III. Volkssouveränität und „volonte generale“
Die „volonte generale" in Diderots Naturrechts-Artikel
Der Begriff der volonte generale taucht bei Rousseau zum ersten Mal in seinem Enzyklopädie-AttikeX über die Economie politique auf. Er hat ihn, wie er selbst bemerkt, aus Diderots Naturrechts-Artikel übernommen. Diderots Allgemeinwille ist Menschheits- oder Gattungswille. Er wird als universalistisch-substanzielle Verpflichtungsinstanz eingeführt, der es obliegt, „die Grenzen aller Pflichten festzulegen". An ihn muss „sich das Individuum wenden, um zu erfahren, inwieweit es Mensch, Staatsbürger, Untertan, Vater, Sohn sein soll, und wann es ihm geziemt, zu leben oder zu sterben". Der Allgemeinwille besitzt, so scheint es, pflichtentheoretische Allzuständigkeit: In welchem Sozialkreis wir uns gerade befinden, welche soziale Rolle wir im Augenblick spielen, wenn wir uns über die zuständigen Pflichten informieren wollen, müssen wir den Allgemeinwillen fragen; wir müssen unter Einsatz unserer sich über alle Leidenschaften und selbstsüchtigen Interessen hinwegsetzenden Verstandeskräfte ermitteln, ob unsere geplanten Handlungen mit dem „allgemeinen Willen und dem gemeinsamen Wunsch der ganzen Gattung" in Übereinstimmung stehen. Das Pflichtregiment des Allgemeinwillens dient der Verwirklichung des Wohls aller. Auf nichts anderes ist der Allgemeinwille aus; daher ist er „immer gut; er hat nie getäuscht und wird nie täuschen".55
Näheres ist über den Gemeinwillen nicht zu erfahren. Diderots Artikel ist kein Ruhmesblatt systematischer Moralphilosophie. Er bietet alles andere als eine „Entwicklung" dieses „großen und lichtvollen Prinzips", wie Rousseau höflich schreibt.56 Er ist assoziativ in der Darstellung und in der Gedankenführung wirr, deutlicher noch in den kritischen Partien als in der Entfaltung der eigenen Position. Ein Grundgedanke scheint einigermaßen erkennbar. Er besteht aus zwei Thesen. Die erste These lautet: Um die Bedeutung unserer moralischen Grundprädikate zu bestimmen, dürfen wir uns nicht auf unsere Interessen, Leidenschaften und Begierden stützen. Und die zweite These lautet: Um das moralitätseigentümliche Allgemeinheitsniveau zu erreichen, dürfen wir uns nicht auf Verfahren stützen, die auf die eine oder andere Weise individuelle Interessen verallgemeinern oder vereinigen. Die erste These ist trivial, da sie nichts anderes als eine Minimalbedeutung von Moral zum Inhalt hat. Die zweite These ist hingegen nicht trivial, da es die Kriterien der formalen Verallgemeinerung, der
formalen Gleichbehandlung und der Reziprozität verabschiedet, damit nichts Geringeres als die altehrwürdige und viel gepriesene Goldene Regel und ähnliche, dem Tauschprinzip verwandte Verfahren der Allgemeinheitsherstellung verwirft. Der „leidenschaftliche Vernünftler", den Diderot in seinem Artikel zum Schweigen bringen möchte, ist ein Anhänger des formalen Reziprozitätsprinzips. Gerechtigkeit ist für ihn die Bereitschaft, das Recht, das man sich selbst nimmt, auch jedem anderen zuzubilligen. Somit kann die subjektive Willkür den Text des Naturrechts verfassen, wenn sie sich nur zu dieser Konsequenz der formalen Gleichbehandlung bereit findet. Aber Unparteilichkeit ist für den Anti-Liberalen Diderot nicht distributiv allgemeine Parteilichkeit. Er warnt davor, Allgemeinheit mit dem generalisierten, dem überlappenden Egoismus zu verwechseln und die Konvergenzzonen individueller Präferenzen zu suchen. Von dem besonderen Willen, den Leidenschaften und subjektiven Interessen führt keine Eselsbrücke zur Gerechtigkeit. Es gibt keine prozedurale Verbindung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Das deckungsgleiche Subjektive bietet kein solides Fundament für Naturrecht und Moral.
Diderot verabschiedet in seinem Artikel implizit alle allgemeinheitssichernden Verfahren der individidualistischen Rationalität. Nicht nur die Goldene Regel, sondern auch der Vertrag scheidet als Erkenntnisverfahren und als Verpflichtungsprozedur aus. Daher ist die von dem Allgemeinwillen verlangte Allgemeinheit auch keine formale, sondern eine materiale. Obwohl sich Rousseaus Vorstellungen von der volonte generale von Diderots Konzept des Gemeinwillens bereits in dem Artikel über Politische Ökonomie, und noch deutlicher dann im Gesellschaftsvertrag entfernen, teilt er Diderots Zurückweisung der Allgemeinheitskonzepte der individualistischen Rationalität. Auch sein Allgemeinwille ist ein alternatives, dem Universalisierungsverfahren des Kontraktualismus polemisch entgegengestelltes Modell der Allgemeinheitsgewinnung.
