuelle Freiheit. Die politische Freiheit freilich findet in den Konzeptionen des Liberalismus keinen Ort und folglich auch keine angemessene Darstellung durch die Begriffsformen des Kontraktualismus. Sie besteht in der autonomen Selbstbestimmung der Staatsbürger und ist in einem Gemeinschaftsbewusstsein, in bewusster, erlebter und bejahter Zugehörigkeit zu der vorfindlichen Gemeinschaft begründet. Während die Protagonisten einer rechtlichen Freiheitsordnung, eines zwangsbewehrten Systems subjekter Freiheitsrechte durchaus Egoisten sein dürfen, die allein zu strategischem Handeln fähig sind und die gesellschaftliche Koordination auf Kompromiss, Interessenausgleich, bargaining und transzendentale Gemeinsamkeit stellen, deren ordnungspolitischer Erfolg also auf dem generalisierten Egoismus beruht, dürfen die Protagonisten der politischen Freiheit keine „politischen Nullitäten" (Hegel) sein. Mit der reduktionistischen Anthropologie eines Hobbes und Spinoza, die die eindimensionale Rationalitätskonzeption der Entscheidungs- und Spieltheorie antizipiert und die auch das berühmte kantische Diktum vom Teufelsvolk prägt, für das das Problem der Staatserrichtung auflösbar sein muss, wenn es denn nur Verstand hat, lässt sich ein liberaler Rechtssicherungsstaat, aber keine Republik machen. Der erstere liefert einen institutionellen Berstschutz für ein Aggregat von Privatleuten und Rechtsbesitzern; seine externe Stabilisierungsleistung rechnet mit der Rationalität, abwägenden Klugheit und vorteilsmaximierenden Verständigkeit der Individuen; der zweite hingegen ist eine Gemeinschaft, die sich selbst organisiert, die in ihren Mitgliedern lebt, in deren Mitte ein Gemeinwille entsteht, der die Geschicke der Allgemeinheit lenkt und leitet, deren interne Stabilisierung im Patriotismus und Gemeinsinn der Bürger wurzelt.
„Volonte generale" und Sittlichkeit
„Der Souverän ist allein dadurch, dass er ist, immer schon das, was er I sein soll" (1.7; 363; 77). Sätze wie diese deuten an, dass die sittlich-kompakte Allgemeinheit innerhalb der Anatomie der volonte generale vorherrschend ist. Verwirklicht sich im Allgemeinwillen diese sittlich-republikanische Allgemeinheit, dann fallen Existenz und Normvollendetheit des Souveräns zusammen. Denn erst dann existiert der ja selbst normativ, über die allgemeine Gesetzgebung definierte Souverän, wenn alle Bürger jedes Gesetz als Ausdruck ihres eigenen Willens anerkennen können. Das kann jedoch nur für solche Gesetze erreicht werden, die einmütig erlassen worden sind; jedes nur mehrheitlich gewollte Gesetz ist Zwang gegenüber der dissentierenden Minderheit. Die Existenz des Souveräns ist somit an die Erfüllung der Einmütigkeitsbedingung gebunden. Damit entscheidet die Konsensfähigkeit einer Gesellschaft über das Schicksal des Souveräns. In einer modernen, durch Individualisierung und Pluralisierung charakterisierten Gesellschaft wird die volonte generale nicht erscheinen; mehr als Mehrheitspragmatismus und Dissensmanagement vermag die Politik hier nicht zu leisten. Auch ist nicht zu erwarten, dass die anspruchsvollere de- liberierende Öffentlichkeit je einmütige Resultate erzielen wird. Die Vorstellung, die Deliberation würde die Nuggets des Allgemeinen aus dem Schutt der gesellschaftlichen Interessen und dem Geröll der Meinungen herauswaschen, ist illusionär. Es ist kein Zufall, dass in der Diskursethik die Richtigkeit und Wahrheit anzeigende allgemeine Diskussions- und Willensgemeinschaft ins Kontrafaktische abgeschoben worden ist. Die volonte generale bedarf einer Gesellschaft, in der gleiche Anschauungen und Wertperspektiven herrschen, in der gleiche Interessen, gleiche Hoffnungen und gleiche Befürchtungen bestehen. Das Biotop des Rousseau'schen Souveräns ist eine hoch integrierte Lebensgemeinschaft. Die volonte generale benötigt als Vehikel Bürger mit ethisch standardisiertem Denken, Fühlen und Handeln. Ihr Element ist das, was Nietzsche die „Sittlichkeit der Sitte" genannt hat. Die Gesetze, die der Allgemeinwille erlässt, können nichts anderes sein als situationsangepasste Artikulationen einer in den Bürgern immer schon wirksamen Gemeinschaftlichkeit des Denkens und Fühlens. Diese ist vorauszusetzen, damit der Allgemeinwille, den die Rousseau'- schen Prinzipien des Staatsrechts zur Herrschaft berufen, überhaupt in die Existenz treten kann.
Die Versittlichung, deren symbolisches Abbild der Assoziationsvertrag ist, muss von diesem Vertrag selbst vorausgesetzt werden, damit ihm die Gemeinschaft entwachsen kann, die er aufgrund seiner inneren Normativität als einzig legitim auszeichnet. Damit zeichnet sich die entscheidende Differenz zwischen Rousseau und dem neuzeitlichen Standardkontraktualismus in aller Schärfe ab: Während bei Hobbes und Locke der Vertrag den Individuen eine Individualisierungschance einräumt, ihnen die Möglichkeit gibt, der Gattungsallgemeinheit zu entwachsen und sich in institutionell gefestigten, sozial friedlichen Verhältnissen auseinander zu entwickeln, sich voneinander zu unterscheiden, individuelles Profil zu gewinnen und ein eigenes Leben zu leben, liegt die Pointe des Rousseau'schen Vertrages darin, ihnen diese liberale Individualisierungschance vorzuenthalten. Der Liberalismus ist ungleichheitstolerant, ist mit einem Konformismus zufrieden, der sich auf die Anerkennung der Rahmenordnung erstreckt; der Republikanismus hingegen ist ungleichheitsintolerant, stellt Differenz und Individualität unter politischen Verdacht. Es ist das despotische Paradoxon der Rousseau'schen Freiheitskonzeption, dass die politische Apotheose der Selbstbestimmung in einer Selbstauslöschung gipfelt, die die von Rousseau dem kontraktualistischen Absolutismus vorgeworfene weit übersteigt. Denn der Absolutismus will nur Gehorsam, verlangt nicht die innere Anverwandlung der Untertanen. Der Absolutismus ist kein Totalitarismus, der nichts duldet, was ihm nicht innerlich und äußerlich gleich ist. Rousseaus Republikanismus hingegen verlangt innere Gleichheit. Die von ihm garantierte politische Selbstbestimmung ist nur darum möglich, weil alle Bürger auf eigene Ansichten und eigene Zwecke längst verzichtet haben; weil jeder nur räumlich und zeitlich besonderte Allgemeinheit ist. „Als Bürger" ist der Mensch „nur ein Bruchteil, der vom Nenner abhängt, und dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen liegt, d. h. zum gesellschaftlichen Ganzen. Gute soziale Einrichtungen sind diejenigen, die es am besten verstehen, den Menschen seiner Natur zu entkleiden (denaturer l'homme), ihm seine absolute Existenz zu nehmen und ihm dafür eine relative zu geben und sein Ich auf die gesellschaftliche Einheit zu übertragen, sodass jeder Einzelne sich nicht mehr als einheitlicher Einer, sondern nur noch als Glied einer Einheit betrachtet, das nur noch als Teil des Ganzen empfindet. Ein Bürger von Rom war weder ein Cajus noch ein Lucius; er war Römer."80
Im Assoziationsvertrag Rousseaus gehen die Menschen von der natürlichen Vereinzelung ins Gruppendasein über; der natürlichen Gattungsallgemeinheit, die jedem das gleiche Verhaltens- und Überlebensprogramm diktiert, folgt die sittliche Ethosallgemeinheit, die jeden zum Ausdruck des Gleichen macht. Assoziation ist nicht Aggregation, ist auch mehr als Kooperation. Assoziation bedeutet hier, dass jedem Individuum die Allgemeinheit unter die Haut geht, dass das Allgemeine das Herz und den Verstand jedes Individuums besetzt hält, sodass aus jedem nur noch äußerlich unterscheidbaren Individuum das moi commun spricht, sodass alle mit einer Stimme sprechen. Die von Rousseau dem Vertrag zugeschriebene Menschwerdung spart die Individualisierung aus; damit befreit er sich von den Dissensrisiken, die die Einmütigkeit, das Lebenselement der volonte generale, gefährden könnten, denn das Individuum als solches ist ein Dissensrisiko.
„Volonte generale" und neuhegelianischer Volkswille
Konnte sich Carl Schmitt mit gutem Grund bei der Entwicklung seiner antiliberalen Demokratiekonzeption auf Rousseau berufen? Richtig ist, dass die Suche nach einem Alliierten ihn genauer hat hinsehen lassen als viele andere, die Rousseau zu einem Zwillingsbruder Lockes oder zu einem Proto-Kant machen wollen. Es ist unbestreitbar, dass Rousseaus Konzeption Spannungen und Inkohärenzen aufweist. „Die Fassade ist liberal: Begründung der Rechtmäßigkeit des Staates auf freien Vertrag. Aber im weiteren Verlauf der Darstellung und bei der Entwicklung des wesentlichen Begriffs, der volonte generale, zeigt sich, dass der wahre Staat nach Rousseau nur existiert, wo das Volk so homogen ist, dass im Wesentlichen Einstimmigkeit herrscht. Es darf nach dem Contrat social keine Parteien geben, keine Sonderinteressen, keine religiösen Verschiedenheiten, nichts, was die Menschen trennt [...] Die Einmütigkeit muss nach Rousseau so weit gehen, dass die Gesetze sans discussion zustande kommen."81 So richtig dieser Befund ist, so falsch ist die Inanspruchnahme. Natürlich wollte Rousseau keine antiliberale Demokratie begründen. Die Grundspannung des Contrat social verläuft nicht zwischen Liberalismus und Demokratie, wie Schmitt meint, sondern zwischen Liberalismus und Republikanismus. Sie verdankt sich dem bemerkenswerten Entschluss, die Vormoderne gegen die Moderne in Stellung zu bringen. Daher besteht auch ein großer Unterschied zwischen der Rousseau'schen und der Schmitt'schen Homogenitätstheorie. Rousseaus kulturell-ethische homogene Republik ist notwendig ein Stadtstadt, eine weltabgeschnittene Insel, ein sich vor der zivilisatorischen Dynamik verkriechender Weltzipfel. Schmitt hingegen muss seine Vorstellung einer homogenen Demokratie von diesem Republikanismus der überschaubaren Lebenswelt unabhängig machen; sie muß aggressiv-imperialen Gelüsten gegenüber offen sein; sie kann daher die Quelle der Homogenität nicht in den materialen Bedingungen republikanischer
Überschaubarkeit finden, sondern sie muss sich nach einer vorpolitischen Homogenitätsquelle umsehen, muss die Demokratie nicht politisch als Bürgergemeinschaft, sondern rassenbiologisch als Artgemeinschaft organisieren.82
Hinter Rousseaus volonte generale steht keine holistische Ontologie, keine Volksgeistmystik. Auch die Rousseau'sche Welt ist ausschließlich von Individuen bevölkert; es gibt nur sie und ihre Beziehungen zueinander. Neben den Individuen gibt es keine Allgemeinheit von eigenem Recht und von eigener Wirklichkeit. Der Begriff des Gemeinwillen ist ein politischer Begriff; Rousseau wäre kein Anhänger des ius sanguinis gewesen. Gemeinschaftlichkeit konstitutiert sich durch die Sorge der Bürger um ihre Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaftlichkeit bedarf - wir werden das noch sehen - einer Fülle entgegenkommender Bedingungen; sie ist fragil, zumal in der Moderne. Aber zu den konstitutiven Bedingungen der Gemeinschaftlichkeit gehört kein vorpolitisches ethnisches Substrat. Die ethnische Zugehörigkeit ist gänzlich irrelevant, da sie als solche den Privatwillen nicht zu domestizieren vermag. Zwar kann ethnische Zugehörigkeit zu einem Politikum werden, eine starke Integrationskraft entfalten, aber das ist wiederum abhängig von vorgegebenen politischen Bedingungen. Die volonte generale ist nicht Ausdruck der Gemeinsamkeit einer ethnischen oder religiösen Gruppe; sie ist Ausdruck einer sich im Zusammenleben konstituierenden, ihr Zusammenleben wertschätzenden und sich um seinen Bestand und seine Kontinuierung kümmernden Bürgerschaft. Und wenn aus den Individuen eben dieser Bürgersinn verschwindet, dann verschwindet auch der Gemeinwille, obwohl die ethnische oder religiöse Gruppe immer noch existiert. Der Partikularismus der Sittlichkeit darf eben nicht mit einem ethnischen Partikularismus verwechselt werden.
