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II. Die Vertragslehre im „Gesellschaftsvertrag“

Während Rousseau im zweiten Discours eine geschichtsphilosophische Untersuchung über die menschliche Vergesellschaftung vorgenommen hat, die das gesellschaftliche Leben als fortgesetzte und sich steigernde sittliche Depravation deutete, gleichwohl jenseits dieses groben geschichtsphilosophischen Dualismus von Heilszustand und Entfremdung keinerlei normative Argumentation entwickelte, verfolgt er im Contrat social ein normatives Erkenntnisprogramm, das die fundamentalen Prinzipien des Staatsrechts entwickeln und die Verfassung legitimer Herrschaft beschreiben will. Den begrifflichen Rahmen der Ermittlung der Regeln des Staatsrechts liefert das kontraktualistische Argument. Während Rousseau den Kon- traktualismus in seinem geschichtsphilosophischen Diskurs als Interpretationsschema für die maßgeblichen Entwicklungs- und Verrechtlichungsschritte einer liberalen Gesellschaft benutzt hat, dient ihm der Kontrak- tualismus jetzt als im weiteren Sinne gerechtigkeitstheoretisches, im engeren Sinne staatsrechtliches Erkenntnisverfahren.
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten." Das ist nicht der Aufschrei eines Anarchisten. Die Berufung auf die angeborene Freiheit des Menschen dient nicht der Illegitimierung staatlicher Herrschaft, nicht der Zurückweisung politischer Institutionen. Das normative Erkenntnisprogramm des Contrat social geht von der Unerlässlichkeit der Errichtung einer Herrschaftsordnung aus. Nimmt man die Menschen, „wie sie sind" (I; 351; 59), dann wird man auf eine spontan-moralische, auf alle Autoritäts- und Zwangselemente verzichtende Lösung aller auftauchenden Koordinationsprobleme nicht hoffen dürfen. Anarchie ist keine anthropologische Option. Während im Discours sur l'inegalite der Naturzustand noch das gesellschaftskritische Kontrastbild lieferte, während hier die Gesellschaftsentwicklung den Charakter eines Sündenfalls besaß, teilt der Contrat social die allen staatsphilosophischen Vertragstheorien der Neuzeit gemeinsame Einsicht, dass der Naturzustand zu verlassen ist.
Falsche Legitimationstheorien
Gibt es einen rechtmäßigen Weg von der angeborenen Freiheit des Einzelnen zur politischen Herrschaft? Gibt es legitime „Ketten"? Um den Weg für die richtige Antwort auf diese Frage vorzubereiten, räumt Rous-

seau erst einmal gescheiterte Lösungsversuche beiseite. Der Gesellschaftsvertrag beginnt nicht mit der Ausarbeitung einer Naturzustandstheorie, sondern stellt eine knappe Auseinandersetzung mit der Geschichte philosophischer Herrschaftslegitimation an den Anfang. Er gibt sich damit den Charakter einer kritischen, die gesamte Geschichte ihrer Äußerungen umfassenden legitimationsphilosophischen Selbstreflexion. Natürlich haben auch Rousseaus kontraktualistische Vorgänger Kritik an alternativen Konzeptionen geübt; sowohl Pufendorf als auch Locke haben an polemisch gegen Hobbes gerichteten Bemerkungen nicht gespart. Gleichwohl hat keiner eine methodologische Selbstreflexion an den Anfang seiner kon- traktualistischen Erörterung gestellt. Indem Rousseau Derartiges tut, die Darstellung-des zu verlassenden Naturzustandes durch eine Darstellung der zu verwerfenden Naturzustands- und Vertragstheorien ersetzt, siedelt er seine Konzeption genau eine Reflexionsebene oberhalb der Theorien seiner Konkurrenten an.
Rousseau unterscheidet in seinen sehr gedrängten, wenig homogenen und mit Sarkasmen durchsetzten Ausführungen über falsche Wege der Herrschaftslegitimation drei Klassen von Legitimationstheorien. Da sind einmal die patrimonialen Legitimationstheorien, die sich an den Autoritätsverhältnissen innerhalb des Familienverbandes orientieren und politische Herrschaft nach väterlichem Vorbild verstehen. Sie sind häufig, insbesondere im Geltungsbereich biblischer Überlieferung, mit dynastisch-geneao- logischen Überlegungen verknüpft. Das verleiht dann der Abstammung von einer der mythologisch ausgezeichneten Urfamilien, von Adam oder Noah, dem Vater aller Väter, dem König aller Könige beträchtliche Bedeutung: „Denn", so macht sich Rousseau über diese adamitischen Legitimationstheorien des vulgären Monarchismus lustig, „da ich in direkter Linie von einem dieser Fürsten abstammte [...] wer weiß, ob meine Erb- ansprüche mich nicht zum rechtmäßigen Herrscher des Menschengeschlechts machen würden?" (1.2; 354; 64). Um die legitimationstheoretische Verwendung der Familienstruktur für Monokratien zu unterbinden, macht Rousseau geltend, dass die Familie in eine Naturalfamilie und Kon- ventionalfamilie zerfällt. Sobald keine Erhaltungsabhängigkeit der Kinder mehr besteht, „löst sich das natürliche Band", schulden die Kinder dem Vater somit auch keinen Gehorsam mehr. Gehorsam ist lediglich eine funktionsgerechte Verhaltensweise für die Phase biologischer Abhängigkeit. Sie wird obsolet, sobald die Kinder selbsterhaltungsfähig geworden sind. Diese versorgungstechnische Reduktion der Familie macht sie als Muster monarchischer Herrschaft unbrauchbar. Wenn schon die Familie selbst mit dem Erreichen der Selbsterhaltungsfähigkeit der Kinder nur noch auf Vereinbarung beruht, wird politische Herrschaft sich legitimato- risch nicht auf ein natürliches Obligationsgefälle in parentalen Beziehungen berufen können. Rousseau schließt sich in jeder Hinsicht der Kritik Lockes an Robert Filmers Patriarchia an: Die legitimationstheoretische Maxime des Monarchismus, der Staat sei eine Familie in Großformat, ist unhaltbar.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Rousseaus Discours sur rEconomie politique. Wie Aristoteles versucht Rousseau eingangs dieses Enzyfc/öpädze-Artikels die Eigentümlichkeit des Bürgerlich-Staatlichen durch die Gegenüberstellung von oikos und polis, von Familie und Staat, von Vater und Herrscher zu bestimmen. Und wie Aristoteles macht er deutlich, dass die für den Familienkreis zuständigen Kategorien und die die politische Welt bestimmenden Grundbegriffe höchst unterschiedlich sind und nicht verwechselt werden dürfen: Die Abhängigkeitsverhältnisse des Hauses sind kein Muster für den Herrschaftsaufbau im Staat. Genau diese Einsicht macht Aristoteles zum Begründer der Politologie.27 Aber da sich Rousseau trotz seines gespannten Verhältnisses zu den Lebensverhältnissen seiner Zeit nie den modernen Denkverhältnissen entziehen konnte, gibt er diesem Unterschied zwischen der Sphäre des Hauses und der Sphäre des Staates noch einen weitaus schärferen Ausdruck. Die häusliche Welt, so sagt er, wurzele in der Natur; die die Familienbeziehungen prägenden Abhängigkeitsverhältnisse seien ebenso in den Gegebenheiten der Natur begründet wie die väterliche Macht. In der staatlichen Gemeinschaft jedoch, „deren Mitglieder von Natur aus gleich sind, kann die politische Autorität, deren Einrichtung allein willkürbestimmt ist, sich nur auf Übereinkünfte stützen, und ein Beamter kann anderen Leuten nur aufgrund von Gesetzen befehlen"28. Daher bietet die Natur auch dem Herrscher nicht die geringste Unterstützung bei seinen Regierungsgeschäften. Die Natur ist unpolitisch; sie hat für diese Form von Tätigkeit, für das Herrschen über Freie und Gleiche, keinerlei Verhaltensprogramm parat. Der Vater ist mit der Natur im Bunde und muss nur auf die Stimme seines Herzens achten, kann sich allein von seiner Liebe leiten lassen. Der Herrscher hingegen „wird ein Verräter, sobald er auf sein Herz hört. Selbst sein Verstand muss ihm verdächtig sein. Er darf keiner anderen Regel folgen als der öffentlichen Vernunft, die das Gesetz ist. So hat die Natur unendlich viele gute Familienväter gemacht, aber es ist zweifelhaft, ob die menschliche Weisheit seit Anbeginn der Welt auch nur zehn Männer hervorgebracht hat, die fähig waren, ihre Mitmenschen gut zu regieren."29
Und genauso wenig, wie sich der politische Herrscher den natürlichen Vater zum Muster nehmen kann, kann er den natürlichen Despoten zum Vorbild erklären. Denn die Natur kennt keine Scheidung der Menschen in Herren und Sklaven. Erst der gegen die Natur gerichtete, Gleichheit zerstörende erfolgreiche Gewalteinsatz etabliert Herrschaftsverhältnisse, erzeugt Herren und Sklaven. Ausdrücklich wendet sich Rousseau gegen das seit alters Aristoteles zugeschriebene Diktum, dass es Sklaven von Natur aus gebe.
Der zweite legitimationstheoretische Typ bietet machttheoretische Lösungen des Rechtfertigungsproblems. Machttheoretische Lösungen sind allesamt Variationen der dem Sophisten Kallikles zugeschriebenen These von dem Recht des Stärkeren. Wollte der Machttheoretiker nur eine empirische These über die Entstehung von Recht aufstellen, bestünde kein Grund, ihm zu widersprechen. Denn in der geschichtlichen Welt verdankt sich das Recht der Übermächtigkeit, der obsiegenden Gewalt. Beansprucht der Machttheoretiker jedoch, eine zufrieden stellende Antwort auf das Problem der Herrschaftslegitimation zu geben, muss er entschieden zurückgewiesen werden. Stärke, Überlegenheit, Übermächtigkeit verleiht keinen Rechtstitel. Der normative, geltungstheoretische Übergang von der Gewalt zum Recht kann von der Gewalt selbst nicht hergestellt werden. Herrschaft lässt sich weder durch Rekurs auf eine überlegene physische Macht noch unter Hinweis auf bereits bestehende Herrschaftsverhältnisse legitimieren. Allein schon aus logischen Gründen vermögen weder der krude Kallikleismus noch der subtilere Rechtspositivismus eine zufrieden stellende legitimationstheoretische Antwort zu offerieren: Aus Tatsachen lassen sich keine normativen Bestimmungen ableiten. Es gibt physische Überlegenheit, aber kein Recht des Stärkeren; es gibt rechtsdurchsetzende Unwiderstehlichkeit, aber der, der Rechtsregeln durchzusetzen vermag, ist darum nicht auch gleichzeitig mit der rechtlichen Kompetenz versehen, Recht zu setzen. Die Rede vom Recht des Stärkeren ist redundant, da, wie Rousseau zu Recht bemerkt, „das Wort Recht der Macht nichts hinzufügt" (1.3; 354; 65). Die Sätze „Ich bin der Stärkere" und „Ich habe aufgrund meiner Übermächtigkeit ein Recht, deinen Willen zu bestimmen" sind bedeutungsgleich. Und das heißt: Keiner, der sich zum Zeitpunkt ti dank seiner Übermächtigkeit eine Rechtsposition verschafft hat, kann sich unter Berufung auf diese Rechtsposition gegen die Herrschaftsansprüche eines noch Stärkeren zum Zeitpunkt t2 wehren. Folglich zeichnet der Rechtsbegriff in dieser ebenso weit verbreiteten wie gedankenlosen Redewendung nur die kontingente Gewaltgeschichte nach. Daher ist die Formel von dem Recht des Stärkeren nicht nur redundant, sondern in ihr wird der Rechtsbegriff selbst denaturiert. Denn ein unverzichtbarer Bedeutungsbestandteil des Rechtsbegriffs ist seine Gegensätzlichkeit zur Gewalt. Hier aber nimmt das Recht die Farbe der Gewalt an, fällt der Rechtsbegriff mit dem der Gewalt zusammen.
Kallikleismus und Positivismus setzen sich über die notwendige Bedingung hinweg, die Legitimationstheorien erfüllen müssen, über die Konsensbedingung. Nur vor dem Hintergrund der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen lassen sich die Umrisse einer legitimen HerrschaftsOrdnung wahrnehmen. „Die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das allen anderen Rechten zur Grundlage dient. Gleichwohl entspringt es nicht der Natur; es ist also auf Vereinbarungen gegründet" (1.1; 352; 62). Freilich ist nicht jede Vereinbarung, nicht jede Übereinkunft legitimationstheoretisch gleichwertig. Auch in der Tradition der Vertragstheorie gibt es unzureichende Lösungen des Problems der Herrschaftslegitimation. Zwar gebührt der kontraktualistischen Rechtfertigungsmethode ein struktureller legitimationstheoretischer Vorzug gegenüber der kurzschlüssigen Machttheorie, jedoch droht dieser verspielt zu werden, wenn die vertraglichen Vereinbarungen ihrerseits rechtlich und sittlich unannehmbar sind. Es kommt also alles darauf an, in den Gedankenexperimenten des Kontraktualismus rechtlich zulässige Vereinbarungen von rechtlich unzulässigen Vereinbarungen zu unterscheiden. Der Kontraktualismus ist eine notwendige, aber als solcher nicht zugleich auch schon die hinreichende legitimationstheoretische Bedingung. Es gibt Verträge, die selbst eine delegitimierende Wirkung haben. Mit dem Betrugsvertrag der Reichen aus dem geschichtsphilosophischen Diskurs, der deutlich auf die staatsrechtliche Tradition des Kontraktualismus anspielte, hat Rousseau ja bereits selbst ein Beispiel eines unzulässigen Kontraktualismus gegeben.