Das, was diese materiale und substanzielle Allgemeinheit will und was die Menschheit sich von jedem ihrer Mitglieder und für jedes ihrer Mitglieder wünscht, zeigt uns kein moralisches Gefühl, kein Gerechtigkeitssinn, sondern der Verstand, der in der traditionellen Rolle des willkommenen Widersachers der Leidenschaften sich über alles Subjektive im Menschen zu überheben vermag und zu wahrer Unparteilichkeit aufzusteigen fähig ist. Dieser Verstand darf dann aber nichts mit der individualistischen Rationalität der Kontraktualisten zu tun haben, darf nicht mit kluger Interessenverwaltung verwechselt werden. Das, was die Diderot'sche Allgemeinheit will, ist nicht identisch mit dem, was das Selbstinteresse will, wenn es denn nur Verstand hat und seine Zukunft nicht über seine Gegenwart vergisst. Der Verstand muss ein genuines moralisches Erkenntnisorgan sein, das zur Transzendierung aller Interessen und Leidenschaften fähig ist.
Entsprechend ist die volonte generale auch eine eigenständige, den Partikularwillen entgegentretende moralische Willens- und Interesseninstanz. Es ist nicht der verallgemeinerbare subjektive Wille, sondern der Allgemeinwille, der Wille der Allgemeinheit. Ersterer ist immer noch vom Stoff des Besonderen, immer noch aus dem Material der subjektiven Interessen und Leidenschaften geformt, schafft Objektivität nur durch prozeduralen Ausgleich von unterschiedlichem Subjektiven. Letzterer hingegen ist eine selbstständige Kraft mit einem selbstständigen materialen Interesse, dessen Höherrangigkeit zu erkennen und anzuerkennen ist. Aufgrund dieser substanziellen Differenz zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen verlangt ein allgemeinheitsdienliches Handeln im Diderot'schen Sinne eben weitaus mehr als Aufklärung über die externen Gelingens- und Kontinuitätsbedingungen individueller Lebensprojekte. Nicht schon Vermehrung der Rationalitätsanstrengungen liefert den Zugang zum Allgemeinen. Es bedarf vielmehr einer vollständigen Neuorientierung, eines bekehrungsähnlichen Wandels - nicht unähnlich dem, den Rousseau im Gesellschaftsvertrag als Entstehungsvoraussetzung der dann freilich auf die sittliche Partikularität einer Republik eingeschrumpften volonte generale skizziert hat.
Das Diderot'sche Naturrecht setzt sich in deutlichen Gegensatz zu den Legitimationskonzepten der Neuzeit; es ist weder mit dem Kontraktualis- mus noch mit der kantischen Vernunftrechtsposition vereinbar. Um den reziprozitätsobsessiven Hobbesianer zu widerlegen, offeriert Diderot merkwürdigerweise eine Konzeption, die insbesondere in ihrem normativen Allzuständigkeitsanspruch Grundüberzeugungen vormodernen Denkens wieder aufnimmt. Unberührt von den für die systematische Entwicklung des Naturrechtsdenkens im 17. und 18. Jahrhundert überaus wichtigen Grenzziehungen zwischen Recht, Moral und Tugendethik auf der einen Seite und vorstaatlichem und staatlichem Recht auf der anderen Seite erweckt Diderot im Allgemeinwillen den materialen naturrechtlichen Objektivismus der Traditionswelt zu neuem Leben.
Der Gemeinwille in Rousseaus
„Abhandlung über die Politische Ökonomie"
Die politische Welt ist nicht von Natur aus; sie ist eine Schöpfung der Menschen. Sie ist nömos, nicht physis. Sie ist eine Setzung, die sich eine Satzung gibt. Diese modernitätstypische Überzeugung vom artifiziellen und konventionellen Charakter der politischen Ordnung hat jedoch keinen neuzeitlichen politischen Denker davon abgehalten, sich zu ihrer Veranschaulichung einer Metaphorik zu bedienen, die ihre zentralen Bilder der Anthropologie, und nicht etwa der Maschinenwelt entnimmt. Dadurch wird die organische Einheit des Körpers zum Vorbild politischer Einigung und der das Körpersystem mühelos beherrschende Wille zum Muster erfolgreicher Herrschaft.
Der Staat ist die Einheit von politischem Körper und politischem Willen. Der politische Wille will für die Gesamtheit nichts anderes als das, was auch jedes Individuum für sich will: Selbsterhaltung und Glück. Ihm ist ausschließlich an sich gelegen, an der Kontinuität seiner Existenz und an der Steigerung seiner Lebensqualität. Er ist Gemeinwille, „der immer auf die Erhaltung und auf das Wohlbefinden des Ganzen und eines jeden Teiles zielt"57. Er äußert sich durch allgemeine Gesetze, die gleichermaßen an alle Bürger gerichtet sind und ausschließlich die Befindlichkeiten des Allgemeinen zum Gegenstand haben. Da diese Gesetze definieren, was in ihrem Geltungsbereich als Gerechtigkeit gilt, bilden sie für die Bürger „die Regel des Gerechten und Ungerechten". Diese Formulierung hätte auch von Hobbes stammen können und ist mit dem naturrechtsverwandten Diderot'sehen Konzept vom Allgemeinwillen nicht vereinbar.