Aufgrund des ontologischen Individualismus der Rousseau'schen Republik ist auch ein anderer Einwand unzutreffend, der oft gegen Rousseau erhoben wird und auf einen Totalitarismus avant la lettre anspielen möchte. Es ist für totalitäres Denken charakteristisch, dass es die Belange der Allgemeinheit über die Interessen der Einzelnen stellt. Das Allgemeine ist ontologisch und axiologisch höherrangig; und im Fall eines Konflikts der Rechte und Interessen gebührt dem Allgemeinen fragloser Vorrang. Anders ausgedrückt - und ohne sich an dem Konfliktparadigma zu orientieren: Das Wohl des Allgemeinen ist keine Funktion des Wohls der Individuen. Dass es nicht Aufgabe der Politik sein kann, Allgemeinwohl und Individualwohl zur Konvergenz zu bringen, hat schon Platon in der Politeia gelehrt. Als Adeimantos nach Sokrates' Vorstellung des Erziehungsplans und der Lebensweise der Wächter und Regenten bemerkte, dass diese Allgemeinheitsfunktionäre der platonischen Republik doch ein recht freudloses Leben führen würden und schwerlich glücklich zu nennen seien, entgegnete Sokrates, dass es nicht erforderlich sei, dass jeder Teil eines Ganzen glücklich sein müsse, wenn es dem Ganzen gut gehe; schließlich müsse ja auch nicht jeder Teil einer schönen Statue ebenfalls schön sein. Wenn wir uns um die richtige Einrichtung eines Gemeinwesens Gedanken machen, müssen wir uns überlegen, so Sokrates, „ob wir das Leben der Wächter im Hinblick darauf gestalten wollen, dass ihnen möglichst viel Glück zuteil wird, oder ob wir [...] im Hinblick auf den Staat als Ganzes darauf achten müssen, dass er glücklich wird"83.
Rousseau würde dieser Divergenzthese nicht zustimmen. Aber verlangt der bios politikös nicht Opfer von den Bürgern? Schließlich müssen sie bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten ihr Privatinteresse hintanstellen und ganz in den Dienst des Allgemeinwohls stellen, ihr ganzes Denken, Fühlen und Urteilen auf seine Sicherung und Mehrung ausrichten. Ganz zu schweigen von der Bereitschaft, für die Verteidigung des Vaterlandes das Leben zu lassen, die für den Republikanismus zu den edelsten Bürgertugenden gehört. Nur ist das in Rousseaus Augen keine Beeinträchtigung des Glücks der Bürger. Sie haben ihr eigenes Leben bereits so sehr mit dem Schicksal der Gemeinschaft verknüpft, dass sie mit dem Allgemeinen wie in einem System kommunizierender Röhren verbunden sind; der Zustand des Allgemeinen färbt ihren eigenen Gemütszustand ein. Geht es dem Gemeinwesen gut, geht es auch ihnen gut. Und ist es nicht gut um das Gemeinwesen bestellt, leiden auch sie. Das ist die Konsequenz der angestrebten Identifikation. Die Möglichkeiten, die Individuen in liberalen Ordnungen haben, stehen ihnen nicht zur Verfügung. Sie können das Allgemeine nicht für die Mehrung privaten Glücks in Anspruch nehmen. Aber Rousseau hat hinreichend häufig klar gemacht, dass eine solche kompetitive, die eigenen Interessen gegen die Interessen anderer und das Wohl des Allgemeinen durchsetzende Lebensform sittlich inferior und politisch desaströs ist. Ein angemessenes Verständnis von dem, was für ein glückliches Menschenleben wichtig ist, offenbart aus Rous- seau'scher Perspektive, dass die Bürgerexistenz ein Glücksgarant ist, dass das individuelle Wohl der Bürger und das Gemeinwohl konvergieren. Die Vergesellschaftung ist Menschwerdung; durch die bürgerliche Lebensform werden die den Menschen wesentlich ausmachenden Eigenschaften entwickelt und entfaltet. Da sollte es undenkbar sein, dass den durch den Verbürgerlichungsprozess ihrer menschlichen Vollendungsstufe näher gebrachten Individuen ausgerechnet das Glück abhanden kommt. Nicht nur müssen die Individuen bei ihrer Vergesellschaftung kein Freiheitsopfer bringen; sie erleiden auch keine Glückseinbuße. Im Gegenteil: Ihre Freiheit wird gefestigt, und ihr Glück gewinnt eine neue Qualität. „Je besser das Gemeinwesen verfasst ist, umso bereitwilliger beschäftigen sich die Bürger mit öffentlichen Angelegenheiten als mit ihren eigenen. Die Privatangelegenheiten verlieren immer mehr an Bedeutung, weil die Summe des gemeinsamen Glücks auch die Glücksbilanz jedes Individuums verbessert, sodass dieses sein Glück immer weniger in seinem privaten Lebensbereich suchen muss" (III. 15; 429; 158).
Um Rousseaus volonte generale vor Fehldeutungen zu schützen, ist es nützlich, sie mit der Vorstellung vom Volkswillen zu vergleichen, die der Rechtshegelianer Erich Kaufmann 1931 in seinem Aufsatz „Zur Problematik des Volkswillens" entwickelt hat.
„Der Begriff des Volkswillens setzt den des Volksgeistes voraus. [...] Der Volksgeist ist eine objektive reale Größe, die sich in und an den Individuen auswirkt, aber eine ebenso primäre Realität ist wie das individuelle Seelenleben. Schon als eine die Generationen umfassende Realität hat er seine eigene und von dem individuellen Seelenleben verschiedene Gesetzlichkeit. Das Individuum wird bei seiner Geburt von ihm empfangen und geprägt; und nachdem es von ihm empfangen und geprägt ist, trägt es ihn zu seinem Teile mit, webt es mit an seinem Gewände. Er wirkt sich an ihnen in verschiedener Weise aus und wird von ihnen in verschiedener Weise getragen. Es ist niedergelegt in bestimmten Gefühls- und Gemütswerten, überhaupt in bestimmten, insbesondere ethischen Wert Vorstellungen, in Traditionen, Sitten, Legenden, Symbolen, Dichtungen, Musik, Sprache usw. Aber er ist nur in ihnen niedergelegt und geht in ihnen nicht auf. Der Geist muss sich stets in Formen aktualisieren. So sind alle jene Phänomene die notwendigen Ausdrucksformen des Volksgeistes, aber nicht er selbst. Er selbst ist vielmehr die letzte, auf nichts Einfacheres zurückführbare Quelle und Substanz, die sich in allen diesen Ausdrucksformen manifestiert. [...] Da der Begriff des Volks in seinem Kern ein politischer Begriff ist, sind es vor allem auch politische Erlebnisse, die ein Volk als Volk gehabt hat, die die Substanz des Volksgeistes aufbauen und sein Wollen und Handeln beeinflussen und bestimmen: die Erinnerung an politische Helden, an Macht und Ruhm, an soziale Erschütterung, an Demütigung und Schmach, an Not und Elend, an Erhebung, Aufstieg und Freiheit.
Als politischer Größe muss dem Volk ein politischer Wille zukommen. Dieser politische Wille ist zunächst Lebenswille und Geltungswille, d. h. der Wille zum Volksein und der Wille zum unabhängigen Staat als der politischen Willenseinheit des Volkes. Er ist ferner Gestaltungswille; nicht ein Wille zu romantischer oder klassischer Selbstgestaltung, sondern der Wille zur Gestaltung und Ordnung der gesellschaftlichen Kräfte im Innern und zur Mitgestaltung einer internationalen Ordnung sowie zur Einfügung in diese Ordnung; kurz der Wille zur Erfüllung der ewigen staatlichen Aufgaben, je nach den teils konstanten, teils wechselnden, räumlichen und zeitlichen Besonderheiten des Volkes und mit den besonderen ethischen und geistigen Kräften und Anlagen des Volkes.
So real dieser Volkswille ist, so ist er doch als solcher seinem Wesen nach sowohl unformiert wie der Formung bedürftig. In ihm klingen und schwingen die verschiedensten, sich durchkreuzenden, ja einander widerstreitenden Weisen [...] Je nachdem, wer ihn anschlägt und anzuschlagen versteht, kann er einen verschiedenen Ton geben. Große Ereignisse, die den Lebens- und Geltungswillen des Volkes im innersten Kem treffen, vermögen ganz einheitliche und starke Reaktionen auszulösen, neben denen an sich vorhandene widerstrebende Gefühle zurücktreten oder verstummen. Nur durch einzelne Persönlichkeiten kann der Volkswille sich aktualisieren, können sich die in ihm liegenden mannigfaltigen Möglichkeiten konkretisieren, kann er wirkender Wille werden. Er bedarf persönlicher Bildner und Träger, er bedarf seinem Wesen nach der Repräsentation. Der größte und folgenschwerste Irrtum, der je ausgesprochen wurde, ist der Satz Rousseaus: ,La volonte ne se represente pas'.
Aber natürlich hat Kaufmann bei dieser Repräsentation des Volkswillens keinerlei staatsrechtliche Verhältnisse im Sinn; er denkt weder an den Leviathan, noch an eine repräsentative Demokratie. In Übereinstimmung mit seiner Konzeption des Volksgeistes und Volkswillens, die Hegel'sche Versatzstücke aus der Theorie des objektiven Geistes mit Motiven einer zeitgenössischen substanzialistischen und vitalistischen Vulgärmetaphysik vermengt, sind die Repräsentanten des Volkswillens hervorragende Personen, die mit Kraft und Charisma den ungeformten Volkswillen zu formen wissen, ihm Ausdruck verleihen; die auf eine geheimnisvolle Weise sich mit dem Volk zu verbinden wissen und zur konkreten Darstellung bringen, was unartikuliert im Volke drängt.
„Sie stellen in sich die Volksgesamtheit dar, sowohl gegenüber dem Volke selbst wie gegenüber der Außenwelt: sie werden zu Organen. Wie dies geschieht und wann dies erreicht ist, lässt sich auf eine reine rationale Formel nicht bringen. [...] Es ist eine reine Frage des Charismas, wie, ob und in welchem Maße dies Ziel jeweils erreicht wird. Keine Rechts- und Verfassungsreform kann seine Verwirklichung sicherstellen."84
Dem letzten Satz hätte Rousseau zugestimmt: Es ist ein prozedura- listisches Missverständnis, das Erscheinen des Gemeinwillens durch verfassungsrechtliche Bestimmungen garantieren zu können. Der Gemeinwille vermag das Schicksal des Rechts zu bestimmen; wenn er zur Herrschaft gelangt, wird seine Gesetzgebung im Dienste des Gemeinwohls stehen. Aber das Recht kann nicht das Schicksal des Allgemeinwillens bestimmen. Ob er in der politischen Arena Wirksamkeit enfaltet oder hinter sich widerstreitenden Einzelinteressen oder despotischen Gruppenideologien verborgen bleibt, ist nicht ausschließlich eine Frage der Rechtsordnung.
Wie das Lehrstück vom Legislateur uns noch deutlich zeigen wird, kommt auch die Rousseau'sche Theorie des republikanischen Gemeinwillens nicht ohne eine charismatische Figur aus.
„Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen der bürgerlichen Vergesellschaftung. Das Volk, das Gesetzen unterworfen ist, muss auch ihr Urheber sein. Nur denjenigen, die sich zusammenschließen, steht es zu, die Bedingungen ihrer Vereinigung zu regeln. Wie aber sollen sie sie regeln? Etwa durch eine gemeinsame Übereinstimmung in Folge einer plötzlichen Begeisterung? Besitzt der politische Körper ein Organ, um seinen Willen mitzuteilen? Wer verschafft ihm die nötige Voraussicht, um Beschlüsse zu fassen und im Voraus mitzuteilen? Oder wie soll er sie verkünden, wenn ein Notfall eintritt? Wie soll eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was wie will, weil sie selten weiß, was gut für sie ist, von sich aus ein so großes und schwieriges Unternehmen wie ein System der Gesetzgebung ausführen? Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber von sich aus erkennt es das Volk nicht immer. Der Gemeinwille hat immer Recht, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer erleuchtet. [...] Die Einzelnen sehen das Gute, das sie verwerfen; die Öffentlichkeit will das Gute, sieht es aber nicht. Beide bedürfen gleichermaßen der Führung. Die einen, die Einzelnen, muss man zwingen, ihren Willen der Vernunft zu unterwerfen; den anderen, die Öffentlichkeit, muss man dazu bringen, zu erkennen, was er will. Dann geht im Körper der Gesellschaft aus der öffentlichen Einsicht die Einheit von Wille und Urteil hervor, woraus das genaue Zusammenwirken der einzelnen Teile und schließlich die größte Kraft des Ganzen entsteht. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzgebers" (II.6; 380; 98).
Diese Charakterisierung will mit dem Preislied auf die Volkssouveränität schwer zusammenpassen. Welch ein phantastisches Haus der Souveränität, welch ein Volkspalast der Selbstbestimmung auf dem kontraktualis- tischen Reißbrett! Und keiner, der es beziehen könnte! Die emphatische Autonomiekonzeption der Selbstregierung entdeckt sich als herrschaftsrechtliche Hülse. Kein selbstregierungsfähiges Volk weit und breit, stattdessen eine Menge, beseelt vom dunklen Drang zum Guten, aber blind und ohne Verstand, der Führung und Erleuchtung bedürftig. Welch eine Wendung! Vor dem anspruchsvollen Freiheitsbegriff der Legitimationstheorie konnte nur das Modell der Selbstregierung standhalten, der aktuellen, nicht delegierbaren und repräsentierbaren Selbstregierung; nur dann durfte den Menschen Herrschaft zugemutet werden, wenn sie durchgängig diese Herrschaft selbst über sich ausübten. Und was bleibt am Ende: das Eingeständnis himmelschreiender ethischer Schwäche und intellektueller Inkompetenz und der Ruf nach dem übermenschlichen Führer. Welch eine Retraktion! Keinen Herren zu keiner Zeit sollen Menschen über sich dulden müssen, aber zuvor müssen sie erst einmal umgekrempelt werden, sich radikaler, ihr Wesen verändernder Fremdbestimmung unterwerfen, um selbstbestimmungsfähig zu werden.