Systematischer Grundriss des Kontraktualismus
Als Vertragstheorien bezeichnet man moral-, sozial- und politikphilosophische Konzeptionen, die die moralischen Prinzipien menschlichen Handelns, die rationale Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimationsbedingungen politischer Herrschaft in einem hypothetischen, zwischen freien und gleichen Individuen in einem wohldefinierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgemeine Zustimmungsfähigkeit zum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterium erklären. Vertragstheorien basieren wie die ihnen eng verwandten Konsenstheorien auf einem rechtfertigungstheoretischen Pro- zeduralismus. Sie stellen die systematische Ausarbeitung der modernitätstypischen Überzeugung dar, dass sich die gesellschaftlichen Rechtfertigungsbedürfnisse nicht mehr durch Rekurs auf den Willen Gottes oder eine objektive natürliche Wertordnung decken lassen. Das Verblassen der theologischen Weitsicht, das Verschwinden der traditionellen qualitativen Naturauffassung unter dem nüchternen Tatsachenblick der modernen Wissenschaften, der Zerfall der fest gefügten und wertintegrierten Sozialordnung unter dem wachsenden Ansturm der Verbürgerlichung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangten eine Neuorganisation der kulturellen Rechtfertigungspraxis, die mit den neu erschaffenen

geistigen Grundlagen der Welt der Moderne, mit den neu geprägten Selbst- und Weltverhältnissen der Menschen in Übereinstimmung stand. Die objektivistischen Legitimationstheorien der Tradition, das stoisch-christliche Naturrecht, der theologische Absolutismus, die teleologische Ontologie hatten ihre Geltung eingebüßt und konnten nicht mehr herangezogen werden, um die gesellschaftlichen Begründungsgewohnheiten metaphysisch zu untermauern.
Diese neuzeittypische individualistische Fundierung aller gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen krempelt das traditionelle Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gründlich um. Zum einen schreibt sie dem Individuum rechtfertigungstheoretische Absolutheit zu, die verlangt, es dem Bereich des Besonderen zu entziehen und jenseits aller geschichtlich entwickelten und kulturell formierten Gemeinschaftlichkeit zu situieren. Nur als entweder naturalisiertes oder universalisiertes Individuum, nur als Bewohner einer vor-sozialen Natur oder einer gesellschaftsjenseitigen Vernunftallgemeinheit vermag es die Rolle zu übernehmen, die ihm eine Rechtfertigungstheorie zuweist, die alles Vertrauen in die Leistungskraft der traditionellen objektivistischen Legitimationsinstanzen verloren hat, gleichwohl aber an dem Allgemeingültigkeitsziel festhalten will. Als gerechtfertigt können gesellschaftliche und politische Institutionen daher nur gelten, wenn sie generellen Präferenzen der menschlichen Natur oder universellen normativen Bestimmungen menschlicher Persönlichkeit entsprechen. Zum anderen führt die individualistische Fundierung zur Auszeichnung des Legitimationstyps des prozeduralen Konsentismus, Da menschliche Individuen unterschiedliches normatives Gewicht nur im Rahmen vorgegebener normativ verbindlicher Ordnungen besitzen können, diese aber rechtfertigungstheoretisch nicht mehr in Betracht kommen, zählt ein Individuum so viel wie jedes andere, hat jedes Individuum also gleiches Recht, im Legitimationsdiskurs gehört zu werden. Die rechtfertigungstheoretische Absolutsetzung des Individuums führt also notwendig zum Egalitarismus', und dieser hinwiederum verlangt, die fällige Rechtfertigung konsensgenerierenden Verfahren zu übertragen. Das ruft den Vertrag auf den Plan, denn der Vertrag ist das konsensgenerierende Verfahren kat' exochen.
Der Vertrag des philosophischen Kontraktualismus lebt nicht aus sich selbst, ist nicht autark. Er ist verbindlichkeitstheoretisch abhängig, seine interne obligationstheoretische Struktur kann nur dann wirksam werden, wenn er sich in den externen obligationstheoretischen Rahmen seiner moralischen Gültigkeitsbedingungen einfügt. Wir stoßen auf diese moralischen Bedingungen vertraglicher Einigungen, wenn wir uns fragen, ob es sittliche Einwände gegen vertragliche Übereinkünfte geben kann und wie diese gegebenenfalls gerechtfertigt werden können. Es zeigt sich dann, dass wir überhaupt nicht bereit sind, das voluntaristische Motto „ volenti non fit iniuria" ohne zusätzliche moralische Qualifikationen zu akzeptieren, dass wir bestimmte vertragsmoralische Überzeugungen haben, denen Verträge gerecht werden müssen, um die ihnen begrifflich innewohnende Normativität entfalten zu können. Da ist einmal die Bedingung der Freiwilligkeit. Es ist freilich nicht zu erwarten, dass eine genaue und für alle möglichen Zweifelsfälle kriteriell befriedigende Grenzziehung zwischen freiwilligen Zustimmungen und unfreiwilligen Zustimmungen möglich ist. Hier ist nur wichtig zu vermerken, dass die Vertragsmoral allgemeine Zumutbarkeitsbedingungen formuliert, die in der Verhandlungssituation - und das heißt im Theoriekontext des philosophischen Kontraktualismus: im Naturzustand - erfüllt sein müssen, damit die Zustimmung zum Vertrag auch als freiwillig geleistet bewertet werden kann, und deren Verletzung - beispielsweise durch Zwangsanwendung und Erpressung oder durch eine die persönliche Entscheidungsfreiheit drastisch einschränkende und somit eine Freiheits- und Machtasymmetrie zwischen den Vertragspartnern bewirkende Notlage - eine sittliche Ungültigkeitserklärung des Vertrages legitimieren. Da ist zum anderen die Bedingung einer hinreichend symmetrischen Ausgangsposition der Vertragspartner und eines fairen Austauschs der vertraglichen Leistungen. Beide Bedingungen sind Varianten des Reziprozitätsprinzips. In ihnen artikuliert sich gleicherweise die Überzeugung, dass ein sittlich gültiger Vertrag fundamentale Gerechtigkeitsauflagen zu erfüllen habe. Die Moralität des Vertrags prägt nicht nur die vertraglichen Einigungen in der Gesellschaft und die vertragsrechtlichen Entscheidungen ihrer Gerichte, sie bestimmt auch die Argumentation des philosophischen Kontraktualismus. Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages muss beiden vertragsmoralischen Bedingungen gerecht werden. Nur ein Vertrag, der beide Bedingungen zusammen erfüllt, kann die ihm von der Theorie übertragene rechtfertigungstheoretische Rolle spielen.
Die Moralitätsdimension des Vertrages hat entscheidende Auswirkungen auf das Begründungsprogramm des philosophischen Kontraktualismus. Denn die Gerechtigkeits- und Fairnessregeln der Vertragsmoral, mit denen sich der Vertrag in Übereinstimmung bringen muss, um in rechtfertigungstheoretischen Kontexten als Erkenntniskriterium des Legitimen und Gerechten verwendet werden zu können, können nicht ihrerseits mit Hilfe des Vertragsmodells gerechtfertigt werden. Der Kontraktualismus ist nicht letztbegründungskompetent. Die Reichweite des kontraktualistischen Begründungsarguments ist prinzipiell begrenzt. Denn das, was vertragliche Einigungen zu sittlich zulässigen Einigungen macht, kann seinerseits nicht durch vertragliche Einigungen gewonnen werden. Der Vertrag ist also rechtfertigungstheoretisch sekundär. Als philosophische Rechtfertigungstheorie bedarf der philosophische Kontraktualismus stets fremder systematischer Unterstützung, sei es durch eine Menschenrechtstheorie, die die Gleich- heits- und Fairnessvoraussetzungen unmittelbar aus der These des menschenrechtlichen Egalitarismus gewinnt, sei es durch eine kohärenztheoretische Begründungsfigur, die die normativen Vertragsvoraussetzungen interpretativ aus den vorfindlichen moralischen Überzeugungen entwickelt.
Hobbes' Vertrag
Hobbes ist der Begründer des staatsphilosophischen Kontraktualismus. Die von ihm entwickelten Argumentationsmuster und Begriffsformen bilden den verbindlichen Rahmen, in dem bis in Kants Zeiten über Recht, Staat und Herrschaft reflektiert wurde. Und obwohl Rousseau's kontrak- tualistischer Demokratismus das genaue Gegenteil von Hobbes' kontrak- tualistischem Absolutismus zu sein scheint, wird sich zeigen, dass auch Rousseau in hohem Maße der Hobbes'schen politischen Philosophie verpflichtet ist. Der Hobbes'sche Vertrag ist ein Vertrag eines jeden mit einem jeden. Seine Gestalt korrespondiert genau der individualistischen Konfliktstruktur des Naturzustandes. So wie der Naturzustand ein Zustand des Krieges eines jeden gegen einen jeden war, muss auch der ihn beendende Vertrag ein Vertrag eines jeden mit einem jeden sein. Er ist Gesellschaftsvertrag und Staatsvertrag in einem. Die durch ihn herbeigeführte Errichtung des bürgerlichen Zustandes ist in derselben logischen Sekunde Errichtung einer Herrschaftsordnung und Herstellung einer Gesellschaft. Denn Vergesellschaftung und Herrschaftsetablierung sind unabhängig voneinander nicht denkbar: der Vertrag ist Grund der Vergesellschaftung der Individuen nur, insofern er auch zugleich Grund der Herrschaftserrichtung ist, und er besitzt diese herrschaftsbegründende Funktion nur als eine die Individuen assoziierende und wechselseitig bindende Rechtsfigur. Der vertragliche Zusammenschluss enthält das Modell der individualistischen, modernen, bürgerlichen Gesellschaft, deren Bestand durch den Leviathan garantiert werden soll.
Einzig das Recht eines jeden auf alles und alle erweist sich in der Analyse des Naturzustandes als eine Konfliktursache, die menschlicher Veränderung zugänglich ist: die menschliche Natur kann nicht verändert werden, auch das Regiment der Knappheit kann nicht abgeschüttelt werden, jedoch kann die unbegrenzte menschliche Handlungsfreiheit Regeln unterworfen werden. Der erste Schritt auf dem Weg aus dem Naturzustand muss also der wechselseitige Verzicht auf das ius in omnia et omnes sein. Allerdings wäre mit einem wechselseitigen Verzicht auf das ius in omnia et omnes allein noch nicht die erhoffte Verbesserung des Zustandes erreicht. Zusätzlich ist die Existenz eines Macht habenden Willens erforderlich, der den Freiheitsgebrauch der Individuen koordiniert und die divergierenden Willen der vielen in seinem Willen vereinigt. Wie aber kann die Handlung des wechselseitigen Rechtsverzichts Souveränität konstituieren, ein Herrschaftsrecht erzeugen, einen Willen hervorbringen, der alle in eine politische Einheit einbindet? Wie kann auf der Grundlage der wechselseitigen Selbstentwaffnung aller Naturzustandsbewohner ein mit Gewaltmonopol ausgestatteter allgemeiner Wille entstehen?
Hobbes' Antwort auf diese Frage nach dem Legitimationsgrund der staatlichen Autorität ist das kontraktualistische Autorisierungsargument des Leviathan:
„Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt so viel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, dass jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf Lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem Einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, dass er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken. Hierin liegt das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder Einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, dass sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt."30
Durch die vertraglichen Akte der Übertragung des Rechts auf Selbstregierung wird die Menge zu einer politischen Einheit, die durch den Souverän verkörpert wird; oder genauer: durch diese Akte der Rechtsübertragung und Autorisierung wird die Menge zu einem politischen Körper, der durch den Souverän beseelt wird. Hobbes hat die Souveränität ja selbst in der berühmten Einleitungs-Passage des Leviathan als „künstliche Seele" bezeichnet, „die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt"31. Der Autorisierungsakt ist das Fiat der politischen Welt, die Beseelung des politischen Körpers. Der Wille des Souveräns regiert und bewegt den politischen Körper so, wie die Menschen im Naturzustand unter Wahrnehmung ihres Rechts auf Selbstregierung ihren Körper regiert und zu Handlungen bestimmt haben. Und jeder aus der Menge der Vertragsschließenden hat sich durch den Autorisierungsakt zum moralisch-rechtlichen Autor der Handlungen des Souveräns gemacht. Eine Menge kann nur zu einer politischen Einheit werden, wenn eine wirkliche Willensvereinigung stattfindet. Eine wirkliche Willensvereinigung kann aber nur stattfinden, wenn entweder alle Individuen dasselbe wollen oder wenn sie das, was einer will, als von ihnen selbst gewollt anerkennen. Hobbes' Konzept der politischen Einheit beruht auf der zweiten Möglichkeit. Durch die Autorisierung macht sich jedes Element der Menge zum Autor der Handlung des Souveräns; sie schafft so die Grundlage für ein absorptiv-identitäres Repräsentationsverhältnis: Rex est populus. Rousseau hingegen wird bei seiner Konzeption der politischen Einheit auf die erste Möglichkeit zurückgreifen. Die Vorstellung einer fiktiven Anwesenheit der Willen der Einzelnen im aktuell herrschenden Willen des Souveräns weist er zurück. Hobbes' staatsphilosophische Identitätskonstruktion ist in seinen Augen freiheitswidrig und widerrechtlich. Freiheit ist nur denkbar als erlebte unabhängige Betätigung des Eigenwillens. Daher sind alle Identitätsfiktionen und förmlichen Repräsentationsverhältnisse illegitim. Daher bedarf es der unmittelbaren Anwesenheit aller bei der Konstitution der Souveränität und der Wahrnehmung ihrer Rechte. Rousseau muss darum das Hobbes'sche Motto umkehren. Die Quintessenz seines staatsphilosophischen Kontraktualismus lautet: Populus est rex.