Es scheint, dass der Allgemeinwille im Rousseau'schen EnzyklopädieArtikel zum Staatswillen (volonte de l'etat) wird, dass sein Geltungsbereich dort endet, wo die Grenzen des Staates enden. An die Stelle des Diderot'schen Universalismus träte damit ein Partikularismus. Der Gerechtigkeitsbegriff verlöre seine allgemeine moralische Bedeutung und würde zu einer ausschließlich politischen Konzeption, die nur noch gemeinschaftsbezogene Geltung beansprucht. Wäre es so, dann hätte Rousseau im Enzyklopädie-Artikel bereits im Kern die Position vertreten, die im Gesellschaftsvertrag entwickelt wird. In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass der Enzyklopädie-Artikel eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen dem Partikularismus des Contrat social und dem Diderot'schen Universalismus einnimmt. Denn Rousseau partikularisiert und pluralisiert nicht nur die volonte generale, er gradualisiert sie auch. Während Diderot den einen Gemein- und Menschheitswillen mit naturrechtlicher Allzuständigkeit ausstattet und als Prinzip aller unterschiedlichen sozialen Pflichtkreise vorstellt, ordnet Rousseau jedem dieser sozialen Pflichtkreise von den vielen Privatgesellschaften über Gemeinde, Stadt, Land und den Staat bis zur Menschheit je eigene, mit bereichsspezifischer Regelungs- und Organisationskompetenz ausgestattete Gemeinwillen zu. Dadurch entsteht eine an Althusius erinnernde Hierarchie von Consociationes.58 Für jede dieser Sozialformationen gilt: Der sie intern organisierende Wille ist für die jeweiligen Mitglieder ein allgemeiner, für alle Nicht-Mitglieder jedoch lediglich ein besonderer ohne moralischen Belang. In dieser Hierarchie hat auch der Diderot'sche Gemeinwille Platz: Er ist das Prinzip der „großen Stadt der Welt"59, der Kosmopolis, in der jeder Mensch natürliches Mitglied ist. Und während Rousseau sich in den beiden Fassungen des Contrat social ausdrücklich von der Vorstellung Verabschiedet jenseits der staatlich geordneten Gemeinschaft könne es einen politischen Körper geben, nimmt er hier aufgrund der durchgängigen Korrelation von volonte generale und corps politique an, dass auch die Menschheit ein corps politique sei, der von einem Allgemeinwillen gelenkt werde.
Geltungskonkurrenzen gibt es in dieser Hierarchie nicht. Der Anspruch der übergeordneten und in der Regel mitgliederstärkeren Sozialformation genießt uneingeschränkten Vorrang. „Die Pflichten des Bürgers gehen vor den Pflichten des Senators, und die Pflichten des Menschen vor den Pflichten des Bürgers."60 Das Weltbürgerprinzip, das Menschheitsprinzip ist somit geltungslogisch nicht relativierbar; es übertrumpft die Ansprüche aller untergeordneten Gemeinwillen; deren Verpflichtungswirkung reicht jeweils nur so weit, wie sie mit der Gesetzgebung des Menschheitswillens in Übereinstimmung steht. Gerechtigkeit wird damit funktional abhängig von der Extension des Gemeinwillens: Je allgemeiner der Gemeinwille, umso gerechter ist er.61 Im Gesellschaftsvertrag finden wir weder den Diderot'schen Menschheitswillen noch diese Gemeinwillenhierarchie aus der Abhandlung über die Politische Ökonomie mehr. Der Gesellschaftsvertrag entwirft das Bild einer hoch integrierten, geradezu homogenitätsbesessenen politischen Gemeinschaft, die alles unternimmt, um die Gesellschaft vor Fraktionierung, Fragmentierung und Parteiung zu bewahren. Um die Verwirklichung des Gemeinwillens sicherzustellen, muss jeder Bürger dem politisch Allgemeinen gleich nah sein und darf nicht durch unterschiedliche Mitgliedschaften in Teilgesellschaften von seiner Konzentration auf das Gemeinwohl abgelenkt werden. Daher gibt es nur einen Gemeinwillen im Gesellschaftsvertrag; im Vergleich mit ihm sind alle anderen Individual- und Gruppenwillen nur Einzel- und Sonderwillen, die seinen eifersüchtig gehüteten Geltungsund Zuständigkeitsbereich einschränken wollen.
Mit der Hierarchie sich überbietender Gemeinwillen erklärt sich Rousseau nebenbei auch das Phänomen der selektiven Moralität. Es ist ja eine vertraute Erfahrung, dass Menschen, die allgemeinere Moralgebote missachten, gleichzeitig große Ethostreue an den Tag legen können, die Ehre ihrer Familie verteidigen und die Regeln ihrer Gruppe strikt befolgen. Der Mörder kann seinen Sohn abgöttisch lieben; und der Dieb und Räuber denkt nicht daran, die Mitglieder seiner Bande zu betrügen. Diese selektive Moralität verdankt sich dem Umstand, dass die Menschen ihr Verhalten nicht der Verbindlichkeitshierarchie sich überbietender Allgemeinheiten anpassen. Ihre Moralität ist den zumutungsvollen Ansprüchen des sich aufgipfelnden Abstrakten nicht gewachsen. Ihre Loyalität reicht nicht weiter als das Gruppenethos. Nur die konkrete, direkt erfahrbare Allgemeinheit des vertrauten Lebensbereiches wird als Verpflichtungsquell anerkannt.