Sicherlich sind da einige Übereinstimmungen zwischen dem Repräsentanten des Volkswillens ä la Kaufmann und dem Legislateur ä la Rousseau, aber auch wesentliche Unterschiede. Die Erziehungsbedürftigkeit der Bürgerschaft ist etwas anderes als die Repräsentationsbedürftigkeit des Volkswillens. Bei Rousseau geht es darum, der herrschaftsrechtlich zum einzig legitimen Gesetzgeber erkorenen vereinigten Bürgerschaft die ethische Kompetenz zu verschaffen, die für eine angemessene Ausübung der Gesetzgebungstätigkeit notwendig ist. Sein Erziehungsprogramm weist zwei Komponenten auf; es verknüpft das ethische Programm der TugendStärkung und fl/cras/fl-Bekämpfung mit dem neuzeitlichen Pensum der Rationalitätsverbesserung. Der erste Strang zielt darauf, das Gute, das man kennt, auch wirklich zu tun. Der zweite Strang zielt darauf, die Auswirkungen kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung als Kosten vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Interessenverfolgung einschätzen zu lernen. Sind dann die ethischen Mängel der Willensschwäche und Kurzsichtigkeit beseitigt, kann die vereinigte Bürgerschaft die schwierige Aufgabe der Gesetzgebung voller Zuversicht und mit Erfolgsaussicht angehen.
Kaufmanns Konzept weist den Repräsentanten hingegen eine andere Funktion zu. Ihre Aufgabe ist das dunkel Drängende, Ungeformte zu artikulieren, zu vergegenständlichen. Durch ihre hermeneutische Kompetenz sind sie gleichsam der Spiegel, der dem Volk sagt, was es ist und will. In ihnen vergegenständlicht sich das, was das Volk will, aber nicht kennt, sodass das Volk jetzt weiß, was es will. Aber dieser Übergang vom Willen zum Erkennen des Gewollten ist von anderer Art als das Rousseau'sche Erziehungsprogramm. Zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten besteht bei Kaufmann eine mythische Expressionsbeziehung, die nur notdürftig mithilfe der Hegel'schen Objektivierungsfigur rationalisiert werden kann. Wohingegen die Requisiten des Rousseau'schen Erziehungsprogramms sowohl der tugendpädagogischen Tradition als auch der neuzeitlichen Rationalitätsprogrammatik entstammen. Bei Rousseau geht es um die Erhöhung der ethischen Widerstandsfähigkeit gegen die Verführung durch die Begierden und Neigungen; in dem Konflikt zwischen Allgemeinwillen und Einzelwillen wird die akratische Modellsituation des von den Neigungen übermannten Willens ins Politisch-Allgemeine transponiert. Gleichzeitig geht es um die Bekämpfung der Kurzsichtigkeit, um die Aufklärung der Rationalität, die davor schützen will, in die Falle der Kurzsichtigkeit zu geraten, und dazu anhalten möchte, auch an den zukünftigen Hunger zu denken und bei der Befriedigung der gegenwärtigen Bedürfnisse die Bedingungen zukünftiger Interessenbefriedigung nicht außer Acht zu lassen. Es ist evident, dass die ethische Defizienz der Willensschwäche und die rationalitätstheoretische Defizienz der zukunftsvergessenen Kurzsichtigkeit große strukturelle Ähnlichkeiten haben. Daher ist es verständlich, dass Rousseaus Erziehungsprogramm tugendpädagogische und rationalitätssteigernde Lektionen miteinander verbindet. Denn aus der Perspektive des Allgemeinwillens ist die Dominanz des Partikularwillens sowohl als Willensschwäche als auch als Rationalitätsdefizit interpretierbar.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen den Repräsentanten des Volkswillens bei Kaufmann und dem Gesetzgeber Rousseaus. Während bei Kaufmann der Volkswille eine mythische Größe ist, die Repräsentanten hingegen der politischen Realität angehören, gehört bei Rousseau das Volk der politischen Realität an, hingegen ist der Legislateur eine mythische Größe, ein Deus ex machina, nicht von dieser Welt, von einem Problem herbeigerufen, das sich der Ethisierung des Vertragsmodells verdankt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass nach Kaufmann der Volkswille nie in einen Zustand geraten könnte, wo er der Repräsentation durch charismatische Einzelpersonen nicht mehr bedürftig wäre. Wohingegen es zur Logik des Erziehungsprogramms der Bürger gehört, dass es die Bürger instand setzt, aufgrund der erworbenen Fähigkeiten, ohne weitere Unterstützung durch den Gesetzgeber, ihrer eigenen rechtlichen Gesetzgebungstätigkeit nachgehen zu können. Diese Bestimmung, sich durch erfolgreiche Erziehungsarbeit selbst überflüssig zu machen, teilt die Rous- seau'sche Figur des Gesetzgebers mit der klassischen Figur des Gesetzgebers, wie sie etwa in den Schriften Machiavellis begegnet.
Rousseaus Republik ist keine Kommunikationsgemeinschaft
Diskutiert die Republik Rousseaus? Ist die öffentliche Arena erfüllt vom Gewirr der Stimmen? Kämpfen Meinungen um Anerkennung und Gefolgschaft? Wird gehandelt, gefeilscht? Werden Kompromisse eingegangen? Schulden eingeklagt? Versprechungen gemacht? Nichts von alledem. Denn nicht darum geht es, einer Meinung, einer Position die Mehrheit zu verschaffen. Der Gemeinwille soll zum Ausdruck kommen. Wenn es überhaupt eine Diskussion gibt, dann zielt diese darauf, in Einmütigkeit zu ersterben. Der Rousseau'sehen Republik fehlt völlig das agonale Element, fehlt auch der für das griechische Denken charakteristische Exzellenzwettbewerb. Auch der politische Aristotelismus kreist um das Gemeinwohl, macht Gemeinwohlorientierung zum entscheidenden Kriterium, um gute Verfassungen von schlechten zu unterscheiden. Aber die klassische Demokratie diskutiert; ihr ist der Tausch der Argumente, der Verkehr der Worte so wichtig, dass sie Spezialisten angeheuert hat, die sie in der Kunst der Rede unterrichteten. Rhetorik wurde nötig; und auch der, der ihr misstraute, weil sie doch fahrlässig mit der Wahrheit umgehe und sich an den Meistbietenden verkaufe, dachte nicht daran, die Bürgerversammlung als Pfingsten des Gemeinwillens zu zelebrieren. Man vergleiche nur den Bürger der Rousseau'schen Republik mit Aristoteles' Hochgesinnten und Selbstwertvirtuosen, dem Megalopsychos aus der Nikomachischen Ethik?5
Rousseaus Republik, die die Authentizität zum Markenzeichen erhebt, ist alles andere als ein Ort authentischen Republikanismus. Die Fetischisierung des Unmittelbaren ist selbst vermittelt, Resultat einer von Rousseau nicht durchschauten Dialektik des Antimodemismus. Seine Republik ist aufgrund ihrer antimodernen Vormodernität eine zutiefst moderne Konstruktion, eine Nachahmung; es ist eine Ansammlung von Kleinbürgern, die Republikaner spielen wollen. Rousseau war ein genialer Autodidakt; seit frühester Jugend hat er den klassischen Lesestoff verschlungen. Von früh an war seine Vorstellungswelt von spartanischen Kriegern in Wehr und Waffen, von griechischen und römischen Bürgern in wallenden Gewändern erfüllt gewesen sein. Aber seine Imagination hat ihn getäuscht. Schaut man genau hin, dann entfaltet sich ein ganz anderes Szenario in seinen Schriften: Rousseaus Republik gleicht einer Ansammlung von Sektierern, modernitätsabgewandten Kongregationisten, Kleinbürgern und Zivilisationsflüchtlingen, die jede kulturelle Regung, jedes Raffinement der Sinne, jede Entfaltung von Individualität mit Angst und Argwohn betrachten.
Nach Kant garantiert das öffentliche Räsonnement der Privatleute die Herrschaft der praktischen Vernunft im politischen Bereich. Die praktische Vernunft herrscht dann im politischen Bereich, wenn die Autorität des Arguments den Prozess und das Klima der politischen Willensbildung prägt, wenn die Institutionalisierung von Normen dem sich in einer zwangsfreien Diskussion herausdestillierenden Allgemeininteresse folgt. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist die politische Gestalt der autonomen Vernunft des neuzeitlichen Subjekts; sie akzeptiert nur die Autorität des Arguments und zielt damit auf die Rationalisierung der politischen Herrschaft als einer Herrschaft von Menschen über Menschen durch strikte Offenlegung und Diskussion aller Ziele, Mittel, Interessen und Gründe. Wenn aber alle mit einer Stimme sprechen, braucht man nicht mehr zu reden. Dann genügt es abzustimmen. Wenn alle Gemeinsinn besitzen, tugendhafte Bürger sind, die Allgemeinheit in sich tragen, dann reicht es, wenn die Bürger die Gesetzesvorschläge betrachten und entscheiden, ein jeder für sich, spontan. Deliberative Politik findet in der Rousseau'schen Republik nicht statt. Die Republik ist sprachlos; und die volonte generale tritt gerade aus der Sprachlosigkeit der Bürger ins politische Leben, denn die Sprachlosigkeit ist nur Ausdruck ethischer Evidenz.
Auch wenn sich die Diskursethik gern auf Rousseau beruft, seine staatsrechtliche Verklammerung von Recht und Demokratie für vorbildlich erachtet und in der volkssouveränitären Institutionalisierung des Vertrages einen Vorläufer ihrer geltungsüberprüfenden und legitimitätstestenden Diskurse erblickt: der so Vereinnahmte hat für gesellschaftliche Diskussionen und deliberative Demokratie nichts übrig. Wie allen Konservativen ist ihm die unendliche Diskussion suspekt; er erblickt in ihr nur einen Tummelplatz der Eitelkeiten, eine Arena subtiler Machtkämpfe. Wenn die Bürger anfangen, nach den besseren Argumenten zu suchen, die Interessen zu wiegen, die Standpunkte zu vergleichen, dann hat das Gemeinwohl schon verloren; dann ist es für immer in den Endlosschleifen einer räsonierenden Öffentlichkeit verschwunden. Rousseaus Republik ist keine Kommunikationsgemeinschaft. Mit den Vorstellungen des diskursethischen Rousseau- ismus hat Rousseaus Republikanismus nichts zu tun. Die volonte generale ist Ereignis, nicht herbeidiskutiertes Diskursresultat. Als Ereignis zeigt sie sich. Das, was dem Allgemeinwohl dient, findet ohne viel Gerede und ohne alle Abwägung die Zustimmung der versittlichten, patriotischen Bürger.
Für den Diskursethiker manifestiert sich im Prinzip der Publizität ein reflexives Rechtfertigungsniveau: die Bedingungen der Akzeptabilität von Gründen, die den Normen und Legitimationen Geltung und Wirkung verleihen und eine konsenserzeugende und motivbildende Kraft besitzen, finden sich nicht mehr in einer Übereinstimmung mit vorgegebenen Ordnungsgefügen und letzten naturrechtlichen Prinzipien, sondern nur noch in den Strukturelementen des Verfahrens einer allgemeinen argumentativen Einigung selbst. Hinter dem Prinzip der zwangsfrei deliberierenden Öffentlichkeit steht die für die anspruchsvollen rechtfertigungstheoretischen Überzeugungen der Neuzeit charakteristische Auffassung, dass die Prozeduren einer vernünftigen Einigung und täuschungsfreien Ermittlung wahrhaft allgemeiner und wirklich gemeinsamer Interessen selbst und allein ein legitimierendes Potenzial besitzen. Geltungsansprüche von Normen sind dem Gerichtshof der Vernunft vorzutragen, müssen einer argumentativen Überprüfung durch die Betroffenen unterzogen werden. Nur dann können sie Verbindlichkeit beanspruchen, wenn sie sich universalistisch rechtfertigen lassen, wenn sie durch eine diskursive Meinungs- und Willensbildung der Betroffenen bestätigt werden.
Obwohl Rousseau gern als Begründer des rechtfertigungsmethodologischen Prozeduralismus betrachtet wird, weil er als einziger Kontraktualist den Vertrag selbst zum Prinzip der politischen Organisation, der Gesetzgebung und der Gerechtigkeit gemacht hat, verliert bei näherem Hinsehen das prozedurale Element im Zustandekommen und der Artikulation der volonte generale doch erheblich an Bedeutung. Die ethische Einbettung des vertraglichen Verfahrens der Einigung erstickt die Prozeduralität, die ja als modemitätsangemessenes Rechtfertigungselement das unmittelbare Sittlichkeitswissen der Traditionswelt ersetzen sollte. Das fest in der sittlichen Kompaktheit der Tugendrepublik verwachsene Verfahren verliert seinen kognitivistischen Grundzug. Es ist kein Erkenntnisverfahren, kein Verfahren der Ermittlung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls. Denn Gerechtigkeit und Gemeinwohl bedürfen bei Rousseau keines Erkenntnisverfahrens; sie müssen nicht prozedural gewonnen werden. Sie sind den Bürgern evident. Damit reduziert sich das Verfahren auf Rechtswahrnehmung und Freiheitserleben. Indem die Bürger zur Abstimmung schreiten, durch den Zusammenklang ihrer Gemeinwohlgewissheit die volonte generale in die Existenz rufen, nehmen sie ihr Recht wahr, erleben sie sich als freie Bürger. Der prozedurale Kognitivismus der Diskursethik hat in der Rousseau'schen Bürgerrepublik keinen Platz.