Hobbes' Vertrag ist ein Herrschaftsbegründungsvertrag, kein Herrschaftsbegrenzungsvertrag. Der Verzicht auf das Recht auf alles, die Aufgabe der natürlichen Freiheit und die Autorisierung und Übertragung des Rechts auf Selbstregierung sind allesamt vorbehaltlose Entäußerungen, die keinerlei Freiheit und keinerlei Recht auf Seiten der Vertragsparteien zurückbehalten. Dieses Vertragskonzept steht in der Geschichte des Kontraktualismus einzig da. In der Zeit nach Hobbes ist der Vertrag immer auch zu Zwecken der Herrschaftsqualifizierung verwandt worden. Der Locke'sche Vertrag etwa wird auf der Grundlage unveräußerlicher indivi- dueller Grundrechte geschlossen und überträgt dem Souverän nur die Befugnis, für den Schutz dieser seiner Disposition gänzlich entzogenen Grundrechte zu sorgen. Bei Locke errichtet der Vertrag also explizit die individuellen Grundrechte als Herrschaftsgrenze. Bei Kant wird dann die Struktur des Vertrages sogar selbst zu einer herrschaftseingrenzenden Verfassung. Hobbes' Vertragsstaat besitzt jedoch absolute Macht; er ist weder durch liberale Grundrechte noch durch Menschenrechte, weder durch eine vernunftrechtliche noch durch eine naturrechtliche Verfassung in seiner Herrschaftsbefugnis eingegrenzt. Hobbes' politische Philosophie bietet das merkwürdig-paradoxe Bild einer radikalindividualistischen Begründung absoluter Macht, einer Legitimierung des Staatsabsolutismus aus dem rückhaltlosen Selbstbindungswillen der Individuen.
Lockes Vertrag
Anders als bei Hobbes sind die nach dem Staat rufenden Naturzustandskonflikte bei Locke Rechtskonflikte, in denen sich die Verwirklichungsschwierigkeiten der unveräußerlichen Grundrechte in einem institutionell ungefestigten Zustand spiegeln. Die Durchsetzung des natürlichen Gesetzes und der in ihm gründenden Individualrechte verlangt wie die Durchsetzung positiven Rechts dreierlei: erstens eine Interpretation und rechtliche Bestimmung des natürlichen Gesetzes, die als Urteils- und Begründungsgrundlage dient; zweitens die richterliche Anwendung dieser Urteilsgrundlage auf den besonderen Fall und die Bestimmung der Strafe, der Strafart, Entschädigung oder Kriminalstrafe, und des Strafmaßes; drittens die Vollstreckung dieses Strafurteils. Im Naturzustand werden diese drei Durchsetzungsfunktionen in private Hände gelegt; jeder hat gleichermaßen das Recht, immer und zu jeder Zeit, unabgestimmt mit anderen und auf eigene Faust diese drei unerlässlichen und von der Sache her notwendigen Durchsetzungsfunktionen wahrzunehmen. Diese distributivallgemeine Verwirklichungsstrategie des natürlichen Gesetzes hingegen scheitert: die Defizienz des Naturzustandes lässt sich geradezu als Resultat der distributiv-allgemeinen Verwirklichungsstrategie des natürlichen Gesetzes beschreiben. Um die Defizienz des Naturzustandes aufzuheben, muss die distributiv-allgemeine Verwirklichungsstrategie durch eine kollektiv-allgemeine Verwirklichungsstrategie ersetzt werden, durch eine Strategie also, in der die alle betreffende und für alle gültige Verwirklichung des natürlichen Gesetzes nicht mehr von jedem Einzelnen, sondern von allen gemeinsam wahrgenommen wird. Dies geschieht dadurch, dass sich die Menschen durch ein Netz wechselseitiger Verträge zu einer bürgerlichen Gesellschaft vereinigen. Durch diesen Vertragsschluss entsteht eine politische Einheit, die als neues Rechtssubjekt auftritt. Das Recht dieses politischen Subjekts ist nicht ein originäres Recht, sondern ein abgeleitetes Recht, es ist das der Gemeinschaft von jedem Einzelnen zwecks effektiver Wahrnehmung übertragene Recht auf Naturrechtsdurchsetzung und Grundrechtsschutz.
„Da aber keine politische Gesellschaft bestehen kann, ohne dass es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Übertretungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, so gibt es nur dort eine politische Gesellschaft, wo jedes einzelne ihrer Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die ihn nicht davon ausschließen, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das persönliche Strafgericht der einzelnen Mitglieder beseitigt, und die Gemeinschaft wird nach festen, stehenden Regeln zum unparteiischen und einzigen Schiedsrichter für alle. Durch Männer, denen von der Gemeinschaft die Autorität verliehen wurde, jene Regeln zu vollziehen, entscheidet sie alle Rechtsfragen, die unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft auftreten können, und bestraft jene Vergehen, die von irgendeinem Mitglied gegen die Gesellschaft begangen werden, mit den vom Gesetz vorgesehenen Strafen. Daran kann man leicht beurteilen, welche Menschen in einer politischen Gesellschaft Zusammenleben und welche nicht. Diejenigen, die zu einem einzigen Körper vereinigt sind, eine allgemeine feststehende Gesetzung und ein Gerichtswesen haben, das sie anrufen können und das genügend Autorität besitzt, die Streitigkeiten unter ihnen zu entscheiden und Verbrecher zu bestrafen, bilden zusammen eine bürgerliche Gesellschaft."32
Die Defizite des Naturzustandes - keine autoritative Auslegung und gesetzliche Fortbestimmung des natürlichen Gesetzes, keine unparteiliche, allgemein zuständige richterliche Autorität, keine zentrale und unwiderstehliche Macht zur Durchsetzung der Gesetze und der Gerichtsurteile - enthalten e contrario die Funktionsbeschreibung des Locke'schen Staates. Die politische Herrschaft dient der Durchsetzung des natürlichen Gesetzes, der Sicherung und Verwirklichung der vorstaatlichen, individualrechtlich konstituierten gesellschaftlichen Ordnung freier und gleicher Individuen. Der Staat ist für Locke wesentlich organisierte Grundrechtspflege, er ist das geordnete und zweckdienliche Zusammenspiel der Institutionen der Legislative, der Jurisdiktion und der Exekutive; in ihm wird durch eine öffentliche Gesetzgebung, in der die natürliche Rechtsordnung der individuellen Grundrechte der Freiheit, Gleichheit und des Eigentums positi- viert, konkretisiert und rechtlich bestimmt wird, festgelegt, was im Allgemeinen, und durch öffentliche Justiz entschieden, was im besonderen, strittigen Fall rechtens ist und wo die Entscheidungen beider, die politischen Gesetze und die richterlichen Urteile mit unangefochtener Wirksamkeit durchgesetzt werden.
Lockes Vertrag hat eine zugleich herrschaftslegitimierende und herrschaftslimitierende Funktion. Er begründet die politische Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft und gibt damit der in ihrem Namen ausgeübten Herrschaft von Menschen über Menschen eine konsentische Grundlage; ohne offen erteilte oder stillschweigend gegebene Zustimmung kann von Menschen keine Herrschaft über Menschen ausgeübt werden, muss politische Herrschaft als Missachtung des individuellen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechts angesehen werden und mit legitimem Widerstand seitens der Individuen rechnen. Zugleich schränkt der Vertrag die Herrschaftsausübung auf die Freiheitsbereiche ein, auf welche die Individuen ausdrücklich im Vertrag Verzicht leisten, und richtet sie an solchen Zwecken aus, um deren effektiver Durchsetzung willen die vertragliche Vereinigung überhaupt erfolgt ist. Damit sind die nicht vertraglich überantworteten Rechte dem staatlichen Zugriff entzogen. Der Vertrag bindet die politische Herrschaft, die funktionsgerechte Wahrnehmung der politischen Gewalt, an die Bedingungen der Entstehung des body politic, macht den fundamentalen Vereinigungszweck, Rechtssicherung, Eigentumsschutz, Erhaltung der politischen Gemeinschaft, als legitimationsentscheidende Herrschaftsgrenze geltend. Durch ihn wird die staatliche Tätigkeit auf die rechtsbestimmende Konkretisierung und institutionell-organisatorische Sicherung der natürlichen Rechtsform der Naturzustandsgesellschaft festgelegt. Das, was man Staat nennt, ist die von der Naturzustandsgesellschaft gesuchte wirksame und für alle nützliche Kompensation ihrer Stabilitätsmängel. Damit zeigen sich im ursprünglichen Vertrag Lockes die Grundzüge des bürgerlichen Liberalismus, der Grundrechts- und Privatrechtsschutz verlangt.
Rousseaus Kritik der kontraktualistischen Überlieferung
Mit dem Argument von der notwendigen legitimationstheoretischen Bedingung schließt sich Rousseau dem neuzeitlichen staatsphilosophischen Kontraktualismus an. Mit dem Argument von der hinreichenden legitimationstheoretischen Bedingung freilich distanziert er sich von allen seinen kontraktualistischen Vorgängern. Keine der bislang entwickelten Kontrak- tualismusversionen erfüllt in seinen Augen das hinreichende legitimationstheoretische Kriterium. Die Naturrechtsjuristen Grotius und Pufendorf, die dem Gesellschaftsvertrag noch einen Herrschaftsvertrag folgen lassen, aber auch die Staatsphilosophen Hobbes und Locke, die nur einen einzigen Vertrag ins Zentrum ihrer Argumentation stellen, haben ihren unterschiedlichen Vertragskonzepten gleichermaßen moralisch unzulässige Vereinbarungen zugrunde gelegt. Weder die Doppelvertragslehre noch der kontraktualistische Absolutismus und der kontraktualistische Liberalismus haben das staatsphilosophische Fundamentalproblem rechtmäßiger Herrschaft gelöst. Grotius und Pufendorf, Hobbes und Locke haben die falschen Verträge geschlossen. Natürlich sind die Kontraktualismusversionen, die Rousseau hier über einen Kamm schert, höchst unterschiedlich. Die
Verträge von Hobbes und Locke sind philosophisch viel raffinierter als die schwerfälligen Mehrvertragskonstruktionen der Naturrechtsjuristen. Aber diese Differenzen fallen für Rousseau nicht ins Gewicht. Ob Hobbes oder Pufendorf, am Ende des Vertrages stehrühermächtige, Freiheit verschlingende Herrschaft, am Ende des Vertrages steht das paradoxe Resultat einerrechtlichen Selbstvernichtung der Individuen.
„Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf sein Menschsein, auf seine Menschenrechte verzichten [...] Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar. Wer seinem Willen alle Freiheit nimmt, nimmt seinen Handlungen jede Moralität. Darüber hinaus wäre es ein nichtiger und widersprüchlicher Vertrag, auf der einen Seite absolute Herrschaft und auf der anderen unbegrenzten Gehorsam zu vereinbaren. Ist es nicht klar, dass man demjenigen nichts schuldig ist, von dem alles zu fordern man das Recht hat, und dass diese Bedingung allein, ohne Wechselseitigkeit und ohne Tausch, die Nichtigkeit des ganzen Vorgangs nach sich zieht? [...] Die Wörter: Sklaverei und Recht widersprechen sich; sie schließen sich gegenseitig aus. Zwischen Mensch und Mensch oder zwischen einem Menschen und einem Volk ist folgende Absprache ohne Sinn: ,Ich schließe mit dir einen Vertrag, der ganz zu deinen Lasten und ganz zu meinem Nutzen geht; ich halte ihn, solange es mir gefällt, und du musst ihn einhalten, solange es mir passt."4 (1.4; 356, 358; 67, 71)
Der Absolutismus ist die politische Version der Sklaverei und widerspricht wie diese dem elementaren Menschenrecht der Freiheit. Seine kon- traktualistische Begründung ist kein Ausweg, da ein Vertrag, der auf die Abschaffung seiner eigenen rechtlichen Voraussetzungen zielt, aus logischen und sittlichen Gründen gleichermaßen ungültig ist. In Roussaus Augen ist der traditionelle Kontraktualismus eine Perversion des Rechts. Rousseau wirft seinen kontraktualistischen Vorgängern vor, die emanzipatorische Intention des Vertragsgedankens verkehrt und seine freiheitlichen Grundlagen zerstört zu haben. Eine kontraktualistische Begründung absoluter staatlicher oder fürstlicher Herrschaft ist ein hölzernes Eisen. Nur dann kann ein Vertrag legitimationstheoretisch überzeugen, wenn er seine ndnTrarrveirAusgangsbestimmungen bewahrt und festigt, wenn er als Kon- tinuierung und Ermächtigung der Freiheit wirksam wird. Freiheit kann nicht die Freiheit zur Selbstabschaffung umfassen und die Rechtsform des Vertrages nicht zur rechtlichen Erzeugung absoluter Rechtlosigkeit dienen; ein SelbstversldaYUngsvertrag ist ein rechtliches Unding, Die Unterwerfungsverträge von Grotius und Pufendorf, in denen sich die Gesellschaft vorbehaltlos dem herrscherlichen Willen ausliefert, aber auch der Staatsvertrag von Hobbes, mit dem die Menschen einen absoluten Herren erzeugen, der alle Gewalt über sie hat, kommen jedoch in Rousseaus Augen einem Selbstversklavungsvertrag gleich. Sie sind darum in hohem Maße rechts-uruLfieiheitswidrig.
Der kontraktualistische Absolutismus ist legitimationstheoretisch gescheitert. Wie Rousseau überdies - und diesmal in völliger Übereinstimmung mit John Locke33 - hervorhebt, ist der kontraktualistische Absolutismus aber auch durch und durch irrational und keine ernsthafte Option kluger, auf Befriedigung ihrer Interessen bedachter Individuen: Welcher Mensch, der bei Sinnen ist, würde sich zu einer rechtlichen Selbstauslöschung bereitfinden und seine Freiheit ohne gesicherte Gegenleistung einfach wegschenken? Ein sich „umsonst (gratuitement)" weggebendes Volk ist zweifellos ein „Volk von Wahnsinnigen; aber Wahnsinn schafft kein Recht" (1.4; 356; 67). Diese Überlegung ist keineswegs abwegig, denn eine Rationalitätsprüfung des Vertrages ist alles andere als systemfremd. Verträge sind soziale Instrumente, deren sich die Vertragsbeteiligten zum Zwecke der Verbesserung ihrer Nutzenposition bedienen. Wie die Benutzung aller Instrumente steht auch die Verwendung von Verträgen unter Rationalitätsbedingungen, die sich teils auf den allgemeinen Kontext vertraglicher Praxis, teils auf die besonderen Eigenschaften des in Rede stehenden Vertrages beziehen und die teils formaler, teils inhaltlicher Natur sind. Eine Person wird dann einen Vertrag schließen, wenn die erwünschte Verbesserung der eigenen Lage auf eigene Faust nicht zu erreichen ist und man sich der Kooperation anderer versichern muss.