„Alienation totale"
Damit der Vertrag vor dem Hintergrund der Rousseau'schen Naturzustandsskizze allgemein anerkannt werden kann, muss er sowohl gültig als auch rational sein, sowohl einen Erfolg versprechenden Ausweg aus den Lebensnöten des Naturzustandes bieten als auch zuverlässig die Unabhängigkeit eines jeden von fremder Willkür sichern. Mit einem Wort: Der Vertrag muss zu einer Gesellschaft führen, in der sowohl das technischpraktische Kooperationsproblem des Naturzustandes als auch das normativ-praktische Autonomieproblem gelöst ist. Ihm gelingt dies aufgrund seiner Entäußerungsklausel, weil er die „vollständige Entäußerung eines jeden Mitglieds mit allen seinen Rechten an die Gemeinschaft" verlangt (1.6; 360; 73).
Drei^rgumente bringt Rousseau für die Notwendigkeit einer alienation totale vor. Zuerst das Argument des Egalitarismus: Wenn sich jeder „ganz hingibt, so ist das Verhältnis für alle gleich, und [...] so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu machen". Sodann das Argument von der friedensgewährleistenden Lelztihstänziichkeit: Derartige- meine Wille kann ein friedliches Zusammenleben nur dann garantieren, wenn sich jeder rückhaltlos all seiner Rechte, seiner Freiheit und seiner Macht entäußert, wenn er folglich keine Rechtsansprüche zurückbehält, die Klagebefugnisse gegen den gesetzgebenden Willen begründen könnten und diesen zu einer Partei eines Rechtsstreites machten. Quis iudicabit? Wer würde denn dann entscheiden? Es ist dies eine Variation des Hobbes'schen Letztinstanzlichkeitsarguments, das einen Souverän mit unwiderstehlicher Macht, einen letzen Entscheider, einen inappellablen Richter verlangt.
Das dritte Argument, das eine alienation totale notwendig macht, steht im Zusammenhang mit der Auflage, eine Gesellschaftsform zu begründen, in der die Selbstbestimmungsfreiheit nicht geschmälert wird und jeder so frei bleibt wie zuvor. Denn der, der sich „allen überäußert, überäußert [...] sich niemandem" (1.6; 361; 74). Mehr noch: Die rückhaltlose Entäußerung führt zu einem überaus vorteilhaften Tausch: „Da man über jedes Mitglied das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich selber einräumt, gewinnt man den Gegenwert über alles, was man verliert, und ein Mehr an Kraft, das zu bewahren, was man hat." Die Entäußerung folgt damit einer ähnlich paradoxen Ökonomie wie die Liebe: Verwandelt diese die Hingabe in eine Bereicherung, so der Vertrag die Entäußerung in einen Gewinn.
Damit der alienation-totale-Vertrag nun wirklich eine Gesellschaftsform begründet, in der die Autonomiebedingung erfüllt ist, muss der Vertrag selbst zur Verfassung und zur Verlaufsform gesellschaftlichen Lebens werden. Rousseaus Vertrag erlaubt nicht, als gründungsmythologische Figur in eine organisationspolitische Utopie vor der realen geschichtlichen Zeit abgeschoben zu werden, erlaubt auch keine auf den Widerstandsfall befristete politische Virulenz, er verlangt gesellschaftsweite Realität und andauernde Präsenz. Er ist selbst das Muster der politischen Organisation der Gesellschaft; keine andere als die volkssouveränitäre Herrschaft kann legitim sein. Für den politischen makros änthropos gilt dasselbe wie für den individuellen mikrös änthropos. Die Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechts, die paradoxerweise die vollständige Entäußerung der Freiheit an die Gemeinschaft verlangt, um zu einer angemessenen politischen Organisationsform zu gelangen, bleibt bestehen und macht sich als Unveräußerlichkeit der Souveränität, als Unrepräsentierbarkeit des allgemeinen Willens und als Unvertretbarkeit der Herrschaftsteilhabe bemerkbar. Genausowenig wie das natürliche Individuum, genausowenig wie der Mensch seine Selbstbestimmung aufgeben oder sie sich gegen das Linsengericht der Sicherheit oder Bequemlichkeit abhandeln lassen darf, genauso wenig darf der politisierte Mensch, der bürgerliche Herrschaftsteilhaber sich seine politische Freiheit, seine politische Selbstbestimmung abhandeln lassen. Er darf sich weder vertreten noch enteignen lassen. Eine repräsentative Demokratie verletzt die Bedingung politischer Autonomie ebenso sehr wie eine autokratische oder oligarchische Herrschaftsordnung.
Die Eigenschaften der Souveränität
Die durch den Rousseau'schen Vertrag der alienation totale konstituierte Souveränität hat fünf charakteristische Eigenschaften: Sie ist unveräußerlich; sie ist unvertretbar; sie ist unteilbar; sie ist unfehlbar; sie ist absolut. All diese Eigenschaften sind unmittelbare Konsequenz des Vertrages und daher tautologische Bestimmungen, die nur den begrifflich festgelegten Bedeutungsgehalt der Volkssouveränität entfalten.
Unveräußerlichkeit
Die Souveränität manifestiert sich im Vollzug des allgemeinen Willens, der allein
„die Kräfte des Staates dem Zweck seiner Gründung entsprechend lenken kann. Der Zweck aber ist das Gemeinwohl. Denn wenn der Gegensatz der Einzelinteressen die Bildung von Gesellschaften notwendig gemacht hat, so hat sie das Zusammenspiel der gleichen Interessen möglich gemacht. Das soziale Band bildet das Gemeinsame in diesen verschiedenen Interessen. Gäbe es nämlich keinen Punkt, in dem alle Interessen übereinstimmten, so könnte keine Gesellschaft existieren. Aus diesem gemeinsamen Interesse muss die Gesellschaft einzig und allein regiert werden" (II.1; 368; 84).