Bei Rousseau, so Habermas, wird „der Autonomie der Gesetzgebungspraxis selbst eine vernünftige Struktur eingeschrieben. Der vereinigte Wille der Staatsbürger ist, da er sich nur in der Form allgemeiner und abstrakter Gesetze äußern kann, per se zu einer Operation genötigt, die alle nicht-verallgemeinerungsfähigen Interessen ausschließt und nur solche Regelungen zulässt, die allen gleiche Freiheiten garantieren. Die Ausübung der Volkssouveränität sichert zugleich die Menschenrechte."86 Das trifft allenfalls auf Kant zu, aber nicht auf Rousseau. Hier liegt ein prozedura- listisches Missverständnis der volonte generale vor. Bestände dieser prozedurale Automatismus, wie Habermas meint, wäre dem demokratischen Gesetzgebungsverfahren „per se" eine Richtigkeitsgewähr eingeschrieben, dann hätte Rousseau auf Gesetzgeber, Tugend und Bürgererziehung verzichten können. Dann hätte er nur das Einstimmigkeitskriterium bei der Gesetzgebung festlegen müssen und den Konsens als Epiphanie der Wahrheit behaupten können. Das hat er aber nicht. Kein Verfahren sichert die Gerechtigkeit des Ergebnisses, sondern nur die inhaltliche Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl. Dieses aber kann nur durch die abstimmenden Bürger zur Geltung gebracht werden. Daher muss sichergestellt werden, dass die Bürger gemeinwohlfähig sind. Das, was sich der Diskursethi- ker als Resultat eines Idealdiskurses erhofft, nämlich die Konvergenz der Meinungen aller redlich Argumentierenden mit dem Allgemeinen und Richtigen, will Rousseau als sittliche Voraussetzung sichern. Daher formt nicht der Diskurs die Menschen, sondern die Menschen müssen schon zu Bürgern gebildet worden sein, um das Verfahren richtig zu gestalten. Zugespitzt formuliert: Bei den Diskursethikern erzieht - idealiter - das Verfahren die Menschen, daher muss man sich um ihre Erziehung zu Bürgern keine Gedanken machen; bei Rousseau erziehen die bereits zu Bürgern erzogenen Menschen das Verfahren, sodass es gemeinwohlkompatible Resultate liefert.
Die „volonte generale" ist nicht universalistisch
Die Rousseau'schen Bürger besitzen nicht nur keinen Rechtsvorbehalt der Allgemeinheit gegenüber - wie die Bürger des Locke'schen Liberalismus; sie besitzen auch keinen Gewissensvorbehalt der Allgemeinheit gegenüber - wie die Bürger des Hobbes'schen Liberalismus. Der Hobbes'- sche Staat ist eine Koexistenzordnung für einander Fremde; und er vermag diese Koexistenz zu garantieren, weil er unüberbietbar differenztolerant ist, vorausgesetzt, diese Differenz organisiert sich nicht politisch, sondern verbleibt im Privaten. Der Leviathan ist ein frühes Meisterstück liberaler Ordnungskunst, in der die ordnungspolitische Grundidee des Liberalismus bereits deutlich zum Ausdruck kommt: Ordnungsherstellung durch Trennung und Differenzierung. Der Vorzug dieser Konzeption zeigt sich in ihrer uneingeschränkten Inklusivität; unter der Voraussetzung der Privatisierung der Differenz vermag ein liberales Gemeinwesen grundsätzlichen freien Zugang für jedermann gewähren. Setzt die Ordnungsherstellung jedoch auf sittliche Kohärenz, wird die Differenz politisiert und damit die Inklusivität eingeschränkt, da ohne material-differente Grundlagen von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit die Kohärenzherstellung nicht gelingen kann. Der Rousseau'sche Bürger hat keine Privatheit, in die er sich zurückziehen kann; er kann nicht ins Exil seines Gewissens gehen, nicht ins Innere seiner Überzeugungen emigrieren. Er hat die Trennung zwischen Innerem und Äußerem aufgehoben. Auch in seinem Inneren stößt er nur auf das Äußere, Öffentliche, Allgemeine. Da diese Allgemeinheit jedoch eine inhaltlich bestimmte ist, eine partikulare Gestalt des Sittlichen, muss sie sich abschotten, gegen fremde Einflüsse abdichten. Exklusivität wird zur politischen Überlebensbedingung. Den Rousseau'schen Bürgern muss der Kontakt mit anderen untersagt werden.
Man darf sich also vom Allgemeinheitsanspruch der volonte generale nicht täuschen lassen. Der Rousseau'sche Allgemeinwille ist ein besonderer Wille; es ist der Wille einer bestimmten Menschengruppe; in ihm artikuliert sich die Gemeinschaftlichkeit; die Gültigkeit und Verbindlichkeit seines Wollens ist notwendig auf die Mitglieder der Gruppe eingeschränkt. Der Rousseau'sche Republikanismus ist dezidiert anti-universalistisch. Der Rousseau'sche Bürger ist ein Patriot, kein Verfassungspatriot. Denn Menschenrecht, kategorischer Imperativ und formale Koordinationsregeln reichen nicht aus, um einen Gemeinsinn zu erzeugen, um eine Menge von Menschen in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Das Allgemeine ist abstrakt, unwirtlich, unbewohnbar. Es ist kein Zufall, dass der Republikaner Rousseau auch der heftigste Kritiker des Kosmopolitismus ist. Jemand, für den der Mensch erst dann zum Menschen wird, wenn er zum Bürger geworden ist, für den der Mensch als Mensch nur ein domestikationsbedürftiges Stück Natur ist, kann das Allgemeinmenschliche nicht zur Grundlage einer normativen Politik machen. Rousseau kennt keine Menschenrechte und auch keine Prinzipien des Völkerrechts. Nur dann könnte in der Fluchtlinie seines Assoziationsparadigmas die Menschheit als politischmoralischer Gegenstand auftauchen, wenn die Menschheit eine durch einen gemeinsamen Willen vereinigte und handlungsfähig gewordene politische Einheit wäre, ein moi commun, ein etre moral. Aber das ist nicht der Fall. Die Menschheit existiert nur in den Systemen der Philosophen, nicht in der äußeren politischen Wirklichkeit und auch nicht in der inneren moralischen Wirklichkeit der Menschen. Die besondere sittlich-politische Einheit ist das Biotop der Menschwerdung. Der Begriff „Weltbürger" ist für Rousseau eine contradictio in adjecto. Ihm ist zudem sittliche Irreführung anzulasten: „Misstraut den Kosmopoliten, die in ihren Büchern Pflichten

in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tartaren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht."87
Allgemeinwille, Gesetz und Gemeinwohl bei Rousseau und Kant
„Durch den Gesellschaftsvertrag haben wir dem politischen Körper Dasein und Leben gegeben. Jetzt geht es darum, ihm Bewegungskraft und Willen durch die Gesetzgebung zu verleihen. Denn der ursprüngliche Akt, der diesen Körper formt und einigt, legt noch nicht fest, was er zu seiner Erhaltung zu tun hat" (II.6; 378; 96). Behandelt die Naturzustandstheorie die Selbsterhaltungsschwierigkeit und Selbsterhaltungserfordemisse der isolierten Individuen, so behandelt die Theorie des bürgerlichen Zustandes die Selbsterhaltungsschwierigkeiten und Selbsterhaltungserfordernisse der Gemeinschaft. Diese Parallelisierung ist keine den Text dehnende Stilisierung. Sie wird durch die anthropologische Metaphorik der politischen Philosophie nahe gelegt. Auch Rousseau macht ja ausgiebig von ihr Gebrauch. Die Gesetzgebung ist der Erscheinungsort des Allgemeinwillens. Die Gesetze beleben den „politischen Körper"; sie geben seinen Bewegungen Richtung und Sinn; nur durch die Gesetze ist er „aktiv und empfindungsfähig"; ohne sie verliert er seine „Seele", seine Handlungsfähigkeit und Empfindungskraft.88 Durch sie gibt sich der Allgemeinwille zu erkennen.89
„Wenn das ganze Volk über das ganze Volk beschließt, sieht es nur sich selbst. Entsteht jetzt ein Verhältnis, so findet es ohne eine Teilung des Ganzen nur zwischen dem ganzen Objekt unter einem Standpunkt und dem ganzen Objekt unter einem anderen Standpunkt statt. Dann ist der Gegenstand, über den man beschließt, genauso allgemein wie der Wille, der beschließt. Diesen Akt nenne ich ein Gesetz" (IL6; 379; 97). Der Gesetzesbegriff beinhaltet zwei Allgemeinheitskriterien. Das aktive Allgemeinheitskriterium besagt: Gesetz kann nur ein Beschluss sein, der dem Willen aller Bürger entstammt. Niemand darf von der Entscheidung ausgeschlossen werden, denn jeder Bürger ist gleichberechtigter Mitgesetzgeber. Daher ist die Mitautorschaft eines jeden eine notwendige Bedingung legitimer Gesetzgebung. Das passive Allgemeinheitskriterium besagt: Gesetz kann nur ein Beschluss heißen, der sich inhaltlich auf die Allgemeinheit bezieht, der die allgemeinen Lebensumstände gestaltet und daher jeden in gleicher Weise trifft. Dadurch ist Gleichbehandlung gesichert, wird jede Form von Diskriminierung und Privilegierung abgewiesen. Wenn so die Allgemeinheit über sich selbst beschließt, dann ist jede Spaltung ausgeschlossen: Weder kann sich ein Partikularwille als Allgemeinwille ausgeben, noch kann das Gesetz zu unterschiedlichen Belastungen und Bevorzugungen in der Bevölkerung führen. Auch Kant orientiert sich an diesem Kriterium der doppelten Sender-Adressaten-Allgemeinheit, wenn er sagt, dass jedes Gesetz, von dem denkbar ist, dass die Bürgerschaft es sich selbst hätte geben können, als gerecht zu gelten habe. Denn wenn man fragt, wie denn ein Gesetz aussehen mag, das die Bürgerschaft sich sicherlich nicht selbst geben würde, dann wird die Antwort lauten, dass das Gesetze sind, die eine differente Behandlung unterschiedlicher Teile der Bürgerschaft ermöglichen, die Ungleichbelastungen implizieren und daher Vorrechte sichern, denn es ist nicht vorstellbar, dass die durch das Gesetz Benachteiligten ihre Zustimmung geben werden.
Der ursprüngliche Vertrag „ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Unterthan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist dieses nämlich so beschaffen, dass ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. dass eine gewisse Klasse von Unterthanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, dass ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten: gesetzt auch, dass das Volk jetzt in einer solchen Lage, oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, dass es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde."90
Freilich ist nicht ganz klar, ob die Allgemeinheit des Gesetzes bei Rousseau so weitreichende normative Implikationen hat wie bei Kant. Da Kant nicht von sittlich geläuterten und gemeinwohlfähigen Individuen, sondern bei seinem Gedankenexperiment der hypothetischen Zustimmung von rationalen Egoisten ausgeht, die bei der Gesetzgebung durchaus an deren Auswirkung auf ihre eigenen Interessen denken, steht Kants Allgemeinwille in der Nähe der konvergierenden Willen rationaler Egoisten. Rousseaus Gemeinwille ist hingegen auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet, orientiert sich also gerade nicht an der Auswirkung der Gesetze auf die Privatinteressen der Individuen und erhebt damit auch nicht die mögliche Zustimmung rationaler Egoisten zum Gerechtigkeitskriterium. Daher nehmen die Grenzziehungen der doppelten Allgemeinheitsbedingung des Gesetzes bei ihm auch einen anderen Verlauf als im kantischen Gedankenexperiment. Zwar müssen sich die Gesetze an die Gesamtheit der Untertanen richten und nur allgemeine Handlungsbeschreibungen enthalten, also „nie einen besonderen Menschen" adressieren und auch „nie eine einzigartige und individuelle Handlung" verlangen91, jedoch ist es, so Rousseau jedenfalls in der Erstfassung des Contrat social, mit dieser doppelten Allgemeinheitsschranke durchaus vereinbar, dass die Vergabe von Privilegien oder die Einteilung der Bürgerschaft in verschiedene Klassen durch ein Gesetz beschlossen werden kann. Das Rousseau'sche Allgemeinheitskriterium ist also weitaus ungleichheitstoleranter als das kantische. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Statur der abstimmenden Bürger: allgemeinheitsfähige Bürger, die stets dem Gemeinwohl den Vorzug geben, können durchaus Gesetze erlassen, die Ungleichheit einführen oder bestehende Ungleichheit vergrößern, wenn es ihrer Überzeugung nach um der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung des Gemeinwesens willen erforderlich ist. Sollten sie selbst Opfer dieser therapeutischen Ungleichheit sein, wird das ihr Abstimmungsverhalten als Bürger nicht beeinflussen.
Kants Gedankenexperiment rechnet mit dem eigeninteressierten Bürger. Wenn der Fürst sich fragen soll, ob die Gesamtheit der Bürger seinem Gesetz hätte zustimmen können, dann muss er sich nicht überlegen, ob sein Gesetz dem Gemeinwohl dient, sondern ob es gerecht ist. Und es ist dann eben aus der Perspektive des kantischen Vernunftrechts nicht gerecht, wenn aufgrund allgemeiner Menschenerfahrung anzunehmen ist, dass dieser oder jener, diese oder jene Gruppe, das Gesetz wegen offenkundiger Nachteiligkeit für sich abgelehnt hätte. Hier zeigt sich der große Unterschied zwischen der kantischen Republik des Rechts und der Rous- seau'schen Republik des Guten. Während bei Rousseau das Gute den Horizont der Gerechtigkeit bestimmt, zeigt bei Kant umgekehrt die Gerechtigkeit dem Guten die Grenze. Diese Inversion des Verhältnisses zwischen der Gerechtigkeit und dem Guten ist tief greifend. Während das Gute bei Rousseau das kollektive Gute ist, das als Erhaltungsinteresse des Gemeinwesens alle individuellen Glücksstrategien dominiert, existiert das Gute bei Kant ausschließlich im Gewand individueller Lebensführungsprogramme. Denn die Republik des Guten ist partikularistisch; und der politische Partikularismus kann sich eine normative Orientierung an einem gehaltvollen Begriff des Guten leisten, da er keinerlei Inklusionsverpflichtungen hat. Kants Republik des Rechts ist hingegen universalistisch und darf daher niemanden ausschließen. Es gibt aber kein gehaltvolles Konzept des Guten, das jeder politischen Gemeinschaftsform gleichermaßen einen verpflichtenden politischen Lebenssinn stiften könnte. Das Konzept des Guten ist nicht universalisierbar, daher kann sich ein um universelle Geltung bemühendes Staatsrecht nicht auf den Begriff des Guten stützen. Dann muss aber auch der Allgemeinwille, wenn er als Kriterium der Richtigkeit positiver Gesetze im Kontext einer Republik des Rechts verwendet wird, von einer materialen Gemeinwohlorientierung abrücken und sich auf die Bestimmung der Gleichheit bzw. der Vermeidung ungleicher Lastenverteilung bei der Freiheitseinschränkung und bei der Steuererhebung stützen.