Rousseau zweifelt also sowohl die Moralität als auch die Rationalität der Vertragsversionen seiner kontraktualistischen Vorläufer an. Ist diese Kritik im Fall des direkt-kontraktualistischen Hobbes'schen oder des indi- rekt-kontraktualistischen Pufendorf'schen Absolutismus mühelos nachvollziehbar, so überrascht es doch, dass auch Locke in Rousseaus Kritik einbezogen wird. Der Grund ist Rousseaus anders gelagertes, die Grenzen des Liberalismus überschreitendes Freiheitsverständnis. Zwar errichtet Lockes Vertrag im Vorgriff auf die Menschenrechtskataloge des 18. Jahrhunderts mit der individualrechtlichen Trinität von „life, liberty, and estate" eine eindrucksvolle Herrschaftsschranke, doch bleibt das Individuum an der von der vertragserzeugten Konstitutionsgewalt auf 'trust'-Basis eingesetzten Herrschaft unbeteiligt und gerät damit in den Augen Rousseaus unter Fremdbestimmung und in politische Abhängigkeit. Locke ging es ja nicht darum, aus der individuellen Autonomie aktiv-volksso.uYeräiiitäre Konsequenzen zu ziehen, sondern in den auslaufenden Verfassungskämpfen des 17. Jahrhunderts der parlamentarischen Legislative mit kontraktualistischen Mitteln den Vorrang vor der königlichen Gewalt zu sichern. Während die Argumente gegen den Subjektionsvertrag der Pufendorfia- ner und den kontraktualistischen Absolutismus Hobbes' teils auf einer begriffsanalytisch entwickelten immanenten Widerlegung, teils auf einem common-sense-Verständnis von Freiheitsrecht beruhen, macht die Zurückweisung Lockes von der für Rousseau charakteristischen Radikalisierung

Das Freiheitsrecht und das staatsphilosophische „probleme fondamental" 47 des Freiheitskonzepts Gebrauch, die den Postulaten der Bewahrung der Rechtspersönlichkeit und Handlungsfreiheit das den Horizont des Common sense beträchtlich übersteigende Postulat politischerAuionomie und Selbstherrschaft hinzufügt.
Das Freiheitsrecht und das staatsphilosophische
„Probleme fondamental"
Aber nicht der Unterwerfungsvertrag, sondern der Gesellschaftsvertrag ist in Rousseaus Augen der rechtsphilosophische Schwachpunkt der „Verfechter des Despotismus" (1.5; 359; 71). Denn auch wenn man annähme, dass alle bislang vorgebrachte und sich an der Selbstversklavung entzündende Kritik gegenstandslos wäre, sei, so versichert er, der Absolutismus doch keinen Schritt weitergekommen. Denn bislang habe er noch nicht richtig erläutert, wie das, was er immer in Anspruch nimmt, überhaupt möglich ist, wie das Volk, das sich einem Herrn unterwirft, überhaupt zu einem Volk geworden ist. Und nur dann kann eine Menge ein Volk werden, wenn sich Individuen gesellschaftlich vereinen, wenn eine Allgemeinheit entsteht, wenn nicht nur ein Gewirr von Einzelinteressen herrscht, sondern ein Allgemeininteresse besteht, das nach gemeinwohldienlichen Einstellungen und Verhaltensweisen verlangt. Schon darum bedarf es einer Ur-Vereinigung, einer allerersten Übereinkunft, damit zumindest sichergestellt werden kann, dass alle weiteren Entscheidungen dem Mehrheitsprinzips folgen dürfen. Denn nur dann kann das Mehrheitsprinzip Verbindlichkeit beanspruchen, wenn es selbst einstimmig angenommen worden ist.
Rousseau hat mit dieser Überlegung sein Gesellschaftsvertragsthema erreicht. Historisch gesehen ist sein Einwand jedoch wenig triftig. Weder den Doppelvertragstheoretikern noch Hobbes oder Locke kann er den Vorwurf machen, das Problem der politischen Vereinigung, der Konstitution des Volkes als einer rechtlichen Einheit vernachlässigt zu haben. Locke hat seinen Vertrag ausschließlich als Konstitutionsakt eines souveränen politischen Körpers verstanden. Hobbes hat der Frage der Herausbildung einer politischen Einheit allergrößte Aufmerksamkeit gewidmet. Er war nur davon überzeugt, dass ohne Etablierung einer unwiderstehlichen Herrschaft keine Einheit erreicht werden kann; daher fließen bei ihm Gesellschaftsvertrag und Herrschaftsvertrag zusammen. Und die Naturrechtsjuristen müssen sich erst recht nicht durch Rousseaus Kritik getroffen fühlen, haben sie doch die Verwandlung einer Menge von Individuen in ein mit Rechtssubjektivität ausgestattetes Volk ausdrücklich zum Gegenstand eines separaten, dem Unterwerfungsvertrag vorgelagerten Vereinigungsvertrags gemacht. Aber Rousseau kann diese unterschied-
liehen Gestalten der kontraktualistischen Vereinigung ebenso wenig billigen wie den Gedanken einer Unterwerfung des Volkes unter die absolute Herrschaft eines Fürsten. Denn all diese kontraktualistischen Vereinigungsformen sind ja mit den unterschiedlichsten Herrschaftsformen vereinbar, während Rousseau davon überzeugt ist, dass nur dann eine vertragliche Vereinigung ein Volk entstehen lässt, wenn diese vertragliche Vereinigung den Weg einer rechtlich-politischen Selbstkonstitution des Volkes beschreitet. Dieser Akt, durch den das Volk sich zu einem Volk macht, durch den das Volk selbstmächtig ins Sein tritt, ist aber an die Voraussetzung politischer Autonomie gebunden. Das Volk ist nur, insofern es sich immer wieder im Medium gemeinwohlorientierter Gesetzgebung neu konstituiert. Es lebt im herrschaftlichen Handeln. Daher gehören vertragliche Selbstkonstitution, Volkssouveränität und politische Autonomie unauflöslich zusammen. Daher haben alle Kontraktualisten, die der Volkssouveränität und politischen Autonomie nicht den Status des rechtlich Unabdingbaren einräumen, auch kein angemessenes Verständnis von der vertraglichen Selbstkonstitution, keine zutreffende Vorstellung vom Ziel, vom Aufbau und den Konsequenzen des Gesellschaftsvertrags.
Im systematischen Zentrum der Rousseau'schen Kritik an den zeitgenössischen Kontraktualismusversionen steht eine bestimmte Freiheitskonzeption, die die Freiheit zur Wesensbestimmung des Menschen erklärt. Nicht die Vernunft scheidet den Menschen vom Tier, sondern die Fähigkeit, frei zu handeln (qualitö d'agent libre)34, hebt ihn aus allen Lebenwesen heraus. Frei handelt man aber nur dann, wenn man seinem eigenen Willen folgt, wenn man keinem fremden Willen unterworfen ist, wenn man stets, das ganze Leben über, in jeder Situation sein eigener Herr ist. Politische Herrschaft kann nur dann legitim sein, wenn sie mit dieser moralischen und metaphysischen Qualität des Menschen in Übereinstimmung steht, wenn sie seiner Freiheitsbestimmung gerecht wird und das Rätsel löst, politische Herrschaft als Selbstherrschaft zu organisieren. Die Freiheit wird damit in den Rang eines absoluten rechtfertigungstheoretischen Kriteriums erhoben. Verträge, die nicht Freiheit zum Inhalt haben, die nicht Freiheitssicherungsverträge sind, sind illegitim. Die Freiheit macht den Menschen zum Menschen; kommt sie ihm durch äußere Gewalt oder durch freiwilligen Verzicht abhanden, dann verliert er die ihn definierende, ihn von den Dingen und dem gesamten Rest der Welt unterscheidende Qualität, dann verdinglicht er, dann geht er aller normativen, aber auch aller metaphysischen Prädikate verlustig. Freiheit meint Unabhängigkeit von fremder Willensbestimmung, verlangt Gleichheit und damit Gesetz und Recht, verträgt nicht die Asymmetrie von Herr und Knecht, weist jede persönliche Herrschaft ab. Für den internen Egalitarismus des Rousseau'schen Freiheitskonzepts ist charakteristisch, dass in einem Herr-Knecht-
Verhältnis beide unfrei sind; die größere Handlungsmächtigkeit auf Seiten des Herren bedeutet für Rousseau also keine größere Freiheit; Freiheit ist keine Funktion der Macht wie bei Machiavelli und Thomas Hobbes. An die Stelle des „Freiheitsbegriffs des heroischen Individuums"35 tritt der Freiheitsbegriff des demokratischen Individuums, das nicht größere Macht, sondern nur gleiche Macht haben will. Und eine Vorbedingung gleicher Freiheitsmacht ist die Herrschaft von allgemeinen Gesetzen.
„Freiheit besteht weniger darin, seinem Willen zu folgen, als vielmehr darin, dem anderer nicht unterworfen zu sein. Sie besteht außerdem darin, den Willen anderer nicht dem unsrigen zu unterwerfen [...] Ich kenne keinen wahrhaft freien Willen als den, welchem niemand das Recht hat zu widerstehen. In der allgemeinen Freiheit hat keiner das Recht, das zu tun, was die Freiheit eines anderen ihm verbietet, und die wahre Freiheit zerstört niemals sich selbst. Die Freiheit ohne Gerechtigkeit ist also ein wahrer Widerspruch, denn man fange es an, wie man will, die Ausführung eines ordnungslosen Willens behindert alles. Es gibt also keine Freiheit ohne Gesetze, und auch dort gibt es keine, wo jemand über den Gesetzen ist."36
Freiheit verlangt nach Gesetzen. Gesetze sind Freiheitsbedingungen. Gesetze können jedoch nur auf der Grundlage einer staatlichen Herrschaftsordnung wirksam werden. Freiheit verlangt den Schutz der Institutionen. Das ist eine institutionalistische Binsenweisheit, die im Zentrum jeder kontraktualistischen Konzeption steht. Der Staatsbeweis ist ja nichts anderes als der Beweis der Notwendigkeit einer allgemeinen Gesetzgebung und der Einrichtung friedenssichernder und freiheitsfestigender Institutionen. Freilich geht Rousseau über diese liberale Selbstverständlichkeit weit hinaus. Kein politischer Philosoph hat einen anspruchsvolleren Freiheitsbegriff als Rousseau, keiner hat der politischen Welt darum auch mit der Aufgabe der Freiheitsbewahrung eine drückendere Hypothek aufgebürdet. Aber es wäre völlig verfehlt, der politischen Philosophie Rousseaus deswegen einen antiinstitutionalistischen Affekt, ein Liebäugeln mit anarchischen Verhältnissen zuzuschreiben. Fraglos kultiviert das Rous- seau'sche Freiheitskonzept ein beträchtliches Misstrauen gegenüber den bekannten Herrschaftsorganisationen; sie alle können den demokratischen Lackmustest der freiheitsbewahrenden Selbstherrschaft nicht bestehen. Aber dieses Misstrauen gilt nicht der Herrschaft überhaupt. Rousseau ist kein Freiheitsromantiker, der die Gewalt der Strukturen verteufelt und von den spontanen Harmonisierungsleistungen einer unstrukturierten Menschheitsgesellschaft träumt. Rousseau ist kein früher Anhänger der These vom Absterben des Staates, von der Menschenunwürdigkeit staatlich befestigter Lebensverhältnisse. Es ist weitaus verständnisförderlicher, Rousseau als einen absolutistischen Zwillingsbruder von Thomas Hobbes zu betrachten. Rousseau hat die Voraussetzungen des normativen Individualismus gewiss herrschaftsrechtlich, staatsrechtlich am weitesten ausgereizt, doch gleichwohl bleibt er dem herrschaftsorganisatorischen und souveränitätstheoretischen Paradigma der neuzeitlichen Staatsphilosophie ohne alle Abstriche verpflichtet. Seiner eigentümlichen vertragsbegründeten Republik liegt dieselbe Grammatik der Herrschaft zugrunde, die auch die absolutistische Anatomie des Leviathan bestimmt: ein absoluter, durch keinerlei vorgegebene Normen naturrechtlicher oder verfassungsrechtlicher Art eingeschränkter Souverän unterwirft alle seinem allgemeinen, gesetzgebenden Willen. Auch der Rousseau'sche Gesellschaftsvertrag entfaltet als Prozedur politischer Einigung ein absolutistisches Souveränitätsschema. Allerdings liefert er eine andere Auslegung dieses Schemas; er buchstabiert den Absolutismus demokratisch: populus est rex. Der Wille des Einen wird ersetzt durch den Willen Aller; an die Stelle der einsamen Entscheidung treten die Äußerungen des allgemeinen Willens.
Rousseau ist beileibe nicht der einzige neuzeitliche Philosoph, der dem Freiheitsrecht zentrale Bedeutung einräumt. Auch Lockes Liberalismus dreht sich um das individuelle Grundrecht der Freiheit, und das Vernunftrecht Kants ist ausschließlich ein Freiheitsrecht.37 Beide verstehen den Staat darum auch als Schutz und Verwirklichung des individuellen Freiheitsrechts. Jedoch verlangt das Freiheitsrecht der Menschen in der Rous- seau'schen Philosophie mehr als eine rechtsstaatliche Ordnung, die Grundrechtsschutz betreibt oder durch allgemeine, zwangsbewehrte Gesetze die Verträglichkeit der individuellen Freiheitssphären garantiert. Mit der politischen Implikation der Rechtsstaatlichkeit ist sein Bedeutungsgehalt nicht ausgeschöpft. Denn Menschen haben nach Rousseau nicht nur das Recht auf gleiche Freiheit, auf ein Leben unter allgemeinen Gesetzen. Sie haben zudem das Recht auf Autonomie und Selbstherrschaft. Während Locke und Kant sich mit der Sicherung der äußeren Freiheit, der Handlungsfreiheit der Individuen durch Gesetze und Institutionen zufrieden geben, muss Rousseau fordern, dass sich in den Gesetzen selbst das Freiheitsrecht ausdrückt. Die Gesetze dürften nicht nur als externe Ermöglichungsbedingungen der Freiheit verstanden werden, sie müssen in einem internen Verhältnis zur Freiheit stehen, sie müssen in ihrer Freiheitsermöglichungsfunktion selbst Ausdruck der Freiheit sein.