Unveräußerlich ist die Souveränität, weil allein der Gemeinwille eine angemessene, zweckentsprechende, eben gemeinwohlorientierte Herrschaft dauerhaft und zuverlässig ausüben wird. Der Inhalt des Gemeinwillens ist das Gemeinwohl. Im Gemeinwillen artikuliert sich die integrative Gemeinsamkeit der GemeihschaftTnur cfer^GcineuiY^nie kann daher eine ^rneihschaftsfördernde Herrschaft ausübeiiunjhm verwirklicht sich das Selbsterhaltungsinteresse der Gemeinschaft. Dieses Unveräußerlichkeitsargument ist ersichtlich pragmatischer Natur. Es korrespondiert genau der anthropomorphen Auslegung der Herrschaftsorganisation, bietet aber im Gegensatz zur Hobbes'schen Version dieses Arguments einen zusätzlichen inhaltlichen Grund. Nicht nur bedarf es eines einheitlichen Willens, um eine effiziente Lenkung der gesellschaftlichen (Körper-)Kräfte zu gewährleisten. Dieser einheitliche Wille muss auch der Gemeinwille sein, weil die Aufgabe einer gemeinwohlorientierten Politik bei ihm am besten aufgehoben ist. Der Kern des Unveräußerlichkeitsargument ist also geradezu expertokratisch: Der,Ggineinwi.lle besitzt die größte Gemeinwohlkompetenz. Das kann freilich nicht verwundern: Das Gemeinwohl ist sein logischer Inhalt. Unabhängig von ihm lässt es sich nicht formulieren und finden. Das, was als Gemeinwohl gelten kann, wird durch das, was der Gemeinwille will, bestimmt. Freilich, darauf werde ich weiter unten ausführlicher eingehen, ist der den staatsrechtlichen Diskurs bei Rousseau überlagernde Sittlichkeitsdiskurs so dicht, dass sich im Fortlauf des Contrat social immer mehr der Eindruck einstellt, dass das Gegenteil mindestens genauso richtig ist. Das Gemeinwohl ist vorausgesetzt und zeichnet den sich seiner annehmenden Willen als Allgemeinwillen aus, dem dann durch die Volkssouveränität ein Subjekt besorgt wird.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Lesarten ist beträchtlich. Wenn die Vorrangigkeit der volonte generale gilt, kommt die Konstitution des Gemeinwillens einer Heuristik des Gemeinwohls gleich. Der die vertragliche Einigung strukturell wiederholende Bildungsweg des Allgemeinwillens ist dann ein normatives Erkenntnisverfahren. Aufgrund dieser prozeduralen Bestimmung des Guten würde Rousseau trotz aller evidenten antimodernistischen Tendenzen seines Ethisierungs- und Republikanisie- rungsprogramms als Moderner gelten können. Nicht einer substanziellen Vernunft, nicht einer vorgegebenen Teleologie, nicht einem zwischen den Sternen aufgehängten Naturrecht wird ja die Bestimmung des Guten übertragen, sondern einem - seinem ursprünglichen rechtlichen Sinn nach universalistischen - demokratischen Verfahren. Hier zeigte sich auch der große Abstand Rousseaus zu Diderot. Bei Diderot bezeichnet der Allgemeinwille den Inbegriff aller naturrechtlichen Regeln, die teleologisch ausgerichtet sind und die Respektierung des Gattungswohls verlangen. Rousseau hätte dann diesen traditionsverhafteten Naturrechtskognitivismus durch einen idealen Prozeduralismus ersetzt. Er hätte den Diderot'schen Willen voluntarisiert und die Erkenntnis des Richtigen zu einer Funktion eines normativ ausgezeichneten Verfahrens gemacht. Der Maßstab, der prozedurextern das richtige Vorgehen bestimmt, ist die Wesensbestimmung der Freiheit, die nur solche Herrschaft akzeptieren kann, die sich im Modus der Selbsttätigkeit verwirklicht.
Gilt jedoch die Vorrangigkeit des Gemeinwohls, dann fällt diese metaethische These vom prozeduralistisch-kognitivistischen Charakter der volonte generale in sich zusammen. Dann ist Rousseau kein Diskursethiker avant la lettre, der aus Einsicht in die rechtfertigungstheoretische Problemlage der Moderne gesellschaftliche Verfahren zur Ermittlung des Wahren und Richtigen etabliert. Dann verliert sogar die Vertragsidee ihre argumentationslogische Priorität. Vertragliche Assoziation, Volkssouveränität und volonte generale werden vielmehr in eine vorgängige Gemeinwohlethik eingelassen, erhalten allein durch sie Sinn und Inhalt. Der prozedu- ralistisch interpretierte Gemeinwille ist notwendig formal, eben ein Erkenntnisverfahren, das nicht das inhaltliche Resultat präjudiziert, sondern nur die Modalität sichert: Was in diesem Verfahren ermittelt wird, kann als wahr und richtig gelten. Der substanzialistisch verstandene Gemeinwille ist hingegen immer schon inhaltlich bestimmt; das Gemeinwohl ist sein natürlicher Gegenstand. Dass die substanzialistische Interpretation der volonte generale eher zutrifft als die prozeduralistische, zeigt sich auch daran, dass der Rousseau'sche Gemeinwille eben nicht über ein Verfahren, sondern nur über seinen Inhalt identifiziert werden kann. Wäre das Verfahren ein Indikator des Gemeinwillens, dann könnten volonte de tous und volonte generale nie auseinander treten, dann ließe sich das, was der Gemeinwille will, empirisch nur über das Konsens- und Konvergenzergebnis des Willens aller erschließen. Aber Rousseau weist diese Gleichsetzung ausdrücklich zurück. Der Gemeinwille ist an keinen bestimmten empirischen Träger gebunden. Selbst wenn dem Volkssouveränitätsprinzip organisationspolitisch korrekt entsprochen würde und die Gesetze ausschließlich von einer Versammlung der Bürger erlassen werden, ja selbst wenn diese Gesetze immer einmütig beschlossen worden sind, ist nicht ausgemacht, dass der Gemeinwille in ihnen authentischen Ausdruck gefunden hat. Denn der Gemeinwille kann nur über den Inhalt, nicht über das Verfahren identifiziert werden.