Und darum muss Kant genau den Bürgertypus ins Spiel bringen, gegen den Rousseau seine Republik des Guten errichtet, dessen Verhinderung sein ganzes ethisch-politisches Bestreben ist: den Typus des eigeninteressierten, liberalen Individualisten, der die Gesetze daraufhin beurteilt, wie sie sich auf die Verwirklichung der eigenen Interessen auswirken.
Nur dann kann man den Vorteil eines gesetzlich geregelten Zusammenlebens mit der Bedingung unveräußerlicher individueller Autonomie verknüpfen, wenn die Gesetze selbstgegebene Gesetze sind. Und nur dann sind die Gesetze des Staates selbstgegebene Gesetze der Bürger, wenn die Bürgerschaft direkter Autor der Gesetze ist. Damit erweist sich der republikanische Gesetzesbegriff als die Auflösung des legitimationstheoretischen Rätsels des Contrat social, eine Form von Herrschaft zu finden, unter der jeder weiterhin ausschließlich sein eigener Herr bleibt.
„Diese Schwierigkeit, die unüberbrückbar zu sein schien, wurde durch die großartigste aller menschlichen Einrichtungen behoben, oder vielleicht gar durch eine himmlische Eingebung, die die Menschen lehrte, schon hier auf Erden die unverrückbaren Beschlüsse der Gottheit nachzuahmen. Auf welch unbegreifliche Art und Weise hat man das Mittel gefunden, die Menschen zu unterjochen, um sie frei zu machen (assujettir les hommes pour les rendre libres)? Um im Dienste des Staates die Güter, die Hände, das Leben selbst aller ihrer Mitglieder zu beanspruchen, ohne sie zu zwingen und ohne sie zu befragen? Ihren Willen an ihre eigene Zustimmung zu ketten (d'enchainer leur volonte de leur propre aveu)? Ihre Einwilligung gegen ihre Verweigerung durchzusetzen und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wie sie tun, was sie nicht tun sollten? Wie kommt es, dass sie gehorchen und niemand befiehlt, dass sie dienen und doch keinen Herrn haben? Und umso freier sind unter einer scheinbaren Unterwerfung, als jeder nur das von seiner Freiheit verliert, was der Freiheit eines anderen schaden kann? Das Wunder ist das Werk der Gesetze. Dem Gesetz allein verdanken die Menschen die Gerechtigkeit und die Freiheit. Dieses heilsame Organ des Gesamtwillens stellt im Recht die natürliche Gleichheit unter den Menschen wieder her. Diese göttliche Stimme diktiert jedem Menschen die Vorschriften der öffentlichen Vernunft und lehrt sie, nach den Maximen ihres eigenen Urteils zu handeln und mit sich selbst nicht in Widerspruch zu sein."92
Das Paradox freiheitsbewahrender Herrschaft kann nur durch die Herrschaft der Gesetze gelöst werden. Nur dann, wenn nicht Menschen über Menschen herrschen, sondern das Gesetz gleichermaßen über alle herrscht, ist Freiheit Wirklichkeit. Rousseau vertritt nicht mehr wie Hobbes die Imperativtheorie des Gesetzes. Das Gesetz ist kein Befehl eines Oberen an einen Unteren. Sondern das Gesetz ist Ausdruck der Selbstherrschaft des Volkes über sich selbst. Nicht das Gesollte, sondern das Gewollte macht den Begriff des Gesetzes im Kontext des republikanischen Kontraktualismus aus.
Aber diese Hymne an das Gesetz ist nur die erste Strophe vom großen Lied der Freiheit. Damit der Allgemeinwille wirklich zur Herrschaft gelangt und die Gesetze wirklich Ausdruck der Selbstherrschaft der Gemeinschaft über sich selbst sind, bedarf es der Voraussetzung der Tugend. „Wollt ihr, dass der Gemeinwille erfüllt werde? Dann müsst ihr alle Partikularwillen darauf abstimmen. Da die Tugend nun nichts anderes als diese Übereinstimmung der Einzelwillen mit dem Gemeinwillen ist, kann man dasselbe mit einem Wort zusammenfassen: Macht, dass die Tugend regiert!"93 Die Herrschaft der Freiheit setzt also die Herrschaft der Tugend voraus. Weil die Herrschaft der Freiheit nur im Rahmen einer autonomen Selbstgesetzgebung der Bürgerschaft möglich ist, diese hingegen nur gelingen kann und einen authentischen Ausdruck des Allgemeinwillens erreichen kann, wenn die Bürger, die Gesetzgeber, tugendhaft sind, in ihrem Denken, Fühlen und Urteilen ausschließlich sich am Gemeinwohl orientieren, wenn Entscheidungen über allgemeine Angelegenheiten anstehen. Wie aber entsteht diese Haltung in den Bürgern?
Die Antwort, die Rousseau in der Abhandlung über die Politische Ökonomie gibt, lautet: durch die Erziehung zur Vaterlandsliebe: „Wenn wir wollen, dass die Völker tugendhaft werden, müssen wir damit beginnen, dass sie das Vaterland lieben lernen."94 Aber nur das Vaterland kann ein Gegenstand der Liebe werden, das sich als liebenswert erweist, das geliebt zu werden verdient. Auch die Hingabe an das Ganze basiert auf einem Tauschverhältnis. Und das, was die Patrioten als Gegenleistung verlangen dürfen, ist: Schutz ihrer Habe, Respektierung ihrer Freiheit. Ersichtlich vertritt Rousseau einen politischen Patriotismus, der nichts mit dem ethnischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Nicht die ethnische Zugehörigkeit, nicht die Bande des Bluts, nicht biologische Genealogien und Geburtsurkunden bestimmen das Vaterland, sondern die in einem Gemeinwesen den Bürgern offerierte politische Lebensqualität. Das Vaterland ist ein Vaterland der Bürger. Es ist eine koinonfa politike aristotelischen Zuschnitts, eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen, die ihre Angelegenheiten selbst regeln. Unter Tyrannen und Despoten gibt es kein Vaterland, kann sich keine politische Autonomie entfalten. Erst dann kann ein Gemeinwesen von den Menschen als Vaterland erlebt, geschätzt und dann auch gegen äußere Feinde mit Engagement und Opfermut verteidigt werden, wenn es ihr Gemeinwesen ist. Und nur dann werden sie es als ihr Gemeinwesen betrachten, wenn sie sich selbst als gleichberechtigten Teil der Gemeinschaft ansehen können. Und nur dann ist diese identifikationsgünstige Bedingung erfüllt, wenn die Gemeinschaft sich selbst regiert, wenn die öffentliche Macht ausschließlich der Verwirklichung des Gemeinwohls dient.
Allgemeinwille, Wille aller, Mehrheitswille
Zum Verhältnis von „volonte generale" und „volonte de tous"
Noch in der Abhandlung über die Politische Ökonomie von 1755 hat Rousseau die volonte generale ausschließlich gerechtigkeitsethisch verstanden und mit ihr keinerlei herrschaftsrechtliche Präferenzen verknüpft. Sie war folglich nicht notwendig an die volonte de tous gebunden, sondern konnte als Richtigkeitskriterium der Gesetzgebung von jedem Gesetzgeber verwendet werden, sei dieser eine Einzelperson oder ein Gremium. Erst die Ausbuchstabierung des kontraktualistischen Assoziationsmodells bindet volonte generale und volonte de tous unauflöslich zusammen, erklärt die versammelte Bürgerschaft zum einzig legitimen Herrschaftssubjekt und damit den Willen aller zum einzigen Medium, durch das sich der Gemeinwille verwirklichen kann.
Freilich impliziert die unauflösliche Verknüpfung beider Willensformen nicht ihre Identität. Zwar kann die volonte generale nur durch die volonte de tous realisiert werden, da eben nur demokratische Selbstherrschaft legitime Herrschaft ist. Jedoch ist die volonte de tous kein Garant der volonte generale. Was alle wollen, ist nicht notwendig identisch mit dem, was die Allgemeinheit will. Offenkundig besteht für Rousseau eine wichtige Differenz zwischen dem distributiv Allgemeinen und dem kollektiv Allgemeinen. Das distributiv Allgemeine kommt durch Aggregation und Konvergenz zustande; es ist episodisch und okkasionalistisch; ändert sich die Entscheidungssituation, ist nicht damit zu rechnen, dass sich wieder eine Konvergenz der Interessen aller einstellen wird. Das kollektiv Allgemeine ist authentischer Ausdruck einer Einheit, die als eigene politisch-moralische Wirklichkeit immer schon in den Individuen lebt und daher jeder Abstimmung vorhergeht und diese zuverlässig prägt. Daher können Interessenkonvergenz, Konsens und einmütige Beschlussfassung nicht als empirische Indikatoren des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit dienen.
Die volonte de tous kann das treffen, was die volonte generale will, aber sie kann es genauso gut verfehlen. Und selbst wenn volonte de tous und volonte generale konvergieren würden, wüsste es der Wille aller nicht mit Notwendigkeit. Denn der Wille aller ist erst einmal nichts anderes als die Aggregation von Einzelwillen, die ihr individuelles Interesse verfolgen, ihren individuellen Meinungen und Bewertungen verhaftet sind. Da der selbst ja bereits empirisch höchst unwahrscheinliche Gesamtwille kein zuverlässiger Indikator des Gemeinwohls ist, ist also die Konsenssuche keinesfalls ein Königsweg zur Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit steht im Dienst des Guten; und das Gute ist das, was im Interesse des Allgemeinen liegt, was der Erhaltung, inneren Stabilisierung und Verbesserung der politischen Einheit dient. Gerechtigkeit ist Egoismus des Allgemeinen. Damit

sich aber dieser Egoismus des Allgemeinen entfalten kann, damit das moi commun seine Interessen unverfälscht äußern kann, müssen die vielen einzelnen Ichs von der Strategie individueller Nutzenmaximierung abrücken, müssen sie ihrerseits bereits empfänglich für die Erfordernisse des Gemeinwohls sein. Und ob dieses der Fall ist oder nicht, ist gänzlich unabhängig von irgendeinem Verfahren. Daher ist es durchaus möglich, dass sich die volonte generale auch als Mehrheitswille äußern kann. Aber eben nur dann, wenn in der Gesellschaft noch so viel sittliche Substanz, noch so viel Gemeinschaftlichkeit enthalten ist, dass das Gemeinwohl im Kräftespiel der Interessen die Oberhand behält. Der Mehrheitswille kann dann als Gemeinwille angesehen werden, wenn die citoyens noch die Mehrheit besitzen. Sollten die citoyens nur noch eine politische Minorität darstellen, dann ist ihr Wollen Ohnmacht und Nostalgie, weil die Gemeinschaft nicht mehr besteht, um deren Bestand und Kontinuierung sie sich Sorgen machen. Dann wird irgendwann die volonte generale nur noch einen Cato auf ihrer Seite haben.
„Oft besteht ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller (volonte de tous) und dem Gemeinwillen (volonte generale). Er zielt nur auf das Gesamtinteresse, der andere auf das Einzelinteresse und ist nur die Summe der Einzelinteressen. Zieht man davon die Extreme ab, die sich gegenseitig aufheben, so bleibt als Summe der Differenzen der Gemeinwille übrig" (II.3; 371; 88). Rousseau ist ein begnadeter Schriftsteller, dessen Talent besonders in der Kritik aufblüht. Und wenn sich die kritisierte Sache zudem noch mit der eigenen verwundeten Seele verbindet, wenn die Kritik zur Klage wird, dann strömen seine Worte hinreißend. Um die Prinzipien des Staatsrechts im Rahmen einer philosophischen Argumentation zu entwickeln, bedarf es jedoch einer begrifflichen Genauigkeit, die nicht zu Rousseaus Tugenden gehört. Der Gesellschaftsvertrag ist gespickt mit missverständlichen Sätzen. Dies ist so einer, scheint er doch ein Verfahren zu nennen, mit dem sich nahezu schematisch der Allgemeinwille aus der Summe der Willensäußerungen ermitteln lässt - wie bei der Wertung sportlicher Leistungen, bei denen bei bestimmten Disziplinen ebenfalls die Extremwertungen herausfallen und die restlichen addiert werden. Offenkundig hat Rousseau hier so etwas im Sinn wie Kompromissbildung; Suche nach Gemeinsamkeit, die nur dann zu einem Erfolg führt, wenn alle von dem sie Trennenden abrücken und sich auf das sie Verbindende konzentrieren.