Schon hier wird deutlich, dass die Grundstruktur des Rousseaus'schen Kontraktualismus nicht durch die liberale freiheitsrechtliche Grammatik gebildet werden kann, dass selbst der neuzeittypische normative Individualismus bei Rousseau eine beträchtliche Modifikation erfahren muss. Denn die enge Verbindung, die die Rousseau'sche Legitimationstheorie zwischen menschlicher Wesensbestimmung und gesetzlichem Freiheitsausdruck knüpft, macht die politische Autonomie, die faktische Mitgesetzgeberschaft der Individuen zum zentralen Betätigungsfeld authentischer Freiheit. Der Mensch kann sich seiner freiheitlichen Wesensbestimmung nur als gesetz-

Das Freiheitsrecht und das staatsphilosophische „probleme fondamental" 51 geberisch tätiger Mitbürger sicher sein. „Wir beginnen erst eigentlich Menschen zu werden, nachdem wir Bürger geworden sind (nous ne commen- 90ns proprement ä devenir hommes qu'apres avoir ete Citoyens)."38 Politische Autonomie wird dadurch zur Überlebens- und Entfaltungsvoraussetzung menschlicher Freiheit und Moralität. Das ist emphatischer Aristotelismus: änthropos zöon politikön physei estin. Ein Recht auf Privatheit hat im Rousseau'schen Freiheitsverständnis keinen Platz.
Unter diesen Voraussetzungen erhöhen sich die legitimatorischen Anforderungen an eine politische Ordnung beträchtlich, ist doch nichts Geringeres verlangt als einen absoluten, von allen normativen Einschränkungen freigestellten allgemein gesetzgebenden Willen zu konstituieren, ohne das unveräußerliche, wesentliche Selbstherrschaftsrecht der Individuen zu demontieren. Wie aber kann diese Forderung erfüllt werden? Wie ist der Fremdherrschaft abweisende Charakter des Freiheitsrechts mit der Notwendigkeit einer Herrschaftsordnung zu vereinbaren? Wie ist die Errichtung einer Herrschaft denkbar, durch die ein solches Recht auf materiale Selbstbestimmung unangetastet bleibt, in der Gehorsam mit Freiheit im Einklang steht? Rousseau hat diese staatsphilosophische Aufgabenstellung folgendermaßen formuliert: „Es ist eine Gesellschaftsform zu finden, die mit der gesamten gemeinschaftlichen Macht die Person und den Besitz eines jeden Gemeinschaftsmitglieds verteidigt und beschützt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor" (1.6; 360; 73).
Kein Vertragstheoretiker hat über den Naturzustand weniger Worte verloren als der Autor des Contrat social. Rückte er in der geschichtsphilosophischen Abhandlung des Ungleichheitsdiskurses als gesellschaftskritische Sittlichkeitsidylle in den Mittelpunkt der Darstellung, so begnügt sich Rousseau jetzt mit zwei, drei Sätzen, in denen das Problemprofil des hypothetischen Naturzustandes knapp und ohne alle Kriegszustandsdramatik skizziert wird.
„Ich nehme an, dass die Menschen an jenem Punkt angelangt sind, wo die Hindernisse, die dem Verharren im Naturzustand entgegenstehen, jene Kräfte übersteigen, die der Einzelne aufbieten muss, um in diesem Zustand zu bleiben. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht mehr fortdauern. Das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es seine Daseins- und Lebensweise (maniere d'etre) nicht änderte. Die Menschen können aber nicht neue Kräfte entwickeln, sondern nur vorhandene vereinigen und lenken. Um zu überleben, bleibt ihnen kein anderes Mittel, als durch Zusammenschluss eine Summe von Kräften zu bilden, die den Widerstand überwinden könnte, und diese durch eine einzige Triebfeder in Bewegung zu bringen und gemeinsam wirken zu lassen" (1.6; 360; 72).
Natürlich ist auch der Rousseau'sche Naturzustand ein Konfliktzustand, geprägt durch einen „Gegensatz der Einzelinteressen" (II.l; 368; 84). Aber

weder wird die Natur dieser Konflikte näher erläutert, noch macht sich das Motiv der Konfliktregulierung bei der Bestimmung des Leistungsprofils bemerkbar. Der Naturzustand ist zu verlassen; in ihm zu bleiben übersteigt die Selbsterhaltungskräfte von jedermann: Rousseau belässt es bei dieser kargen These. Es ist für ihn ausreichend, eine Situation anzudeuten, die es erforderlich macht, die Selbsterhaltung kollektiv zu organisieren, die Kräfte zu vereinigen und, wie man im deutschen Kontraktualismus sagte, dem Rousseau sich hier anschließt, ein pactum unionis virium zu schließen. Es genügt anzudeuten, dass die gesellschaftliche Vereinigung für jedermann von Vorteil sein wird. Freilich folgt bei Rousseau diesem pactum unionis virium kein separates pactum unionis voluntatum, das als Herrschaftsvertrag fungiert und der vereinigten Macht ein einheitliches Entscheidungsorgan verschafft, sondern Machtsummierung und Willensvereinigung fallen im Rousseau'schen Vertrag zusammen.
Das Subjektivitätsmodell, das die Leistungen politischer Organisationen nach dem Vorbild personaler Einheit, subjekter Entscheidungs- und Handlungsmächtigkeit und willentlicher Körperbenutzung expliziert, das die emblematische Darstellung der Herrschaft auf dem genialen Titelblatt der Erstausgabe des Leviathan von 1651 bestimmt und die Rede von einer vertraglichen Vereinigung der Kräfte und Willen ventiliert hat, prägt auch Rousseaus Darstellung. Kooperation wird nach dem Vorbild der Individualhandlung gedacht, dem Zusammenspiel von Auge, Hand und Fuß vergleichbar, das durch einen über alle drei Körperteile gleichermaßen gebietenden Willen ermöglicht wird. Diese „einzige Ursache", die die gesellschaftliche Kooperation ermöglichen soll, unterscheidet sich strukturell nicht von dem menschenschuppigen Leviathan, dessen unangefochtener Wille den Körper der Gesellschaft beseelt und zusammenhält. Es leuchtet freilich ein, dass Rousseau sich wesentlich mehr Gedanken darüber machen muss, wie im Fall einer politischen Selbstorganisation der Gesellschaft diese handlungswirksame, weder durch allzu hohe Konsensfindungskosten erlahmende noch durch Dissensrisiken blockierte Entscheidungskausalität gesichert werden kann, als Hobbes es tun musste, der mit seiner pragmatisch begründeten Entscheidung für die Monokratie das System des politischen Handelns ja unmittelbar nach dem Vorbild der internen Einheitlichkeit von Subjektivität modelliert hat.
Die Selbsterhaltungsrisiken der natürlichen Umwelt treiben die Rousseau'schen Menschen in den Gesellschaftsvertrag. Damit knüpft Rousseau an Vergesellschaftungsgeschichten an, wie sie von den Pufendorfianern und schon von Protagoras erzählt worden sind, in denen die Vergesellschaftung als eine gegen die Unwirtlichkeit der Natur gerichtete Allianzbildung interpretiert wird. Damit greift er auch seine eigene Vergesellschaftungsgeschichte aus dem geschichtsphilosophischen Diskurs auf, gibt ihr jedoch eine ganz andere Wendung. Der Vertrag wird im Gesellschaftsvertrag genau in der Situation geschlossen, in der im zweiten Discours die Natur sich gegen die Menschen wendet und diese zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit nötigt. Während die hypothetische Vergesellschaftungsgeschichte des Discours jedoch eine Geschichte zunehmender sittlicher Depravation erzählt, bietet der Vertrag des Contrat social das normative Alternativprogramm, eine mit dem Freiheitsrecht harmonierende Vergesellschaftung. Zudem wird diese vertragliche Assoziation jetzt als Versitt- lichungsgeschichte gelesen: Durch die vertraglich konstituierte Gemeinschaftlichkeit erleben die Menschen sittliche Vervollkommnung, wesenserfüllende Menschwerdung.
Diese Bedeutung kann dem Gesellschaftsvertrag zukommen, weil die Natur im Contrat social kein mythischer Ort des Glücks und der sittlichen Lauterkeit mehr ist, sondern ein gewöhnlicher selbsterhaltungsriskanter Lebensraum, der zu verlassen ist. Aber eben nicht, weil zwischen den Menschen ein Kriegszustand bestünde, da die Menschen um die knappen Güter konkurrierten, sich misstrauisch belauerten, aufrüsteten und sich zu präventiver Gewaltanwendung genötigt sähen. Zwischenmenschliche Konflikte sind für Rousseau allenfalls Vergesellschaftungsanlass, jedoch nicht konstitutiv für das Leistungsprofil des Staates, daher auch nicht bestimmend für die staatsrechtlichen Prinzipien. Aus der Problemlage des Naturzustands erwachsen der politischen Gemeinschaft keine besonderen Zweckbestimmungen. Der durch den Vertrag konstituierte Zustand wird nicht mit der Aufgabe der Friedenssicherung betraut. Ebenfalls geht es nicht um Grundrechtsschutz, denn Rousseau ist kein Naturrechtler; genauso wenig wie Hobbes kennt er ein aller gesellschaftlichen Vereinigung, allem staatlichen Handeln vorausliegendes Recht. Es gibt nur die Freiheitsbestimmung, die nach einer bestimmten Vereinigungsweise und einer bestimmten Herrschaftsgestaltung verlangt. Daher ist der Staatsbeweis im Gesellschaftsvertrag von vornherein in eine anspruchsvolle Legitimationstheorie eingebettet.
Das hat in der ersten Fassung des Contrat social noch anders ausgesehen. Da erblickte Rousseau das „fundamentale Problem" in der effektiven selbsterhaltungsdienlichen Bündelung und Koordination der individuellen Kräfte und seine Lösung in der „Errichtung eines Staates".39 Dieses insti- tutionalistische Argument ist hobbesianisch; es ist ausschließlich auf die koordinationspolitische Effizienz des Staates gerichtet. Der legitimationstheoretischen Bedeutung der Freiheit wird dadurch Genüge getan, dass dem Staat eine vertragliche Grundlage gegeben wird. Jenseits dieser rechtfertigungstheoretischen Inanspruchnahme entfaltet die Freiheitskonzeption jedoch keine eigenständige staatsrechtliche und politische Semantik, die die Rechtsform der Herrschaft und die Prinzipien ihrer Ausübung bestimmen würde. In der Erstfassung seines Contrat social folgt Rousseau noch den Bahnen eines konventionellen Etatismus: Der Staat ist ein unerlässliches Instrument, um die als nützlich erkannte Vergesellschaftung der Individuen extern zu stabilisieren. In der veröffentlichten Version des Contrat social haben sich sowohl die Problembeschreibung als auch die Lösung geändert. Jetzt geht es darum, eine Gesellschaftsform zu finden, die all die Errungenschaften institutionalistischer Rechtssicherung beibehält, doch jede Form von Fremdherrschaft vermeidet, somit das Modell moralischer Selbstherrschaft mit den koordinationspolitischen Leistungen der staatlichen Institutionen verknüpft. Dadurch tritt das institutionalistische Moment der externen Gewährleistung des sozialen Friedens, der Wirksamkeit des Rechts und der Wirklichkeit der Freiheit selbst in den Hintergrund. Entsprechend verblasst das etatistische Profil der politischen Vereinigung. Staatliche Herrschaft geht durch einen revolutionären Akt der politischen Selbstermächtigung des Volkes an die Gesellschaft über und verbleibt dort auf Dauer. An die Stelle des Staates tritt damit eine sich selbst beherrschende Gesellschaft.
Infolge seines emphatischen Freiheitsverständnisses entwickelt Rousseau im Gesellschaftsvertrag einen Kooperationskontraktualismus mit gesellschaftsgerichteter Gravitation; Hobbes und Locke hingegen entwickeln einen Konfliktregulierungskontraktualismus mit staatsgerichteter Gravitation. Treten bei Hobbes und Locke darum auch Staat und Gesellschaft auseinander, so fallen sie bei Rousseau zusammen. Denn nur solche Herrschaftsordnung ist mit der Wesensbestimmung der Freiheit vereinbar, die sich die Gesellschaft selbst gibt. Der Rousseau'sche Staat ist die sich politisch selbst organisierende, selbst regierende Gesellschaft; es ist der „agent libre" im Großformat. Sein Leistungsprofil wird nicht durch bestimmte naturzustandseigene Konfliktlagen geformt. Der Zweck, dem er dient, fällt mit der Grundfunktion des Vertrages selbst zusammen: freiheitsbewahrende Vergesellschaftung. Es geht allein um den Übergang von einer asozialen, vereinzelt-atomistischen Existenzform zu einer vergesellschafteten Existenzform. Dabei ist es nicht wichtig, dass empirische Defizite und Dysfunktionen des Naturzustandes kompensiert werden. Der Rousseau'sche Naturzustand enthält keinerlei empirische Auflagen für seine erfolgreiche staatliche Überwindung, daher ist auch sein Legitimationsprofil von empirischen Problemlagen völlig unabhängig. Das ist der Grund, warum ich oben das Rousseau'sche Staatsrecht als normativ freitragende Konstruktion bezeichnet habe, die die absolute Ausgangsprämisse der Freiheitsbestimmung politisch ausbuchstabiert. Denn von Bedeutung ist im Gesellschaftsvertrag allein, dass die Vergesellschaftung auf richtige Weise vonstat- ten geht, dass sie sich auf eine vertragliche Vereinigung gründet, die in ihrem Vollzug wie in ihrem Resultat stets mit der unveräußerlichen Freiheitsbestimmung der Individuen in Übereinstimmung bleibt.