Aber zurück zur Unveräußerlichkeitseigenschaft. Neben dem expertokratischen Unveräußerlichkeitsargument kennt Rousseaus Theorie noch ein weiteres und systematisch wichtigeres. Ich nenne es das autonomietheoretische Unveräußerlichkeitsargument. Es ist im Gegensatz zum ersten nicht epistemologischer Natur, sondern normativ-rechtlicher. Die Unveräußerlichkeit der Souveränität ist die politische Entsprechung der individuellen Autonomie; sowenig der Mensch Mensch bleibt, wenn er auf seinen Willen, auf Selbstbestimmung seiner Handlungen und seines Lebens verzichtet, so wenig bleibt ein Volk ein Volk, wenn es sich einen fremden Herren gibt und darauf verzichtet, seine Kräfte zur Beförderung seines Wohls durch den eigenen Willen zu lenken. Mit einem Wort: Zwischen der Unveräußerlichkeit der Souveränität und der Sicherung der individuellen Autonomie durch die Republik des Rousseau'schen Alienationsvertrages besteht ein logisches Bedingungsverhältnis: Nur dann vermag die durch den Vertrag begründete Gesellschaftsform eine selbstbestimmungskonforme Herrschaftsorganisation zu etablieren, wenn die Volkssouveränität auf immer beim Volk bleibt und die damit verbundenen legislatorischen Befugnisse nur von ihm wahrgenommen werden. Damit ist klar, dass die Unveräußerlichkeit der Souveränität überaus weit reichende herrschaftsorganisatorische Konsequenzen hat und nicht nur Monokratie und Oligarchie als autonomiewidrig verwirft, sondern auch all die demokratischen Ordnungsformen delegitimieren muss, die von der faktischen und unmittelbaren politischen Selbstorganisation der Gesellschaft abweichen und das souveräne Volk durch wie immer ermittelte Repräsentanten vertreten lassen.
Unrepräsentierbarkeit
Rousseaus Freiheitskonzept ist nicht auf eine liberale Einfriedung der Willkürfreiheit durch einen rechtlich geordneten Egoismus aus. Es ist von seiner subjektivitätstheoretischen Grundlage nicht ablösbar, ist im Willen, im erlebten Selbstbestimmungsvollzug verankert, kann folglich auch nicht repräsentiert werden.
„Die Souveränität kann aus dem gleichen Grund nicht vertreten werden, wie sie nicht veräußert werden kann. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Gemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten: Entweder ist er er selbst oder er ist es nicht. Dazwischen gibt es nichts. Abgeordnete des Volkes sind und können nicht seine Stellvertreter sein. Sie sind nur seine Beauftragten. Sie können nichts endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst bestätigt hat, ist null und nichtig: Es ist kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein. Es täuscht sich sehr. Es ist nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder frei. Sobald sie gewählt sind, ist es Sklave: es ist nichts" (III.15; 429; 158).
Damit den Individuen in der politischen Herrschaft nicht eine fremde, ihren Willen abtötende und sie damit in ihrer Subjektivität zerstörende, in ihrem Menschsein annullierende Macht gegenübertritt, muss politische Herrschaft nach dem Autonomiemodell errichtet werden, muss der politische Wille der eigene der Bürger sein. Nur dann kann sich in der Ausbildung des allgemeinen Willens zugleich individuelle Selbstbestimmung vollziehen, wenn der subjektive Wille und der Gemeinwille zusammenfallen, wenn der Gemeinnutz zum Inhalt des individuellen Willens geworden ist. Die aus der Entäußerungslogik abgeleitete Identitätsfiktion, mit der Hobbes die politische Einheit zum Ausdruck bringt, weicht bei Rousseau einer Realidentität. Der subjektive Wille der Bürger wird selbst zum Gemeinwillen: Die Autonomieform nimmt den politischen Inhalt auf, und der allgemeinheitskonforme Bürger bestimmt sich im Wollen des Allgemeinen nach wie vor selbst.