Die volonte de tous, die Einzelinteressen summiert, ist offenkundig ein Wille, der ein einstimmiges Ergebnis hat. Zwar wollen nicht alle dasselbe, aber sie wollen das Gleiche. Jeder will ausschließlich für sich, aber was jeder ausschließlich für sich will, ist gleich. Würde eine direkt-demokratische gesetzgeberische Versammlung sich in ihrer Gesetzesproduktion auf diese Fälle eines konvergierenden, eines generalisierbaren Egoismus beschränken, dann würde in dem Geltungsbereich dieser Gesetze ebenfalls jeder ausschließlich sich selbst gehorchen, dann wäre die Rousseau'sche Bedingung legitimer Herrschaft erfüllt. Eine solche Form der Allgemeinheitsgewinnung ist nicht ungewöhnlich; sie bildet immerhin das Rückgrat des kontraktualistischen Arguments. Aber im Rahmen des Rousseau'schen Denkens ist die Vorstellung, das Gemeinwohl durch die Konvergenzzonen sich überlappender Privatinteressen zu definieren, gänzlich abwegig.
In der Forschung ist der Unterschied zwischen volonte de tous und volonte generale oft nicht richtig gesehen worden. Wenn gilt: „Der Gemeinwille umfasst konsequenterweise nur jene Inhalte des Selbstinteresses, die (a) nicht mehr in isolierter Existenzweise, sondern nur im Verein realisierbar, die (b) zugleich Objekte des Selbstinteresses jedes einzelnen Bürgers sind und die (c) als unter alle teilbar gesetzt werden können"95, dann stellt sich die Frage, warum denn der Wille aller und der Allgemeinwille je auseinander treten können. Denn die hier aufgezählten Definitionselemente bestimmen genau das, was man in der politischen Ökonomie als öffentliches Gut bezeichnet; öffentliche Güter sind Güter, die alle Individuen gleichermaßen wollen, weil sie eine signifikante Verbesserung ihrer Nutzenposition darstellen, folglich distributiv vorteilhaft sind, und weil sie durch private Anstrengungen nicht produziert werden können. Genau diese Überlegung hat die Hobbes'schen und die Locke'schen Menschen aus dem Naturzustand herausgetrieben. Sowohl der Hobbes'sche als auch der Locke'sche Vertrag konstituiert eine volonte de tous; in beiden Fällen ruht die Übereinstimmung auf dem Sockel eines generalisierten Egoismus. Wäre diese Lesart richtig, würde nicht nur die Differenz zwischen dem Willen aller und dem Gemeinwillen wegfallen, sondern dann würde auch der Unterschied zwischen substanzieller republikanischer Einheit und universalistischer liberaler Einheit verschwinden, dann würde sich Rousseau nahtlos in die moderne kontraktualistische Traditionslinie eingliedern.
Es wird oft übersehen, dass die volonte de tous empirisch nicht weniger unwahrscheinlich ist als die volonte generale. Die volonte de tous ist genauso eine theoretische Konstruktion wie die volonte generale. Sie taucht philosophiegeschichtlich zuerst im Kontraktualismus auf, denn der vertraglich übereinstimmende Wille der Naturzustandsbewohner ist ein Musterbeispiel einer volonte de tous: Alle wollen das Gleiche, weil das, was jeder für sich will, identisch ist. Die Allgemeinheit der volonte de tous ist eine distributive Allgemeinheit, ist konvergierendes Einzelinteresse, ist ein Konsens von rationalen Egoisten. Die Möglichkeit eines solchen Konsenses ist in hohem Maße abhängig von dem Inhalt. Nur solche Interessen können die Zustimmung aller finden, die als notwendige Voraussetzungen individueller Interessenbildung überhaupt identifizierbar sind. Ich nenne solche Interessen transzendentale Interessen und die ihnen entsprechenden Güter transzendentale Güter. Transzendentale Güter erweisen sich aus der Perspektive des menschlichen Individuums als grundlegende Lebensvoraussetzungen. Dazu zählen: das Leben selbst, körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Gesundheit, daseinssichernde Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wohnung und Kleidung usf. Von derartigen Gütern gilt allgemein, dass sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist. Ihr gesicherter Besitz ist für die Menschen notwendig, damit sie ihre unterschiedlichen Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können. Sie werden nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern nur als unerlässliche Ermöglichungsbedingungen für ein gelingendes, sich in Nebensächlichkeiten zerstreuendes Leben. Güter dieser Art stellen also universelle Präferenzen dar; ein jeder hat diese Präferenzen, denn sie müssen erfüllt sein, damit er ein Leben im Horizont seiner individuellen Präferenzen führen kann. In Zeiten der Normalität bleiben diese Grundgüter unauffällig; denn dann sind wir uns ihres Besitzes sicher und vergessen in der Routine des ruhigen Lebensalltags ihren Wert. Wenn sie uns jedoch knapp werden und wir darum in existenzielle Grenzsituationen und Notlagen geraten, dann bilden sie den einzigen Inhalt unserer Sorge; alle anderen Interessen verblassen dann, der Erwerb und Wiedererwerb der transzendentalen Güter wird zum ausschließlichen Ziel unseres Handelns.
Der enge Zusammenhang zwischen dem neuzeitlichen Kontraktualis- mus und der volonte de tous ist deutlich geworden. Aber die in der volonte de tous enthaltene Allgemeinheitsvorstellung ist nicht die Allgemeinheitsvorstellung der volonte generale. Die Formel der kontraktualistischen Gerechtigkeit lautet: Gerechtigkeit ist allgemeinheitsfähiger Egoismus. Die Formel der republikanischen Gerechtigkeit lautet: Gerechtigkeit ist Egoismus des Allgemeinen. Historisch ist der Sachverhalt klar: Gerade weil die substanzielle Allgemeinheit nicht mehr zur Verfügung steht, das sittliche Gemeinwohl der Traditionswelt aufgrund der modernitätseigentümlichen Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung keinen allgemein verbindlichen normativen Orientierungswert mehr besitzt, musste der Kontraktualismus sich darum bemühen, Allgemeinheit auf individualistischer Grundlage herzustellen. Es wäre also aberwitzig, die von Rousseau gegen den generalisierten Egoismus der modernen Theorie in Stellung gebrachte volonte generale nach dem Muster konvergierender Einzelinteressen auszulegen. Das wäre mit der Emphase nicht vereinbar, mit der Rousseau die Gemeinschaft, die politische Einheit, das gemeinschaftliche Ich als politisches Subjekt einführt. Dieses politische Subjekt hat keinen Willen, der identisch ist mit den Konvergenzbereichen individueller Interessenlagen; dieses politische Subjekt hat einen eigenen, davon verschiedenen Willen. Dieser Wille ist ebenfalls auf Selbsterhaltung, Kontinuierung und Glücksmehrung gerichtet; aber seine Sorge gilt der Erhaltung, Kontinuie- rung und Glücksmehrung der Gemeinschaft.
Aber die republikanische Emphase darf nicht mit metaphysischer Überschwänglichkeit verwechselt werden. Trotz seiner deutlichen anti-individualistischen Affekte ist Rousseau kein Anhänger einer holistischen Ontologie. Nur im Willen der Bürger lebt die volonte generale', nur in dem sie verbindenden sozialen Band, in der in ihrem Denken, Fühlen, Wollen wirksamen Gemeinwohlorientierung lebt die Gemeinschaft. Daher ist das gemeinsame Beschlussfassen eine unerlässliche Bedingung für die Entstehung des Gemeinwillens. Jedoch ist es nicht auch bereits schon die hinreichende Bedingung. Damit die volonte generale ihre republikanische Epiphanie erleben kann, bedarf es zusätzlicher, von allen Abstimmungsmodalitäten und Beratungsprozeduren unabhängiger Voraussetzungen.
„Solange sich eine Anzahl von versammelten Menschen als einen einzigen Körper betrachtet, haben sie gemeinsam nur einen einzigen Willen, der sich auf die gemeinsame Erhaltung und auf das allgemeine Wohl bezieht. Dann sind alle Triebkräfte des Staates kraftvoll und einfach, seine Grundsätze klar und deutlich; er hat keine Interessen, die verwickelt und widersprüchlich sind. Das allgemeine Wohl tritt überall deutlich hervor, und man braucht nur gesunde Vernunft, um es wahrzunehmen [...] Wenn das soziale Band nachgibt und der Staat schwächer wird, wenn sich die Privatinteressen bemerkbar machen und die kleinen Parteien auf die Gesellschaft Einfluss auszuüben beginnen, dann verändert sich das Gemeininteresse und erzeugt Gegner; es herrscht keine Einstimmigkeit mehr, und der Gemeinwille ist nicht mehr der Wille aller; Widersprüche und Einwände werden laut, und die beste Ansicht wird nicht ohne Streit angenommen. Wenn schließlich der untergehende Staat nur mehr in einer Scheinform besteht und leer ist, das Gesellschaftsband in allen Herzen zerrissen ist und krasser Eigennutz sich schamlos mit dem heiligen Namen des Allgemeinwohls schmückt, dann verstummt der Gemeinwille, und die Leute, von geheimen Beweggründen geleitet, argumentieren nicht mehr als Bürger, sondern als ob der Staat niemals existiert hätte, und unter dem Namen von Gesetzen treten gesetzlose Verordnungen in Kraft, die nur das Privatinteresse zum Ziel haben" (IVl;437f.; 167 t).
Diese Passage lüftet das Geheimnis, das über der volonte generale liegt. Sie ist frei von allen Anflügen eines prozeduralistischen Selbstmissverständnisses der Gemeinwillenkonzeption. Voraussetzung für Existenz und Wirksamkeit des Gemeinwillens ist Bürgergesinnung, Tugendhaftigkeit, gelebte Gemeinschaftlichkeit. Dass jedem Individuum ein gleiches Recht auf faktische Mitwirkung bei der Gesetzgebung zukommt, ist so lange eine kontrak- tualistische Formalie wie die Menschwerdung, die Verwandlung des Naturwesens in ein moralisches Wesen, und die Bürgerwerdung, die Verwandlung des Einzelwesens in ein Gemeinschaftswesen, nicht vollzogen worden sind. Denn durch die gemeinsame Beratschlagung und Beschlussfassung mag dem hohen freiheitsrechtlichen Anspruch Genüge getan werden, doch ist
gemeinsames Gesetzgeben selbst noch nicht Garantie einer gerechten, und das heißt: gemeinwohlorientierten Politik. Nicht das organisationspolitische Herrschaftsschema des Assoziationsvertrags verhilft der volonte generale zur Erscheinung, sondern erst die Versittlichung der Vertragspartner. Damit die volonte de tous Medium des Gemeinwillens sein kann, müssen alle Bürger dem Gemeinwohl verpflichtete Patrioten sein.
In dem Maße, in dem das soziale Band schwächer wird, die Bürger das Gemeinwohl missachten und ausschließlich an der Mehrung ihres Eigennutzens interessiert sind, wird die volonte generale schwächer. Denn Tugendhaftigkeit ist das Ferment, das den Gemeinwillen in die Existenz bringt. Schwindet die Tugendhaftigkeit, verliert der Gemeinwille jede Möglichkeit, in die Existenz zu treten, verliert das Gemeinwohl jede politische Unterstützung. Was der nach wie vor legislatorische Souverän an Gesetzen produziert, kann dann irgendwann auch nicht mehr als Gesetz bezeichnet werden, da das Gemeinwohl unsichtbar geworden ist und nur noch obsiegende Partikularinteressen sich mit Gesetzen unwiderstehlich machen. Der Beginn des sittlichen Niedergangs eines Gemeinwesens ist das Auftreten von Parteien und Fraktionen. Parteien und Fraktionen sind sich politisch organisierende Partikularität. Diese skeptische Einstellung gegenüber Parteien ist ein republikanischer Gemeinplatz. Ein weiterer Gemeinplatz ist die Überzeugung, dass ein tüchtiges, tugendhaftes Gemeinwesen mit wenigen Gesetzen auskommt. Eine wachsende Anzahl von Gesetzen ist ein Zeichen beginnender Lasterhaftigkeit; wenn sich sittliche Schwäche breit macht, sich die Einzelinteressen aus dem disziplinierenden Griff der Tugendhaftigkeit emanzipieren, auseinander driften und sich wechselseitig zu verdrängen trachten, werden die gesellschaftlichen Verhältnisse unübersichtlich, die zwischenmenschlichen Beziehungen verwickelt; der gesellschaftliche Bedarf an Koordinationsregeln steigt, immer mehr Gesetze sind vonnöten, Gesetze, die nicht mehr der Beförderung des Gemeinwohls dienen, sondern lediglich die Konflikte sich verabsolutierender Einzelinteressen regulieren.
Da die Konsenschancen immer geringer werden, je mehr sich die Menschen von ihren Privatinteressen leiten lassen, ist die schnell erzielte Einigkeit ein Anzeichen dafür, dass der Gemeinwille noch lebt und wirksam ist. „Je mehr Übereinstimmung bei den Volksversammlungen herrscht, d. h. je mehr sich die Ansichten der Einstimmigkeit nähern, um so dominanter ist der Gemeinwille. Lange Debatten dagegen, Streitigkeiten und Tumulte zeigen das Anwachsen der Privatinteressen und den Niedergang des Staates" (IV.2; 439; 169 f.).