Auch der kontraktualistische Liberalismus Lockes hat den Zweck der Freiheitssicherung fest im Auge. Gleichwohl kann der von ihm offerierte Grundrechtsschutz Rousseau nicht zufrieden stellen, denn die institutionelle Verwirklichung von Rousseaus anspruchsvollem Freiheitskonzept verlangt mehr als eine Gewährleistung gleicher äußerer Freiheit, als die Sicherung der Handlungsfreiheit durch eine grundrechtsorientierte Gesetzgebung. Sie verlangt die Einrichtung einer politischen gesetzgebenden und gewalthabenden Einheit, deren Mitglieder nach wie vor frei sind und ihre eigenen Herren bleiben, sodass sich ihr rechtlicher Status, Unabhängigkeit von jedem fremden, äußeren, nicht-eigenen Willen, durch den Übergang vom status naturae in den status civilis nicht im mindesten ändert. Rousseaus Freiheitsrecht birgt ein politisches Problem, da es eine nicht auf Handlungsfreiheit reduzierbare Selbstbestimmungskomponente impliziert und diese Selbstbestimmung in Anknüpfung an die ethische Tradition als Selbstherrschaft auslegt, die freilich, in den Kontext freiheitsrechtlicher Herrschaftslegitimation gerückt, die radikale Form eines politischen Selbstherrschaftsrechtes annnehmen muss. Es ist evident, dass in einer Herrschaftsordnung jedes Mitglied nur dann nach wie vor sich nur selbst gehorcht, wenn es auch nach wie vor über sich selbst herrscht, wenn die Gesetze, die Gehorsam verlangen, selbstgegebene Gesetze sind. Wie lässt sich aber in dieses sittlichmoralische Autonomiemuster eine gesellschaftsvertragliche Herrschaftserrichtung eintragen? Wie vermag eine politische Herrschaft des Allgemeinen zugleich das Postulat der Selbstherrschaft zu erfüllen?
Die Antwort auf diese Frage ist eine ganz bestimmte Version des Gesellschaftsvertrags, mit der zugleich für Rousseau auch die hinreichende legitimationstheoretische Bedingung des kontraktualistischen Begründungsprogramms formuliert ist. Nur die gesellschaftsvertragliche Einigungsprozedur führt zu einer legitimen Herrschaftsordnung, die dem Muster des Rousseau'schen Vertrages folgt.
Die Struktur des Gesellschaftsvertrags
„Die Bedingungen dieses Vertrages sind durch die Natur seines Zustandekommens so genau festgelegt, dass die geringste Änderung sie nichtig und unwirksam macht [...] Versteht man diese Bedingungen richtig, lassen sie sich auf eine einzige zurückführen, nämlich auf die vollständige Entäußerung eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft. Wenn sich nämlich erstens jeder ganz übereignet, ist die Bedingung für alle gleich; niemand hat ein Interesse, sie für die anderen drückend zu machen. Da zweitens die Entäußerung vorbehaltlos geschieht, ist die Vereinigung so vollkommen, wie sie nur sein kann, und kein Mitglied kann weitere Ansprüche stellen. Denn wenn einem Einzelnen Rechte verblieben, so wäre er, da kein gemeinsames Oberhaupt zwischen ihm und der Gemeinschaft entscheiden kann, gewissermaßen sein eigener Richter in seinen Belangen und bald in allen anderen auch. Der Naturzustand würde fortbestehen. Wenn sich schließlich jeder allen überäußert, überäußert er sich niemandem. Da man über jedes Mitglied das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich selber einräumt, gewinnt man den Gegenwert über alles, was man verliert, und ein Mehr an Kraft, das zu bewahren, was man hat. Alles Unwesentliche weggelassen, lässt sich der Gesellschaftsvertrag auf folgende Formel zurückführen'. „Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft der obersten Leitung des Gemeinwillens, und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf" (1.6; 360 f.; 73 f.).
Sosehr sich auch die Rousseau'sche Republik dagegen sperrt, von dem neuzeitlichen Mainstream-Liberalismus vereinnahmt zu werden, in ihren begründungstheoretischen Anfängen ist sie ein Staat wie jeder andere des neuzeitlichen Kontraktualismus auch: eine im souveränen Nützlichkeitsurteil aller Individuen begründete Präferenz, ein dem Naturzustand in den Augen von jedermann vorzuziehender Zustand, ein künstliches, zweckdienliches Instrument für alle, eine Schöpfung des distributiven Vorteils. Sie ist institutionalisierte und durchsetzungsfähige Allgemeinheit, die, sekundär und derivativ, nicht aus eigenem Recht handelt, sondern den vorrangigen Interessen der Individuen dient. Obwohl Rousseaus emphatischer Freiheitsbegriff der politischen Gemeinschaft als Verwirklichungsbedingung bedarf, verschafft er dem Staat keinesfalls eine größere, über das rational-instrumentelle Verständnis des Liberalismus hinausreichende Dignität. Auch wenn die Freiheit menschliches Wesensingrediens ist und daher der Mensch nur im institutionell gefestigten Raum des Staates eine seine Bestimmung angemessene Existenz führen kann, legt Rousseau dem Verlassen des Naturzustandes doch nicht, wie später Kant, den Charakter einer Pflicht bei.40 Es ist lediglich pragmatisch notwendig, im Lichte guter Gründe notwendig, den Naturzustand zu verlassen, nicht jedoch rechtlich oder moralisch geboten. Allein die Vorteilssuche treibt die Menschen aus dem Naturzustand; sie schließen den Vertrag, weil sie ihre Nutzenposition verbessern wollen. „Durch den Vertrag hat sich nicht nur ihre Lage gegen früher verbessert; sie haben statt einer Veräußerung einen vorteilhaften Tausch gemacht: statt einer unsicheren und ungewissen eine andere, bessere und gesicherte Lebensweise; statt natürlicher Ungebundenheit die Freiheit; statt der Macht, anderen zu schaden, ihre eigene Sicherheit; statt der Stärke, die aber andere wieder überwinden könnten, ein Recht, das durch die gesellschaftliche Vereinigung unüberwindbar wird" (II.4; 375; 93).
Auf seiner untersten Ebene ist der Rousseau'sche Gesellschaftsvertrag also ein Geflecht von Verträgen eines jeden mit einem jeden. Die Anzahl der Vertragsbeteiligten ist unbekannt; die Naturzustandsschilderung lässt bei Rousseau genauso wenig wie bei Hobbes und Locke eine natürliche Gruppengrenze erkennen, die die Gemeinschaft der Vertragsschließenden von anderen Menschen absonderte. Der Naturzustand muss, konsequent gedacht, globales Ausmaß besitzen; entsprechend muss der Gesellschaftsvertrag als Weltgesellschaftsvertrag verstanden werden. Folgt man dem konstruktiv-linearen Gang der kontraktualistischen Argumentationsbewegung, dann wird man in eine kosmopolitische Richtung geführt. Das nationalstaatliche Paradigma ist als politisches Ordnungsprinzip, als pluralitätsermöglichendes Partikularisierungsprinzip analytisch aus der Naturzustandsbeschreibung nicht zu gewinnen.
Freilich haben weder Hobbes noch Locke noch Rousseau daran gedacht, die globalen Implikationen des konstruktiven Kontraktualismus zu entfalten.41 Dafür ist der Grund schnell genannt: Das kontraktualistische Argument dient als ein wirklichkeitsadressiertes Legitimationsargument; das nationalstaatliche Paradigma ist durch die vorliegende, bestimmte politische Wirklichkeit vorgegeben, deren Legitimation mit Hilfe des Kontraktualismus bekräftigt oder bezweifelt werden soll. Aus der Sicht dieser konkreten Legitimationsaufgabe operiert der Kontraktualismus rekonstruktiv: Die legitimationsbedürftige Nationalherrschaft wird mit Hilfe des Kontraktualismus über ihre Geltungsbedingungen aufgeklärt, indem der vorliegende Nationalstaat in eine fiktive Entstehungsgeschichte eingebettet und auf den erklärten rationalen Willen seiner Bewohner zurückgeführt wird. Diesen wird so klargemacht, dass sie die besten Gründe haben, die vorliegende Staatlichkeit qua Staatlichkeit dem staatlichkeitslosen Naturzustand vorzuziehen. Um das Erkenntnisinteresse des politischen Philosophen ausfindig zu machen, muss man also die Abfolge der kontraktualistischen Argumentation umkehren, die Theorie gegen den Strich lesen, mit dem Ergebnis beginnen. Rousseau hat dies in einer seiner zahllosen Selbstbeschreibungen so ausgedrückt:
„Worin besteht die Einheit des Staates? In der Vereinigung seiner Mitglieder. Und woraus entsteht die Vereinigung seiner Mitglieder? Aus der Verbindlichkeit, welche sie alle miteinander verknüpft. Bis hierher ist alles einig. Allein, welches ist die Grundlage dieser Verbindlichkeit? Hier teilen sich nun die Schriftsteller. Nach einigen ist es die Gewalt, nach anderen die väterliche Autorität, nach wieder anderen der Wille Gottes. Jeder sucht seinen Grundsatz zu behaupten und den des anderen anzugreifen; ich selbst habe es nicht besser gemacht, und indem ich die vernünftigste Partei von denen, die über diese Sache geschrieben haben, befolgte, habe ich die Übereinkunft der Mitglieder als die Grundlage des politischen Körpers angegeben und die Grundsätze, die den meinigen entgegenliefen, widerlegt."42
Die kontingente partikulare politische Wirklichkeit bildet das Anwendungsfeld des kontraktualistischen Arguments, denn der Philosoph möchte den Bürgern seines Staates erklären, auf welchem Grund ihre Gehorsams-
Verpflichtung liegt, welche Legitimationsbedingungen die bestehende Herrschaft zu beachten hat. Aber die vorfindliche politische Wirklichkeit kann in ihrer Besonderheit nicht durch das kontraktualistische Argument begründet werden; sie ist als bestimmter Staat Nutznießer des für den Staat überhaupt argumentierenden legitimatorischen Konzepts. Aus der applika- tiv-rekonstruktiven Perspektive fällt daher die Vertragsgesellschaft nummerisch notgedrungen mit der Gesellschaft der Bürger eines bestimmten Staates zusammen. Aus der konstruktiven Perspektive hingegen sind sowohl status naturalis als auch status civilis homogene Weltzustände. Diese Spannung zwischen kosmopolitischem Begründungsanfang und partikularstaatlichem Anwendungsende ist bei Rousseau noch größer als bei seinen kontraktualistischen Vorgängern, denn die von ihm entwickelte Republik ist, wenn überhaupt, nur als Kleinststaat, als Stadtstaat oder abgelegener Inselstaat, zu verwirklichen.
Souveränitätstheoretischer Hobbesianismus
Was versprechen die Individuen einander im Vertrag? Was bildet den Inhalt des Vertrags? „Die vollständige Entäußerung eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft". Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist wie der Hobbes'sche Staatsvertrag ein Entäußerungsvertrag, in dem sich die Individuen, die Naturzustandsbewohner, die mit genau diesem wechselseitigen Verpflichtungsakt aufhören, Naturzustandsbewohner zu sein, einander versprechen, sich rückhaltlos einer absoluten Herrschaftsinstanz zu unterwerfen und keine Rechte zurückzubehalten und somit auf alle Klagegründe gegen das Vorgehen der Herrschaftsinstanz zu verzichten. Das Recht, das die Individuen durch dieses vertragliche Versprechen erhalten, ist das Recht eines jeden auf den absoluten Gehorsam aller anderen dem Willen der Herrschaftsinstanz gegenüber. Der Entäußerungsakt ist sowohl bei Hobbes als auch bei Rousseau der Konstitutionsakt der Herrschaftsinstanz, der Geburtsakt des Souveräns. Der Adressat und Nutznießer des Entäußerungsaktes existiert nicht vor diesem. Er ist eine rechtliche Schöpfung, die unabhängig von den sie erzeugenden Vertragsbeziehungen der Individuen keinerlei rechtliche Existenz besitzt.
Auch die Vertragslehre des Contrat social vertritt einen souveränitätstheoretischen Hobbesianismus: Die Syntax des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrages unterscheidet sich nicht von der Syntax des Hobbes'schen Staatsvertrages; in beiden Fällen haben wir es mit einem Entäußerungsvertrag zu tun; nur der Nutznießer der Entäußerung, der durch die Entäußerung konstituierte Souverän trägt jeweils ein unterschiedliches Antlitz. Rex est populus: Das ist das Hobbes'sche Motto; seine Inversform,

populus est rex, bildet hingegen das Rousseau'sche Motto. Die Gemeinschaft der Vertragsschließenden nimmt selbst die Souveränitätsposition ein. Im Rahmen der staatsrechtlichen Chemie des Contrat social kommt dem Entäußerungsakt der Charakter einer Transformation der aggregati- ven, distributiv-allgemeinen Gemeinschaft der Vertragsschließenden in eine kollektiv-allgemeine Willenseinheit zu; aus dem Individuenaggregat der vielen einzelnen partikularen Willen wird eine politische Einheit mit einem einheitlichen allgemeinen Willen.
Interessant ist, dass es hinsichtlich der Reichweite der Entäußerung jedoch einen charakteristischen Unterschied zwischen den beiden Philosophen gibt. Rousseau verlangt die totale Entäußerung „der Güter, der Person, des Lebens und der ganzen Kraft (puissance)"43 an die Gemeinschaft und geht damit weit über Hobbes hinaus, dessen Entäußerungsformel an dem Selbstverteidigungsrecht eine Grenze findet. Das ist einerseits konsequent, weil ja der Hobbes'sche Staat nichts anderes als ein Selbsterhaltungsmittel der Menschen ist und nicht gut den Zweck sabotieren darf, den zu verwirklichen er ersonnen worden ist. Das ist andererseits ein beträchtliches Konsistenzrisiko, weil mit diesem Selbstverteidigungsvorbehalt die ganze sperrige Subjektivität mit ihren idiosynkratischen Sichtweisen in das Gehege des positiven Rechts einbricht. Rousseaus Republik also überbietet den Absolutismus des Leviathan mühelos. Die Rousseau'sche Gemeinschaft duldet keinen Bereich nicht-vergesellschafteter Subjektivität, keinen Interpretationsvorbehalt für Selbsterhaltungsfragen. Es gibt keinen entäußerungsresistenten Freiheits- und Rechtskern bei Rousseau. In seinem Gesellschaftsvertrag wird das Individuum von der Gemeinschaft mit Haut und Haaren verschlungen. In dieser größeren Entäußerungsreichweite des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrages manifestiert sich jedoch nicht eine größere Geringschätzung des Rechts und der Interessen der Individuen. Die Rousseau'sche Konstruktion nimmt vielmehr der Befürchtung der Individuen, staatliches Handeln könnte gegen ihr Freiheitsrecht und ihr Selbsterhaltungsinteresse gerichtet sein, jeden rationalen Anlass: Der Gemeinwille ist unfehlbar und will notwendig das Gemeinwohl.