Rousseaus staatsphilosophisches Grundproblem gestattet weder eine koordinationspolitische noch eine partizipationspolitische, sondern allein eine identitätspolitische Lösung. Der Weg, den seine kontraktualistischen Vorgänger eingeschlagen haben, um die vertragsbegründete Herrschaftsstruktur in Wirklichkeit zu überführen, ist Rousseau verschlossen. Wenn der Vertrag selbst die einzige legitime politische Herrschaftsordnung ist, wenn der gesellschaftsvertragliche Egalitarismus zur politischen Entscheidungsregel werden muss, dann kann die Vertragsdemokratie weder durch einen leviathanischen Einzelwillen absorbiert noch auf der Grundlage eines einmütig eingeführten Mehrheitsprinzips sich eine Verfassung für angestellte Gesetzgeber geben. Das, was den Rousseau'schen Bürger als Untertan gesetzlich binden soll, muss notwendigerweise einem Gemeinwillen entstammen, bei dessen Zustandekommen er gleichberechtigt mit allen anderen beteiligt war. Die Übertragung des Selbstherrschaftsmodells verlangt die authentisch-sinnfällige, reale und erlebte Anwesenheit jedes Bürgers in den Beratungen und Entscheidungen der Allgemeinheit. Volkssouveränitätsmythologische Legitimationshermeneutik, die durch geeignete Auslegungen die Bürgerschaft als Geltungsgrund der Gesetze der Delegiertenversammlungen, Abgeordnetenversammlungen und Repräsentantenversammlungen exponieren, reichen nicht aus. Nur die reale Mitwirkung aller garantiert legitime Machtausübung. Nur die Realpräsenz der Bürger in den gesetzgebenden Versammlungen garantiert Freiheit. „Von dem Augenblick an, wo ein Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei; ja, dann ist es nicht mehr" (III.15; 431; 160).
Freilich setzt die direkte Demokratie entweder eine geringe Beanspruchung durch gesetzgeberische Tätigkeit voraus, sodass sie als Feierabendoder Freizeitdemokratie organisierbar ist, oder die Entlastung der Bürger von aller nötigen Arbeit. Aristoteles wusste, dass die Menschen nur dann Bürger werden können, wenn sie ein notwendigkeitsentrücktes Leben führen können und von der Subsistenzsicherung freigestellt sind, wenn sie also die für Menschen unerlässliche Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten des Lebens anderen, nämlich Sklaven, aufbürden können. Freiheit kann nur dann die politische Qualität bürgerlicher Existenzweise gewinnen, wenn sie weitgehend auch Freiheit von Natur, Freiheit von Arbeit beinhaltet. Rousseau hat diesen Zusammenhang zwischen Bürgerlichkeit und Freiheit von der Arbeit durchaus gesehen. „Die Griechen taten alles selber, was sie als Volk zu tun hatten. Sie waren ständig auf dem Platz versammelt [...] Sklaven verrichteten ihre Arbeiten. Ihr Hauptanliegen war die Freiheit [...] Ist es wahr, dass die Freiheit sich nur mit Hilfe der Sklaverei behaupten lässt? Mag sein. Die beiden Extreme berühren sich. Was nicht von der Natur kommt, hat seine Nachteile, und die bürgerliche Gesellschaft mehr als alles andere. So gibt es ungünstige Situationen, in denen man seine Freiheit nur auf Kosten der Freiheit anderer bewahren und der Bürger nur dadurch völlig frei sein kann, dass der Sklave völlig geknechtet wird. Das war die Situation in Sparta. Ihr modernen Völker habt keine Sklaven. Dafür seid ihr es selbst. Ihr bezahlt ihre Freiheit mit der eurigen. Vergeblich rühmt ihr euch dieses Vorzugs; ich finde darin mehr Feigheit als Menschlichkeit. Damit will ich nicht behaupten, dass man Sklaven haben muss, dass das Recht zur Sklaverei gerechtfertigt ist, wo ich doch das Gegenteil bewiesen habe. Ich führe nur die Gründe an, warum die modernen Völker, die sich frei glauben, Repräsentanten haben und warum die alten Völker keine hatten."
Wäre Rousseau wirklich an einer konstruktiven politischen Philosophie gelegen, dann hätte er sich zur Einführung des Repräsentationssystems bereit finden müssen. Man kann nicht auf der einen Seite feststellen, dass direkte Demokratie nur in einer Sklavenhaltergesellschaft möglich ist, auf der anderen Seite jedoch an einem freiheitsrechtlichen Konzept festhalten, das zum einen Sklaverei als menschenverachtend und widerrechtlich ablehnt, zum anderen aber die Realpräsenz des Bürgers in den gesetzgebenden Versammlungen verlangt, sodass zugleich die geschichtliche Abschaffung der Sklaverei begrüßt und die damit einhergehende Einführung des Repräsentationssystems verdammt werden kann. Man kann nicht auf der einen Seite konstatieren, dass die Entlastung von substistenzsichernder Arbeit eine Voraussetzung des bios politikös ist, auf der anderen Seite dann jedoch in der eigenen republikanischen Philosophie die Trennung von Bürgerexistenz und Arbeitsleben aufheben. Rousseaus Citoyen, obwohl dem antiken nachmodelliert und nach wie vor zur Direktherrschaft aufgerufen, führt ein hartes Arbeitsleben, das ironischerweise den Stoffwechsel mit der Natur, von dem der pater familias, der Oikodespot der antiken Welt, befreit war, zur sittlich vorzugswürdigen Arbeitsweise erklärt. Rousseaus ökonomisches Ideal ist die agrarische Bedarfsdeckungswirtschaft; sie ist die vermittlungsfreieste Wirtschaftsform, ausschließlich vom Gebrauchswert regiert. Hier herrschen Echtheit, ethische Strenge und die Authentizität des Natürlichen; das Bedürfnis kommuniziert unmittelbar mit dem Naturstoff und gibt ihm eine ihm gerechte Form. Ackerbau, Viehzucht, Fischfang und eine dörfliche Manufaktur, die die rustikale Lebensform mit den notwendigsten Gegenständen und Gerätschaften versorgt. Markt und Handel sind Rousseau suspekt; sie sind der Ort des sittlichen Niedergangs; hier regiert das Gewinnstreben, hier werden die Bedürfnisse verfeinert, sodass sie nach immer ausgefalleneren Befriedigungsformen suchen, hier gedeiht der Luxus.