„Volonte generate" und Mehrheitsprinzip
Ohne die mit dem vertraglichen Konstitutionsakt von vornherein verbundene Verpflichtung, sich den Mehrheitsbeschlüssen zu unterwerfen, kann der politische Körper nie Handlungsfähigkeit gewinnen und die ihm zugewiesenen Funktionen der Rechtsicherung durch Legislation, Jurisdiktion und Exekution effektiv wahrnehmen. „Denn wenn man nicht vernünftigerweise die Übereinkunft der Mehrheit für den Beschluss der Gesamtheit hält, der jedes Individuum verpflichten soll, so kann nur die Zustimmung jedes Einzelnen etwas zum Beschluss machen. Eine solche Zustimmung jemals zu erlangen ist aber so gut wie unmöglich"; politische Herrschaft auf das Einmütigkeitsprinzip zu gründen „würde dem mächtigsten Leviathan eine kürzere Lebensdauer geben als den schwächsten Kreaturen und ihn nicht einmal den Tag seiner Geburt überleben lassen"96. Aus diesem Grund „muss von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer Gesellschaft vereinigen, auch vorausgesetzt werden, dass sie alle Gewalt, die für das Ziel, um deretwillen sie sich zu einer Gesellschaft vereinigen, notwendig ist, an die Mehrheit der Gesellschaft abtreten. Und das geschieht durch die bloße Übereinkunft, sich zu einer politischen Gesellschaft zu vereinigen, was schon den ganzen Vertrag enthält, der zwischen den Individuen, die in das Staatswesen eintreten oder es begründen, geschlossen wird und notwendig ist. So ist der Anfang und die tatsächliche Konstituierung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer für die Bildung der Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gemeinschaft einzugliedern. Und allein nur das ist es, was jeder rechtmäßigen Regierung auf der Welt den Anfang gegeben hat oder geben konnte."97
Neben der großen staatsphilosophischen Aufgabenstellung der Herrschaftslegitimation gerät die Aufgabe der normativen Begründung des Majoritätsprinzips allzu schnell aus dem Blick. Die Kontraktualisten haben erkannt, dass zwischen dem normativ notwendigen gesellschaftsvertraglichen Egalitarismus und dem pragmatisch unerlässlichen Majoritätsprinzip eine Spannung besteht, die nur durch eine normative Begründung der Mehrheitsregel aufgelöst werden kann. Diese ist jedoch nicht extra-kon- traktualistisch zu erlangen, sondern muß sich auf das Argument des gesellschaftsvertraglichen Egalitarismus selbst stützen. Damit rückt die Mehrheitsregelentscheidung mit in das Zentrum des staatsphilosophischen Kontraktualismus. Die demokratische Urversammlung hat neben der Bildung einer gesellschaftlich-politischen Einheit, neben der Formung eines Souveränitätsschemas immer auch die Aufgabe, durch einmütige Einigung auf das Entscheidungsverfahren des Majoritätsprinzips, dieser unerlässlichen Entscheidungsregel für Realsituationen, die erforderliche normative Begründung zu verleihen.
Weil das Mehrheitsverfahren nicht nur die Konsensfindungskosten senkt und damit Handlungsmächtigkeit bewahrt, sondern darüber hinaus auch alle Angehörigen der Minderheit zur Respektierung der Mehrheitsentscheidung verpflichtet, also nicht nur auf eingesehene Effizienz setzt, sondern sich auf ein Recht der Mehrheit und eine korrespondierte Pflicht der Minderheit beruft, ist eine Fundierung des Mehrheitsprinzips in einem allseits verpflichtenden Basiskonsens notwendig. Konsenseinschränkungen auf der Entscheidungs- und Handlungsebene können nur dann legitim sein, wenn sie durch einen Konsens auf der Verfassungsebene zugelassen worden sind. Umgekehrt lässt sich folglich auch aus dem Postulat der normativen Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips ein Argument für den legitimierenden Basiskonsens und für den Gesellschaftsvertrag ableiten: die aus unzähligen Individualhandlungen gewebte Kollektivhandlung, durch die aus Individuen ein Volk, durch die ein Volk zu einem Volk wird. So hat ja auch Rousseau im Gesellschaftsvertrag argumentiert:
„Nach Grotius ist ein Volk also schon ein Volk, ehe es sich einem Könige überantwortet. Diese Überantwortung selbst ist eine rechtlich-politische Handlung und setzt eine Volksabstimmung voraus. Ehe man also die Handlung untersucht, durch die ein Volk einen König wählt, täte man gut daran, die Handlung zu prüfen, durch welche ein Volk zum Volke wird. Denn da diese Handlung notwendig der anderen vorausgeht, ist sie die wahre Grundlage der Gesellschaft. In der Tat, wenn es keine vorausgehende Übereinkunft gäbe, woher käme, sofern die Wahl nicht einstimmig ist, die Verpflichtung der Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen? Und woher haben hundert, die einen Herrn haben wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit ist selbst nur durch Übereinkunft entstanden und setzt voraus, dass wenigstens einmal Einstimmigkeit geherrscht habe" (1.5; 72).
In seiner Darstellung des Vertrages findet sich freilich keine ausdrückliche Einführung des Mehrheitsprinzips. Und das scheint auch nur konsequent zu sein. Denn ist das Mehrheitsprinzip nicht aus systematischen Gründen mit dem herrschaftslegitimatorischen Konzept Rousseaus unverträglich? Schließlich soll der Vertrag eine Herrschaftsorganisation etablieren, in der jeder so frei bleibt, wie er zuvor im Naturzustand gewesen ist. Und diese Bedingung kann nur erfüllt werden, wenn jedem das Recht eingeräumt wird, nur selbstgegebenen Gesetzen zu gehorchen. Damit ist nicht nur verlangt, dass jeder bei der Beratung und Beschlussfassung der Legislative gleichberechtigt mitwirken kann; damit ist auch gefordert, dass es keine anderen Gesetze geben kann als einmütig verabschiedete. Natürlich ist die Einmütigkeitsbedingung desaströs für jede Politik, stattet sie doch jeden Einzelnen mit einem Vetorecht aus, macht sie den Staat damit zur Geisel von Querulanten, Dissidenten und Egoisten. Aber, so scheint es, genau diese Einmütigkeitsbedingung ist für Rousseau unverzichtbar. Im 4. Buch jedoch, im Kapitel über das Stimmrecht, lesen wir, dass es nur ein einziges Gesetz gibt,
„das seiner Natur nach Einstimmigkeit verlangt: den Gesellschaftsvertrag. Denn die bürgerliche Vergesellschaftung ist die freiwilligste Handlung von der Welt. Weil jeder Mensch von Geburt an frei und Herr seiner selbst ist, kann ihn niemand - unter welchem Vorwand auch immer - ohne seine Einwilligung unterwerfen. [...] Abgesehen von diesem Urvertrag ist die Stimmenmehrheit für alle anderen verpflichtend. Sie ist eine Folge aus dem Vertrag selbst. Die Frage lautet: Wie kann ein Mensch frei und dennoch gezwungen sein, sich dem Willen anderer, der nicht sein Wille ist, zu fügen? Wie können Opponenten frei und trotzdem Gesetzen unterworfen sein, denen sie nicht zugestimmt haben? Meine Antwort lautet, dass die Frage falsch gestellt worden ist. Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst denen, die gegen seinen Willen erlassen worden sind, ja selbst denen, die ihn bestrafen, wenn er ein Gesetz zu verletzen wagt. Der beständige Wille aller Mitglieder des Staates ist der Gemeinwille; durch ihn sind sie erst Bürger und frei. Wenn in einer Volksversammlung ein Gesetz vorgeschlagen wird, so heißt die Frage an das Volk nicht, ob es dem Vorschlag zustimmen oder ihn ablehnen soll, sondern ob er dem Gemeinwillen, der ja ihr Wille ist, entspricht oder nicht. Jeder gibt mit seiner Stimme seine Meinung kund, und aus der Stimmenzahl liest man den Gemeinwillen ab. Wenn ich überstimmt werde, so beweist das nur, dass ich mich geirrt habe, und dass es nicht der Gemeinwille war, was ich dafür gehalten habe. Hätte sich meine persönliche Meinung durchgesetzt, dann hätte ich etwas anderes getan, als ich gewählt habe: gerade dann wäre ich nicht frei gewesen. Das setzt in der Tat voraus, dass alle Kennzeichen des Gemeinwillens auch wirklich in der Stimmenmehrheit zu sehen sind. Sind sie es nicht mehr, dann gibt es auch keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreift" (IV.2; 171/2).
Man muss dieses Zitat von rückwärts lesen, dann bleibt die Verwirrung aus, die sich notwendig einstellt, wenn man die in den letzten beiden Sätzen mitgeteilte Bedingung nicht mitdenkt und von einer sittlich unqualifizierten Mehrheit ausgeht. Denn dass der Mehrheitswille für alle verpflichtend ist, ist keinesfalls aus dem Vertrag ableitbar. Aus dem Vertrag ist allein ableitbar, dass zum einen jeder Bürger ein unveräußerliches Mitherrschaftsrecht hat und zum anderen der Allgemeinwille allgemein verpflichtend ist. Setzen wir aber nun einmal voraus, dass während der Assoziation der Bürger auch das Mehrheitsprinzip als staatsrechtlich legitime Entscheidungsregel eingeführt worden ist - auf der Grundlage von pragmatischen Überlegungen, wie sie etwa Locke angestellt hat -, dann stellt sich Rousseau das große Problem, wie sichergestellt werden kann, dass der Mehrheitswille als Ausdruck des Allgemeinwillens gelten kann. Denn was für die volonte de tous gilt, gilt für den bloß mehrheitlichen Willen a fortiori. Wenn schon die volonte de tous nicht notwendig mit der volonte generale in Übereinstimmung steht, dann der Mehrheitswille erst recht nicht.
Zwei Mehrheitsprinzipien
In der Mitte des obigen Zitats steht eine der wichtigsten Passagen für ein angemessenes Verständnis des Contrat social'. „Wenn in einer Volks

Versammlung ein Gesetz vorgeschlagen wird, so heißt die Frage an das Volk nicht, ob es dem Vorschlag zustimmen oder ihn ablehnen soll, sondern ob er dem Gemeinwillen, der ja ihr Wille ist, entspricht oder nicht." Alles hängt also davon ab, dass die Abstimmungsprozedur auf die richtige Frage antwortet. Werden die Bürger gefragt, ob die Gesetzesvorschläge mit ihren Interessen in Übereinstimmung stehen? Oder lautet die Frage: Welcher der Gesetzesvorschläge ist deiner Meinung nach dem Gemeinwohl am dienlichsten? Im ersten Fall würde das Gesetz eine Mehrheit hinter sich bringen, das mit den meisten Privatinteressen übereinstimmt. Im zweiten Fall würde das Gesetz eine Mehrheit hinter sich bringen, das den Gemeinwohlmeinungen der meisten entspricht. Wenn eine Mehrheit den Anspruch erheben kann, für den Gemeinwillen genommen zu werden, dann die Mehrheit im zweiten Fall. Es ist nicht einzusehen, in welcher Beziehung die Mehrheit des ersten Falls zu irgendeinem Gemeinwillen stehen kann. Wird die Mehrheit so, wie im ersten Fall angegeben, ermittelt, dann gibt es entweder keinen Gemeinwillen, oder keine Anwendung des Mehrheitsprinzips kann je den Anspruch erheben, den Gemeinwillen zur Darstellung zu bringen.
Der entscheidende Punkt ist, dass das Mehrheitsprinzip nicht Interessenübereinstimmungen zählt, sondern übereinstimmende Gemeinwohlinterpretationen. Der entscheidende Punkt ist also die Einstellung, mit der die Bürger die ihnen vorliegenden Gesetzesvorschläge betrachten: Achten sie nur darauf, ob und wie sie in ihre private Interessenstrategien passen, dann hat die Republik verloren, dann wird der Gemeinwille für immer stumm bleiben. Gehen die Bürger hingegen an die Aufgabe mit der Frage heran, was sie für gemeinwohldienlich halten, was sie für sich als Gemeinschaft als Gesetz wollen, dann kann das Mehrheitsprinzip durchaus als Gemeinwohlindikator dienen. Im ersten Fall haben wir ein Mehrheitsprinzip der Ich-Per- spektive. Im zweiten Fall haben wir ein Mehrheitsprinzip der Wir-Perspek- tive. Die Wir-Perspektive einzunehmen verlangt, den Ich-Standpunkt zu transzendieren, der in der Ich-Perspektive absolut gesetzt wird.
Das Mehrheitsprinzip der Ich-Perspektive ist pragmatisch und ohne jede kognitive Funktion. Es ermöglicht eine Kooperation in einer pluralistischen und individualistischen Gesellschaft. Es dient nur dem Zweck, die Mehrheit zu finden. Das Mehrheitsprinzip der Wir-Perspektive ist hingegen kognitivistisch. Es ist ein Mittel zur Erkenntnis des Gemeinwohls. Und kann darum als Erkenntnismittel dienen, weil unter der Voraussetzung, dass die Bürger von ihren Privatinteressen absehen und die Abstimmung von vornherein unter die Frage stellen, was dem Gemeinwohl in dieser Situation am dienlichsten ist, eine Gemeinwohlinterpretation, die die Mehrheit gefunden hat, eine starke Richtigkeitspräsumtion auf ihrer Seite hat und getrost für den Gemeinwillen genommen werden kann. Nur dann, wenn das Mehrheitsprinzip als Mehrheitsprinzip der Wir-Perspektive verstanden wird, macht die Vorstellung Sinn, die Mehrheit könnte den Gemeinwillen zum Ausdruck bringen. Aber es wird auch deutlich, wie anspruchsvoll diese Variante des Mehrheitsprinzips ist. Damit es die in es gesetzten republikanischen Hoffnungen erfüllen kann, muss es auf Bürger angewandt werden. Die Abstimmenden müssen Bürger sein, müssen Gemeinsinn haben, sonst gehen sie mit einer falschen Fragestellung in die Abstimmung.