Der Rousseau'sche Gesellschaftsvertrag ist das Symbol einer demokratischen herrschaftsrechtlichen Selbstorganisation der Menschen, in der jeder gleichermaßen gleichberechtigter Herrschaftsteilhaber und gleichverpflichteter Herrschaftsunterworfener ist. Er vereinigt in sich im Einzelnen die folgenden Beziehungen: (1) die fundamentale formale vertragsrechtliche Reziprozitätsbeziehung zwischen den Naturzustandsbewohnern; (2) die Entäußerungsbeziehung: auf der einen Seite die sich rückhaltlos entäußernden Vertragspartner, auf der anderen Seite der durch diese rückhaltlose Entäußerung aller aus der Vertragsgemeinschaft selbst entstehende „Moral- und Kollektivkörper (corps moral et collectif)", den Rousseau auch Staatsperson, „personne publique", nennt, weil in ihm die plurale Vertragsgemeinschaft eine personenanaloge Einheit erhält, ein „gemeinsames Ich (moi common)" wird und „Leben" und „Willen" bekommt (1.6; 361; 74); (3) die Herrschaftsbeziehung zwischen dem (Volk als) Souverän und dem (Volk als Untertanen-)Volk, die (4) sich in jedem Individuum reproduziert, das als Herrschaftsteilhaber Bürger (citoyen) und als Gesetzesunterworfener Untertan (sujet) ist.44
Zwischen diesen Beziehungen besteht folgendes Verhältnis: (3) und (4) verweisen aufeinander; (4) ist die individuelle Entsprechung von (3). Dass eine derartige Entsprechung zwischen einem externen staatsrechtlichen und einem internen moralischen Verhältnis bestehen kann, hat seinen Grund in dem Umstand, dass die staatsrechtliche Beziehung die herrschaftsrechtliche Binnenstruktur einer auf der Identität von Herrschenden und Beherrschten beruhenden Demokratie beschreibt. (3) ist die staatsrechtliche Präzisierung des Ergebnisses von (2). So wie in einem moralischen Selbstherrschaftsverhältnis - verstehen wir es als Herrschaft der Vernunft über die niederen Seelenteile oder als Herrschaft des intelligiblen Menschen über den sinnlichen Menschen - die Herrschaftspartner nummerisch identisch sind, so ist eben auch in einer plebiszitären Demokratie von der nummerischen Identität von Herrschenden und Beherrschten auszugehen. Die Republik ist Enkratie des Kollektivs; und nur ein enkratie- fähiges Kollektiv wird eine Republik werden können. (2) beinhaltet den Schöpfungsakt des demokratischen Leviathan, des einheitlichen allgemeinen Willens. (2) ist der Inhalt von (1); und (1) bezeichnet die logische Binnenstruktur eines interindividuellen Vertragsverhältnisses.
Nicht anders als bei Hobbes bestimmt auch bei Rousseau der Vertrag den Übergang von einer vorpolitischen Existenzform des Menschen zu einer politischen Existenzform und zugleich die innere Verfassung der politischen Existenzform. Jeder Mensch taucht in diesem kontraktualisti- schen Argument also in drei Modi auf: zuerst als Naturzustandsbewohner, als natürlicher, vorpolitischer Mensch; sodann als Mitglied des Souveräns, als Bürger, und schließlich als den Gesetzen unterstellter Untertan. Genau genommen lassen sich sogar vier Modi unterscheiden: Denn neben den drei genannten Rollen nimmt der Mensch auch noch die Rolle des Vertragspartners, und das heißt: des Schöpfers von Normativität und Verbindlichkeit, des Erzeugers der moralischen Welt wahr.
Im vollständigen kontraktualistischen Argument Hobbes' werden zwei Verträge miteinander verknüpft. Da ist einmal der Grundvertrag, der das Souveränitätsschema formuliert. In seinem Zentrum steht der formale Entäußerungsakt, der eine staatsrechtliche Grundbeziehung, eine absolutistische Herrschaftskompetenz konstituiert, jedoch das Herrschaftssubjekt unbestimmt lässt. Und da ist zum anderen ein Institutionsvertrag, in dem das Herrschaftssubjekt bestimmt wird. Das Hobbes'sche Argument ist so geartet, dass sich aus den Naturzustandsbestimmungen und der Natur des Vertrags selbst keine Festlegungen hinsichtlich des Herrschaftssubjekts ableiten lassen: Wer absolute Herrschaft ausüben soll, kann vor dem Hintergrund des Hobbes'schen Naturzustandskonzepts nicht entschieden werden, nur dass eine absolute Herrschaft etabliert werden muss, ist von ihm zu lernen.45
Eine andere, um die Autonomieprämisse bereicherte Ausgangssituation führt Rousseau zu einem anderen Ergebnis. Die Etablierung einer Herrschaftsordnung, die mit der Selbstbestimmungsfreiheit kompatibel sein muss, verlangt nach einem demokratischen Herrschaftssubjekt, das darüber hinaus in seiner gesetzgeberischen Willensbildung keinerlei normative Einschränkung dulden darf, denn nur selbstgegebene Gesetze sind mit der Freiheitsbestimmung vereinbar. Das kontraktualistische Argument Rousseaus führt also zu einer logischen Umkehrung des Verhältnisses von Souveränitätsschema und Herrschaftssubjekt: Das Herrschaftssubjekt ist keine logisch nachträgliche Ausfüllung des vorwegbestimmten Souveränitätsschemas, sondern die Bestimmung des Herrschaftssubjekts geht der Festlegung des Souveränitätsprofils logisch voraus. Weil legitime Herrschaft selbstbestimmungsverträgliche Herrschaft ist, und weil selbstbestimmungsverträgliche Herrschaft nur im Rahmen einer staatsrechtlichen Konstellation ausgeübt werden kann, in der jeder gleichberechtigter Herrschaftsteilhaber ist, jeder aber nur durch autonome Regeln einschränkbar ist, muss diese Herrschaft absolut, von allen normativen Vorgaben frei sein. Weil bei Rousseau Souveränitätskonzept und Herrschaftssubjekt intern miteinander verknüpft sind und nicht mehr in einer nur äußerlichen Beziehung zueinander stehen, werden die Bestimmung des Souveränitätsmodus und die Festlegung des Herrschaftssubjekts in einem einzigen Vertragsakt vollzogen, kehrt sich auch ihre argumentationslogische Vorrangordnung um: Bei Rousseau sucht sich keine aus der Naturzustandsargumentation als notwendig abgeleitete absolute Souveränität ein Subjekt, sondern das aus Naturzustand und Autonomieprämisse als notwendig abgeleitete Herrschaftssubjekt kann eine selbstbestimmungskompatible Herrschaft nur als absoluter Souverän ausüben.
Durch den Entäußerungsvertrag entsteht „ein Moral- und Kollektivkörper", eine „Staatsperson", ein „Staatskörper", ein „allgemeiner Wille", ein „gemeinsames Ich". Die Subjektivität mit ihren wesentlichen Bestimmungen und internen Beziehungen wird zum Sprachbildner der politischstaatsrechtlichen Ordnung. Die politische Einheit artikuliert sich in anthropologischen Metaphern46; die Einheit der Person, die in Handlungsmächtigkeit und kontrolliertem Körpereinsatz sinnfällig werdende personale Einheit ist ihr Vorbild. Auch der Leviathan ist ein „Staatskörper", eine „Staatsperson44 - in gewisser Weise sogar ein „Moral- und Kollektivkörper44 und ein „gemeinsames Ich" denn er wird konstituiert durch individuelle Entäußerungsakte, die als einheitsbildende Handlungen zugleich die Menge der Vertragspartner in eine handlungsfähige Einheit verwandelt, deren Handlungen von jedem Untertanen als eigene anzuerkennen sind. Aber vertraglich konstituierter Staatskörper und einheitsstiftender allgemein verbindlicher Wille fallen bei Rousseau nicht auseinander. Der makros änthropos des Titelkupfers des Leviathan von 1651 kann nicht als emblematische Darstellung der sozialvertraglichen Republik Rousseaus taugen, denn die Trennung zwischen den Vielen und dem Einzelnen wird bei Rousseau genauso aufgehoben wie die Scheidung von Staat und Gesellschaft. Während sich bei Hobbes die politische Existenzform der Individuen in der vertraglichen Konstitution des Staatskörpers zum einen und in der politisch passiven Identifikation des eigenen Willens mit dem Willen des Souveräns erschöpft, manifestiert sie sich bei Rousseau in dauerhafter aktiver Herrschaftsteilhaberschaft. Während bei Hobbes die einheitsbildende Identität auf einer Identifikation, auf einer kontraktualistisch-staats- rechtlichen Als-ob-Identität beruht, weicht bei Rousseau diese interpretationsgestiftete Als-ob-Identität einer realen Identität. Wollte man diese Differenz mit den Mitteln des Leviat/ian-Titelsymbols illustrieren, dann würde man an die Grenzen des bildlich Darstellbaren stoßen. Denn der republikanische makros änthropos müsste ein Herrscherhaupt besitzen, das aus den Häuptern der den Kollektivkörper konstituierenden Einzelmenschen gebildet ist. Andererseits tritt die Republik Rousseaus nur dann ins Leben, wenn die Gesamtheit der Bürger mit einer Stimme spricht; republikanische Politik ist nicht Organisation von Vielheit, sondern authentischer Ausdruck von Einheitlichkeit. Es geht nicht um eine staatliche Befriedung gesellschaftlicher Differenz, sondern um die Aufhebung der Differenz durch Vereinheitlichung der Bürger. Das volkssouveränitäre Haupt der Häupter wäre nur eine Ansammlung von Gleichen, jeder die Kopie des Anderen. Wenn es der Sinn der versittlichenden Assoziation ist, dass jeder die Republik in sich trägt, kann auch jeder als Symbol des Republik auftreten. Somit könnte das imaginäre Titelbild des Gesellschaftsvertragsbuches auch eine Ansammlung Ununterscheidbarer darstellen.
6« Äquivoker Kontraktualismus:
Das rechtlich-ethische Doppelgesicht des Gesellschaftsvertrags
Hobbes-Interpreten streiten sich über den rechtlichen Charakter des Entäußerungsversprechens, das im Leviathan die Gestalt einer Abtretung des Selbstherrschaftsrechts, einer Autorisierung des Souveräns annimmt. Mei

nen die einen, hier ein zumindest rudimentäres wechselseitiges Verpflichtungsverhältnis zwischen dem Autorisierenden und dem Autorisierten annehmen zu dürfen, so machen die anderen geltend, dass der staatsrechtliche Konstitutionsakt der Entäußerung und Autorisierung kein reziprokes Verpflichtungsverhältnis zwischen Untertan und Herrscher begründe, diese vielmehr rechtlich unverbunden bleiben und die einzige wechselseitige Verpflichtungsrelation nur zwischen den ursprünglichen Partnern des Staatsvertrags bestehe. Erstere bringen vor, dass ein Autorisierungsverhältnis den Autorisierten notwendigerweise an den Autorisierenden rechtlich binden müsse; letztere bringen vor, dass das Beweisziel einer kontraktualistischen Absolutismusbegründung verfehlt wäre, würde der Souverän durch Verpflichtungen gegenüber seinen Untertanen eingeschränkt; sie führen zudem an, dass ein Autorisierungsakt keine wechselseitige Verpflichtung zwischen dem Autorisierenden und dem Autorisierten begründen könne, wenn der Autorisierte erst durch den Autorisierungsakt in eine rechtliche Existenz treten kann.
Es scheint, dass die Anhänger der These von der entäußerungsbegründeten wechselseitigen Verpflichtung durch Rousseau starke Unterstützung erfahren, sagt Rousseau doch, „dass der Akt der Vergesellschaftung eine wechselseitige Verpflichtung zwischen dem Gemeinwesen und dem Einzelnen beinhaltet, und dass jedes Individuum, das gewissermaßen mit sich selbst einen Vertrag schließt, in doppelter Weise verpflichtet ist: einmal als Mitglied des Souveräns gegenüber den Einzelindividuen und als Mitglied des Staates gegenüber dem Souverän" (1.7; 362; 75 f.). Aber diese Darstellung bereitet beträchtliche Schwierigkeiten, denn es ist nicht zu sehen, wie diese Verpflichtungswechselseitigkeit zwischen den Produkten der vertraglichen Assoziation, also zwischen Souverän und Staat bzw. zwischen Souverän und einzelnem Untertan, aus der wechselseitigen Verpflichtung der vertragsschließenden Individuen gewonnen werden kann. Es war ja gerade der Witz des Hobbes'schen Kontraktualismus, die politischen Bindewirkungen der Mutualitätsstruktur des mittelalterlich-ständestaatlich-monar- chomachischen Herrschaftsvertrages dadurch aufzuheben, dass er die vertragliche Wechselseitigkeit auf rein interindividuelle Vertragsverhältnisse beschränkte und Volk und Souverän, Gesellschaft und Staat als gleichzeitig erzeugte Vertragsprodukte einführte, die weder untereinander noch durch verbliebene rechtliche Ansprüche ihrer individualistischen Schöpfer rechtlich gebunden werden konnten.