Indem bei Rousseau den antiken Bürgern ein ländliches Arbeitsleben verordnet wird, entsteht das Bild einer fortschrittsabgewandten Republik, die eher an Siedlungen puritanischer Sektierer in Neuengland erinnert denn an griechisch-römische Republiken. Dieses Bild ist allein eine Schöpfung der Kritik, es zeichnet keinen aussichtsreichen Weg in eine bessere politisch-gesellschaftliche Zukunft. Rousseau will beides: die Kritik an der Repräsentation und die Kritik an Marktwirtschaft, bürgerlichem Kommerz und gesellschaftlichem Individualismus. Daher muss er die Vereinbarkeit von bürgerlicher Direktherrschaft und arbeitsabhängiger Existenzform behaupten, obwohl seine Analyse der Entstehungsursachen der Repräsentation ihm gezeigt hat, dass nur der von allen Subsistenzsorgen entlastete Bürger sich den Luxus einer ausschließlich der Politik gewidmeten Lebensweise leisten kann. Die politische Philosophie nach ihm hat das Dogma von der herrschaftlichen Realpräsenz des Volkes in den Organisationsformen der Demokratie fallen gelassen und das Volk auf eine rechtfertigungsmythologische Ebene zurückgedrängt. Daher ist Rousseau zugleich der erste und der letzte Theoretiker der Volkssouveränität.
Unteilbarkeit
Aus der Unveräußerlichkeil und Unrepräsentierbarkeit der Souveränität folgt auch ihre Unteilbarkeit. Ein Teil kann nicht legitim über die Allgemeinheit bestimmen, auch die Mehrheit nicht. Die Souveränität zeigt sich in der Gesetzgebung. Über das ganze Volk kann aber nur das ganze
Volk beschließen. Das Selbstherrschaftsmodell duk ^ant-
auch nicht die Vertretung der Allgemeinheit durcl &
seaus Polemik gegen die Teilung der Souveränitä Kritik der Gewaltenteilung zu tun, sondern ist zu* setzesanspruch von Verwaltungsvorschriften, De und gegen eine Kompetenzausweitung über die naus gerichtet. Kann die Mehrheit qua Mehrheit sich nie <tuu.
Gesetze zu geben, so können Erlasse, Verordnungen, Deklarationen Einzelmaßnahmen nie als Souveränitätsäußerungen gelten. Nur der allgemeine Wille selbst kann Gesetzgeber sein; und nur das kann ein Gesetz sein, was auf das Gemeinwohl zielt. Aber es gilt auch der Umkehrschluss: Der allgemeine Wille kann nur Gesetzgeber und nichts anderes sein. Diese enge Korrelation von Gemeinwille, Gesetzgebung und Gesetz bildet den Hintergrund der Rousseau'schen Ablehnung der Souveränitätsteilung.
In der Literatur herrscht einige Unklarheit über diesen Punkt. Manche lesen diese Kritik als Ablehnung der Gewaltenteilung. Es ist in der Tat nicht recht klar, gegen welche Form von Teilung sich Rousseau eigentlich wendet. Es gibt zumindest drei Bedeutungen von Gewaltenteilung, die strikt auseinander gehalten werden sollten: die herrschaftsrechtlich-ständestaatliche Gewaltenteilung ä la Montesquieu; die zuständigkeitsrechtliche Zerteilung der Souveränität in einzelne Kompetenzzonen ä la Hobbes und Pufendorf; die funktionale Gewaltenteilung im Sinne der kantischen trios politico.
Montesquieu, der ein Jahr vor Hobbes' Tod geboren wurde, entwirft im 6. Kapitel des XI. Buches seines Werkes De l'Esprit des Lois im Rahmen einer Fortführung der antiken Lehre vom regimen mixtum ein komplexes System der Ausbalancierung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Durch eine ausgeklügelte Verteilung der Kompetenzen halten sich Volk, Adel und König gegenseitig in Schach, hemmen sich wechselseitig, sodass keiner die Übermacht erlangen kann. Montesquieu geht es darum, durch eine Verteilung der Legislativ- und Exekutivfunktionen auf die politischen Gruppen der ständischen Gesellschaft alle an der Ausübung politischer Macht zu beteiligen und an die Notwendigkeit des Interessenausgleichs und des politischen Kompromisses zu binden. Ein verschränktes System von Entscheidungs- und Vetobefugnissen schafft ein Höchstmaß an Interdependenz, die zum Ausgleich zwingt und auf den Prozess der politischen Willensbildung wie ein Filter wirkt, der nur gemeinsam getragene Entscheidungen passieren lässt. Montesquieus gewaltenteilige Grundverfassung ist gegen das nach absoluter Herrschaft strebende Königtum gerichtet. Mit ihrer ausgeklügelten Kompetenzverzahnung legt sie sich wie ein Netz über die zeitgenössische ständische Gesellschaft und erlaubt keiner Kraft, eine für die Freiheit verderbliche unkontrollierte und leviathanische Machtfülle zu erreichen.
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