„Damit sich der Gemeinwille klar ausdrücken kann, darf es im Staat keine Sondergesellschaften geben, und jeder Bürger darf nur seiner eigenen Meinung folgend abstimmen" (II.3; 372; 89). Rousseaus Kampf gegen den politischen Einfluss von Sondergesellschaften, von Gruppen, Verbänden, Parteien macht übrigens auch nur im Licht der zweiten Lesart des Mehrheitsprinzips Sinn. Im Lichte der ersten Lesart ist es gleichgültig, ob Bürger sich schon im vorpolitischen Raum zusammenfinden, um ihre Interessen zu organisieren, und dann bei der Abstimmung versuchen, ihrem gebündelten Interesse Einfluss zu sichern - während bei der zweiten Lesart die Sondergesellschaft eine Gefahr darstellt, da sie die Gemeinwohlorientierung als Camouflage benutzen kann, um ihr Partikularinteresse unter dem Deckmantel des Gemeinwohls durchzusetzen. Hier ist in der Tat die Separatheit, das Fürsichsein des Stimmbürgers eine Forderung, die um der Sicherung der Möglichkeit, den Gemeinwillen zu finden, aufgestellt werden muss.
Es ist durchaus denkbar, dass wir eine plebiszitäre Demokratie haben, in der der Gemeinwille nicht zur Sprache kommt. Nicht die Einmütigkeit bei der Gesetzgebung sorgt dafür, dass die starke Autonomiebedingung erfüllt ist, denn der Wille aller ist nicht der Allgemeinwille. Wie die Analyse des Verhältnisses von Gemeinwille, Wille aller und Mehrheitswille gezeigt hat, ist die Freiheit in der Republik keine ausschließliche Funktion von Verfahrensrechten. Zwar besitzt jeder das unveräußerliche Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Aber die von der prozedural-staatsrechtlichen Ebene unabhängige Normativität der volonte generale verlangt, das Recht auf politische Herrschaft mit der Herrschaft des Allgemeinwillens zu verknüpfen. Und diese Verknüpfung gelingt nur, wenn die Wahrnehmung dieses Rechts auf Mitgesetzgeberschaft unter bestimmte, staatsrechtsexterne und prozeduralistisch uneinlösbare ethische Bedingungen gestellt wird. Erst dann, wenn sich der Bürgersinn des Rechts auf politische Herrschaft bedient, ist die Herrschaft des Allgemeinwillens gesichert, ist die Republik ein Ort wirklich gewordener Freiheit. Denn wenn der Allgemeinwille herrscht, sei es in Gestalt des Willens aller, sei es in Gestalt einer Mehrheitsentscheidung, dann leben alle in Freiheit, auch die, die überstimmt worden sind. Diese sind nicht um ihre Freiheit gebracht worden, diese, so sagt Rousseau, haben sich nur geirrt. Wie ist das zu verstehen?
Bürger, so haben wir gelernt, nähern sich den zur Abstimmung vorgelegten Gesetzen mit der Frage, ob sie dem Gemeinwillen entsprechen. Es existiert kein Gemeinwohlwissen; es gibt kein Gemeinwohl a priori; die Bürger der Rousseau'schen Republik sind keine platonischen Philosophen, die einen unmittelbaren Zugang zu den Ideen des Guten und Gerechten haben. Die Bürger sind die einzigen Gemeinwohlexperten, auf die die Republik sich stützen kann. Aber dieses Expertentum ist kein kognitives, sondern ein ethisches. Es bedarf schon der konzentrierten Beratung und Abstimmung, um herauszufinden, was das Gemeinwohl in der vorliegenden Situation verlangen könnte. Es existiert in den Bürgern nur eine Gemeinwohleinstellung, eine grundlegende Disposition, die eigenen Interessen hintanzustellen und ausschließlich nach der Allgemeindienlichkeit des Gesetzes, nach seinen Auswirkungen auf Bestand und Qualität der Gemeinschaft zu fragen. Da kein Gemein wohlwissen, sondern nur eine Gemeinwohlwilligkeit in den Bürgern vorhanden ist, gibt es unterschiedliche Gemeinwohlinterpretationen. Sicherlich werden sie nicht allzu sehr voneinander abweichen, aber es wäre unrealistisch, spontane Einmütigkeit zu erwarten. Die Abstimmung wird zeigen, welche der Interpretationen die Mehrheit hinter sich hat. Und es besteht kein Anlass, diese mehrheitlich vertretene Gemeinwohlinterpretation nicht für das zu halten, was das Gemeinwohl in der vorliegenden Situation verlangte. Denn würde weiterhin an einer normativen Differenz zwischen dieser mehrheitlichen Gemeinwohlinterpretation und dem wirklichen Gemeinwohl festgehalten, dann muss auch angegeben werden, wie diese Differenz festgestellt werden kann. Es gibt aber keinen, der hier analog zum platonischen Philosophen als Hüter des Gemeinwohls zu Rate zu ziehen wäre. Gäbe es ihn, wäre sein Wille der Allgemeinwille; gäbe es ihn, müsste man ihn zum Gesetzgeber machen. Damit würde aber die ganze staatsrechtliche Konstruktion in sich zusammenbrechen. Also kann es kein Gemeinwohl a priori geben; also ist auch in der Republik Rousseaus nur ein Gemeinwohl a posteriori zu erreichen.98
Dann aber ist es nur konsequent, wenn der in der Abstimmung Unterlegene sich eingestehen muss, dass er sich geirrt hat. Freilich muß Rousseau vorgehalten werden, dass seine Beschreibungen zu undifferenziert sind, dass er notwendige Unterscheidungen nicht trifft. Denn es ist eines, eine unterlegene Gemeinwohlinterpretation vertreten zu haben, ein anderes, ein Privatinteresse zum Kriterium seiner Abstimmung gemacht zu haben. Wir haben hier zwei gänzlich unterschiedliche Weisen der Verfehlung vor uns. Im letzten Fall liegt eine ethische Verfehlung vor; würden alle so handeln, würde die Republik sich auflösen. Im ersten Fall liegt eine kognitive Verfehlung vor. Hätte der Unterlegene die Mehrheit erhalten, wäre seine Gemeinwohlinterpretation als Gemeinwohlfestlegung akzeptiert worden, würde sich nichts an der politischen Qualität des Zusammenlebens ändern. Denn er ist nicht weniger Bürger, nicht weniger Patriot gewesen als der, der mit anderen die mehrheitsfähige Gemeinwohlinterpretation vertreten hat.
Die volonte generale ist nicht etwas, was durch ein kontextfreies Verfahren, im Rahmen eines demokratischen Individualismus erzeugt werden könnte. Die diskursethische Illusion sich selbst tragender demokratischer Beratungs- und Abstimmungsverfahren findet sich bei Rousseau nicht. Nur dann kann das Verfahren ein zufrieden stellendes Ergebnis erzeugen, wenn die Verfahrensteilnehmer bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Diese, nicht das Verfahren, bestimmen über die Qualität des Ergebnisses. Die volonte generale ist nie prozeduralistisches Ergebnis; sie ist Manifestation eines wirksamen Gemeinsinns; sie ist Ausdruck von Tugendhaftigkeit und Bürgersinn. Die Achse der politischen Philosophie Rousseaus ist kein demokratischer Prozeduralismus, sondern ein republikanischer Expressionismus, der sich des staatsrechtlich gebotenen demokratischen Verfahrens bedient. Daher verbindet Rousseau mit der Abstimmungsprozedur auch keine Lerneffekte. Die Bürgerversammlung ist kein Ort der Deliberation, des Argumentvergleichs, der Abwägung. Die Vernunft, die das Gemeinwohl findet, wird allein von der Tugendhaftigkeit der Bürger gespeist. Sie muss nicht erst deliberativ erarbeitet werden, durch Diskussionen getestet und gehärtet werden. Der Republikaner Rousseau verdächtigt die kollektive Deliberation, die Bürger immer weiter vom Gemeinwohl zu entfernen. Sie eröffnet einen Weg, der anfangs noch nach dem besseren Argument sucht, dann aber schnell in den sophistischen Strudel des kompetitiven Argumentierens gerät und schließlich in einem nackten Verdrängungswettbewerb der Privatinteressen endet.
Rousseaus Lehre vom AJlgemeinwillen,
thesenförmig zusammengefasst
Legitimität kommt nur der politischen Herrschaftsorganisation zu, bei der jeder so frei bleibt wie zuvor (im Naturzustand) und ausschließlich sich selbst gehorcht. Legitime Herrschaft kann daher nur von der Gemeinschaft der Bürger ausgeübt werden. Nur das Volk ist ein rechtmäßiger Souverän.
Das Herrschaftsrecht umfasst ausschließlich die Befugnis zur Gesetzgebung.
Das Herrschaftsrecht ist unteilbar, unveräußerlich, unrepräsentierbar.

Der Souverän ist absolut, in seiner Herrschaftsausübung wed Naturrechtsprinzipien noch durch individuelle Grundrechte en1& schränkt.
Der souveräne Wille des Volkes ist unfehlbar.
Der souveräne Wille des Volkes ist der Allgemeinwille.
Der Allgemeinwille äußert sich in allgemeinen Gesetzen.
Gesetze sind Beschlüsse, die die Allgemeinheit über sich selbst fasst.
Gesetze sind Beschlüsse, die die Allgemeinheit zum Wohl der Allgemeinheit fasst.
Das Gemeinwohl ist der „natürliche" Inhalt des Allgemeinwillens. Die Begriffe des Gemeinwohls und des Allgemeinwillens sind korrelativ bestimmbar.
Der Allgemeinwille ist normativ. Als gemeinwohladressierter Wille ist er die Norm, das verbindliche Muster jeder empirischen Gesetzgebung.
Der Allgemeinwille ist nicht notwendig identisch mit dem Gesamtwillen.
Ist der Gesamtwille der vereinigte Wille gemeinsinniger Bürger, dann ist der Gesamtwille Ausdruck des Allgemeinwillens. Ist der Gesamtwille hingegen der Konvergenzwille von eigeninteressierten Individuen, dann ist der Konvergenzwille nicht Ausdruck des Allgemeinwillens. Einstimmigkeit als solche ist weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium für den Allgemeinwillen.
Daher kann der Allgemeinwille auch durch den Mehrheitswillen zum Ausdruck gebracht werden.
Dann kann der Allgemeinwille durch den Mehrheitswillen zum Ausdruck gebracht werden, wenn es sich um eine Mehrheit aus der Wir- Perspektive handelt. Liegt hingegen eine Mehrheit aus der Ich-Per- spektive vor, ist die Mehrheit nicht Ausdruck des Allgemeinwillens. Bei der Mehrheit aus der Wir-Perspektive werden Gemeinwohlinterpretationen, Auffassungen vom Gesamtinteresse gezählt; bei der Mehrheit aus der Ich-Perspektive werden Individualinteressen gezählt.
Rousseaus Lehre vom Allgemeinwillen darf nicht prozeduralistisch verkürzt werden. Das demokratische Verfahren garantiert nicht, dass der Gemeinwille in Erscheinung tritt. Allein die ethische Verfassung der abstimmenden Bürger entscheidet darüber, ob bei der Gesetzgebung der Gemeinwille zum Ausdruck kommt.
Andererseits gilt, dass aufgrund der Konzeption der Volkssouveränität eine verfahrensexterne, von der Abstimmungsprozedur der Bürger unabhängige Ermittlung von Gemeinwohl und damit vom Inhalt des Gemeinwillens nicht zulässig ist. Gäbe es ein von dem Abstimmungs

verfahren unabhängiges Gemeinwohlwissen, dann gäbe es auch einen von der Bürgerversammlung unabhängigen Gemeinwillen.

Die Schwierigkeit der Rousseau'schen Konzeption liegt darin, dass sie zwei Normativitätsdimensionen beinhaltet, die nicht zusammenfallen. Da ist einmal die staatsrechtliche Legitimitätsbestimmung, dass nur direkte Volksherrschaft legitime Herrschaft ist. Da ist zum anderen die ethische Normativitätsbestimmung, dass nur Gesetze, die den Allgemeinwillen zum Ausdruck bringen, gerechte Gesetze sind und eine Herrschaft der Freiheit gestatten.

Im Prozeduralismus koinzidieren diese beiden Normativitätsdimensionen. Die staatsrechtlich ausgezeichnete Herrschaftsform ist zugleich auch das rechtsmoralisch ausgezeichnete Verfahren zur Gewinnung richtiger, gerechter Gesetze.

Diese prozeduralistische Koinzidenz verwirft Rousseau. Seine Konzeption ist durch eine staatsrechtlich-ethische Gabelung charakterisiert. Die direkt-demokratische Gesetzgebung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Identifikation des Gemeinwohls und das Zustandekommen eines Gemeinwillens. Es bedarf zusätzlicher, über die staatsrechtliche Korrektheit hinausgehender Bestimmungen, um der Normativitätsbestimmung der Gerechtigkeit zu entsprechen. Das staatsrechtlich notwendige direkt-demokratische Gesetzgebungsverfahren muss ethisch kontextualisiert werden, um zu garantieren, dass staatsrechtlich legitime Herrschaftsausübung auch wirklich den Allgemeinwillen zur Geltung bringt, um zu garantieren, daß die formal gültigen Gesetze auch wirklich gute und gerechte Gesetze sind.

Aufgrund dieser staatsrechtlich-ethischen Gabelung der Gesetzgebung muss Rousseau das Pensum der politischen Philosophie beträchtlich erweitern, kann er sich doch nicht wie seine kontraktualisti- schen Vorläufer mit einer Entwicklung der staatsrechtlichen Implikationen des Vertrages begnügen. Er muss dem staatsrechtlichen Traktat vielmehr eine Untersuchung über die Maßnahmen folgen lassen, die ergriffen werden müssen, um den ethischen Rahmen zu schaffen, in dem die staatsrechtlich legitime Herrschaft zuverlässig ein dem Gemeinwohl dienliches Gesetzeswerk schafft.