Rousseau hat diese Vertragsstruktur übernommen; auch sein Vertrag verankert seine gesellschaftliche und politische Einheitsstiftung in einem rückhaltlosen Entäußerungsversprechen, das sich die Individuen wechselseitig geben. Im 6. Brief vom Berge, der neben dem Emile eine weitere knappe Darstellung des Inhalts des Gesellschaftsvertragsbuches enthält, hat Rousseau das auch deutlich gesagt „Das Ergebnis dieser Untersuchung ist dies, dass die Einrichtung des Gesellschaftsvertrages ein Bündnis von besonderer Art ist, vermöge dessen jeder Einzelne sich allen verpflichtet, woraus die gegenseitige Verbindlichkeit aller gegen jeden Einzelnen folgt (un pacte d'une espece particuliere, par lequel chacun s'engage envers tous, d'ou ensuit l'engagement reciproque de tous envers chacun), welche der wahre Zweck der Vereinigung ist."47 Wichtig ist, nicht misszuverstehen, was hier „alle" heißt. „Alle" heißt „die anderen", n-1. Denn der Vertrag ist eine Vertragssumme; er besteht aus n (n-1) Verträgen, denn jeder schließt einen Vertrag mit jedem - nur nicht mit sich selbst. Hier findet sich kein Verpflichtungsverhältnis zwischen Souverän und Untertanenverband oder zwischen Souverän und jedem einzelnen Untertan, von dem sowohl Gesellschaftsvertrag als auch Emile sprechen.48
Staat und Souverän müssen auch im Rahmen des Rousseau'schen kon- traktualistischen Arguments vertragliche Konstitutionsprodukte sein, die selbst nicht in Vertragsbeziehungen eingebunden sein können. Anders gibt die kontraktualistische Argumentationsanlage keinen Sinn. Gerade weil auch bei dem Autor des Contrat social alle Vertragspartner sich vollständig aller Macht und Freiheit und allen Rechts entäußern, sie also nicht wie die Menschen in der liberalen Welt Lockes unveräußerliche Rechte zurückbehalten, kann der Souverän ihnen gegenüber nicht in einem Verpflichtungsverhältnis stehen. Wie sähe es denn aus, wenn der Souverän seine Pflicht verletzen würde? Welches Recht der Staatsmitglieder definiert die Pflichten der Souveränitätsmitglieder? Ist der Souverän nicht darum das vereinigte, einmütige Volk selbst, damit die Autonomie von jedermann strukturell garantiert ist? Ist der Souverän aufgrund seiner internen Verfasstheit nicht konstitutionell unfehlbar, weil er notwendigerweise gerechte, nämlich allgemein gewollte Gesetze gibt? Es ist doch das ganze Bestreben der Rousseau'schen Argumentation, eine politische Gemeinschaftsform zu entwerfen, deren Herrschaftsausübung notwendigerweise gerecht ist und mit der Freiheit von jedermann in Übereinstimmung steht. Die rechtliche Verbesserung, die seine Theorie an Hobbes' Staatsvertrag vornehmen möchte, stützt sich nicht auf die liberale Strategie, ist nicht vom generellen Misstrauen staatlicher Macht gegenüber motiviert, läuft also nicht auf eine menschenrechtliche Limitierung und konstitutionalistische Bindung der Herrschaft hinaus. Die von Rousseau ins Auge gefasste rechtliche Verbesserung des etatistischen Absolutismus setzt auf die demokratische Strategie, stützt sich auf das Konzept der Selbstherrschaft der Vertragspartner. Damit wird aber nicht - daran muss immer erinnert werden - das Souveränitätsschema gemildert. Rousseau ersetzt den etatistischen Absolutismus durch einen demokratischen Absolutismus. Mit dieser normativen Auszeichnung des Herrschaftssubjekts, die durch die Autonomiethese verlangt
wird, ändert sich aber weder die interne staatsrechtliche Struktur der Vertragsdemokratie noch das Verhältnis der staatsrechtlichen Bestimmung der komplementären Rollen von Souverän und Untertan zur sozialvertraglichen politischen Schöpfungshandlung. Auch wenn sich in der Struktur des Souveräns der Egalitarismus der Vertragspartnerschaft wiederholt, wiederholt sich doch in der staatsrechtlichen Asymmetrie von Souverän und Untertan nicht die Verpflichtungsreziprozität des ursprünglichen Assoziationsvertrages.
Rousseau hat offenkundig die logische Struktur seines eigenen kontrak- tualistischen Arguments nicht durchschaut. Einerseits ist die Anlehnung an den Vertrag des Leviathan offenkundig, andererseits ist unverkennbar, dass Rousseau den Vertrag auch als internen Verpflichtungsgrund für Souverän und Volk benutzt, die Vertragsresultate also selbst wieder in eine vertragliche Bindung hineinzieht. Verpflichtungsquell für Untertanenpflichten und Herrscherpflichten ist aber nur der Vertrag des deutschen Naturrechts, der Unterwerfungsvertrag, durch den sich ein rechtlich konstituiertes Volk einem Herrscher unterwirft. Rousseau schiebt beide Verträge ineinander, benutzt den Vertrag sowohl als Konstitutionsgrund der politischen Einheit als auch als Quell der inneren herrschaftsrechtlichen Verpflichtungslage. Damit fällt er hinter das systematische Niveau des Hobbes'schen, des Locke'schen und des kantischen Kontraktualismus zurück. Man kann nicht davon sprechen, dass jeder mit sich selbst einen Vertrag schließt, da er sowohl als Mitglied des Untertanenverbands der Allgemeinheit gegenüber als auch als Teil des Souveräns den Untertanen gegenüber vertraglich verpflichtet sei. Genau dieses Vertragsverhältnis besteht nicht. Natürlich existiert eine Verpflichtungswechselseitigkeit zwischen Volk und Souverän, genauso richtig ist, dass aufgrund der nummerischen Identität von Citoyen und Untertan diese Verpflichtungswechselseitigkeit eine moralische Gestalt annimmt, innerer moralischer Selbstherrschaft gleichkommt, aber diese normative Beziehung ist Ausdruck eines Vertrages, der zwischen den Individuen des Naturzustandes geschlossen wird, ist hingegen nicht in einer vertraglichen Bindung verankert, die zwischen Untertan und Souverän besteht.
Als Erklärung dieser systematischen Undeutlichkeit des Rousseau'- schen Vertragsarguments könnte sein mehrdeutiger Gebrauch der Ver- tragsbegrifflichkeit dienen. Bedenkt man die vielen unterschiedlichen und begrifflich klar unterscheidbaren Verwendungskontexte, in denen Rousseau auf die Vertragssprache zurückgreift, dann kann man geradezu von einem äquivoken Kontraktualismus reden, dessen unterschiedliche Bedeutungsschichten sich überlappen und überlagern. Trifft man zu Beginn des Arguments noch auf eine der jungen kontraktualistischen Tradition angemessene rational-individualistische Verwendung der Vertragssprache, so findet man bereits in der Darstellung der vertragsbegründeten politischen Gemeinschaftsform eine metaphorische Verwendung der Vertragssprache, die mit Hilfe von Vertragsbeziehungen, wechselseitiger Verpflichtung und Recht-Pflicht-Komplementarität auf gänzlich unangemessene Weise die innere ethisch-politische Einheit einer identitär-demokratischen Gemeinschaft veranschaulichen will. Der Kontraktualismus geht von der Voraussetzung aus, dass Rechtsfiguren ausreichen, um das Legitimationsmodell einer wohl geordneten Gesellschaft zu entwerfen. Rousseau hat paradoxerweise im Rahmen einer Auslegung des kontraktualistischen Arguments genau diese Voraussetzung aufgekündigt. Er hat das Rechtsmodell der Herrschaft durch das Demokratiemodell der Herrschaft erweitert. Dabei wird der negative Freiheitsbegriff in einem positiven, auf Beteiligung, Internalisierung, gelebte Gemeinschaftlichkeit und affektives Zugehörigkeitsbewusstsein sich stützenden Freiheitsbegriff aufgelöst.
Der Vertrag ist jedoch ein völlig verfehltes Symbol für eine Republik. Das Leben einer Republik speist sich aus anspruchsvollen moralisch-motivationalen Ressourcen, verlangt Bürger mit einer habitualisierten Gemeinwohlorientierung im Denken und Handeln. Vertragsbegründete Ordnungen hingegen müssen mit kargeren motivationalen Voraussetzungen auskommen, müssen ihr sozialintegratives Pensum mit den Mitteln des aufgeklärten Selbstinteresses bestreiten. Der Kontraktualismus kann nur den Motivations- und Sozialintegrationstyp bereitstellen, der dem Rationalitätsprofil des Vertragsarguments entspricht', und die Überlegungen des Vertragsarguments werden in der Geschichte des Kontraktualismus durchgängig durch die instrumentell-strategische Rationalität bestimmt, durch die interessenverwaltende und nutzenmaximierende Klugheit. Sofern ein Gemeinwesen seinen Integrationsbedarf nicht aus dieser Quelle des rationalen Selbstinteresses befriedigen kann und anderer Ressourcen bedarf, können diese im begrifflichen Rahmen des Kontraktualismus nicht angemessen dargestellt und diskutiert werden.49 Rousseaus Sittlichkeitstraum bedient sich falscher Begriffe.
In Rousseaus äquivokem Kontraktualismus, der Rechtsfiguren und Ethosformen ineinander schiebt, wird das Gesellschaftsvertragskonzept zur allgemeinen zivilisationstheoretischen Chiffre. Es wird zum Sinnbild einer ethischen Metamorphose, einer Verwandlung der natürlichen Menschen in Gemeinschaftswesen, einer Transformation natürlicher Lebensverhältnisse in eine moralische Welt. Die Rechts- und Pflichtbeziehungen, die Loyalitäten und sittlichen Bindungen, die in der moralischen Welt anzutreffen sind und ihre Differenz zur natürlichen ausmachen, wurzeln in der Verpflichtungsreziprozität des ursprünglichen Assoziationsvertrages. Die Vertragsbeziehung wird zur Mutterbeziehung aller normativ imprägnierten Sozialität. Da aber Rousseau anders als seine kontraktualistischen Zeitgenossen einen emphatischen Begriff von Sozialität besitzt und wie Aristoteles die bürgerpolitische Existenzweise als dem menschlichen Wesen einzig angemessen beurteilt, wird der Vertrag für ihn geradezu zu einem Akt der Menschwerdung.
„Der Übergang vom Naturzustand in den staatsbürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung: An die Stelle des Instinkts tritt die Gerechtigkeit und verleiht seinen Handlungen jenen sittlichen Sinn, der ihnen vorher fehlte. Erst jetzt, da die Stimme der Pflicht den physischen Trieb ersetzt und das Recht die Begierde abgelöst hat, sieht sich der Mensch, der bislang nur auf sich selbst Rücksicht genommen hat, gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu Rate zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt. Obwohl er sich damit mehrerer Vorteile begibt, die ihm die Natur gewährte, so gewinnt er doch andere und größere. Seine Fähigkeiten entwickeln sich, seine Ideen erweitern sich, seine Gefühle werden veredelt, und seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, dass er [...] unaufhörlich den glücklichen Augenblick preisen müsste, der ihn dem Naturzustand für immer entrissen und aus einem dummen beschränkten Tier zu einem vernünftigen Wesen, zu einem Menschen gemacht hat" (1.8; 364; 78 f.).
Der Rousseau'sche Vertrag ist eine Stätte der Verwandlung. Die Menschen betreten sie als kluge Wölfe und verlassen sie als Bürger und Patrioten. Eigentlich verlassen sie sie überhaupt nicht; denn der Vertrag ist nicht nur der gedachte Beginn der Assoziation; er ist auch das Grundgesetz der durch ihn geschaffenen Gemeinschaft. Der Vertrag zivilisiert, kultiviert und moralisiert die Menschen; in der Vertragsgesellschaft können sich die Anlagen des Menschen bestimmungsgerecht entfalten; sie ist eine Perfektionsagentur der Menschen. Es ist überaus aufschlussreich, dieses Vergesellschaftungskonzept des Rousseau'schen Contrat social mit dem Vergesellschaftungskonzept des Hobbes'schen Leviathan zu vergleichen. Die Vergesellschaftung Hobbes' ist ein Übergang von einem Zustand, in dem Furcht und Unsicherheit herrschen und sich darum die menschlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die nutzenmaximierenden Zivilisationstechniken nicht entwickeln können, zu einem anderen, in dem Furcht und Unsicherheit verschwunden sind und sich die Menschen zielstrebig der Entwicklung ihrer Fertigkeiten und Fähigkeiten widmen können und darum die technischen Mittel zur Verwirklichung ihrer sich stetig mehrenden und verändernden Interessen und Bedürfnisse unaufhörlich verbessern. Die Vergesellschaftung beruht also auf einem Veränderungsprozess, der die äußeren Lebensbedingungen verbessert. Kern dieser Verbesserung ist die Etablierung eines zuverlässigen Systems der äußeren Handlungskoordination.
7. Externalistischer Institutionalismus
und intemalistischer Moralismus
Es ist für die Hobbes'sche Argumentation charakteristisch, dass die Natur des Menschen von diesem Sozialisationsvorgang unberührt bleibt; der Mensch des Naturzustandes ändert sich nicht und muss sich nicht ändern, wenn er den Naturzustand verlässt. Der vergesellschaftete, im Gehege der Institutionen lebende Mensch wird immer noch in seinem Interesse-, Gefühls- und Handlungsleben von der „atavistischen" Begierde- und Rationalitätsstruktur geleitet, die auch seine Naturzustandsexistenz geprägt hat. Das Hobbes'sche Argument setzt auf die Integrationsleistungen der sanktionsbewehrten Institutionen, die das strategische Handeln der Individuen zur Anpassung an die objektiv gewünschte Ordnung zwingen. Sein Sozialisationskonzept stützt sich auf einen externalistischen Institutionalismus. Als sich Odysseus von seinen Gefährten an den Mast binden ließ, um dem Gesang der Sirenen lauschen zu können, ohne Gefahr zu laufen, an den Klippen zu zerschellen, wurde die Institution geboren. Institutionen sind äußere Rahmenbedingungen, die die Verwirklichung eines erwünschten Resultats sichern, ohne von den Individuen die Anstrengungen moralischer Selbstdisziplinierung, interner Besserung, tief greifender Verhaltensänderung zu verlangen. Die Hobbes'schen Menschen erfinden den Staat, um sich nicht ändern zu müssen.
Ganz anders Rousseau. Die emphatische Menschwerdungsmetapher lässt keinen Zweifel daran, dass mit dem alten Menschen des Naturzustandes keine Gesellschaft und kein Staat zu machen ist. Der Mensch muss sich ändern, seine Natur muss sich ändern. Das natürlich-instinktive Verhaltensprogramm muss durch eine vernünftige Lebensführung, durch ein verhaltensbestimmendes Gemeinschaftsethos ersetzt werden. Die Alienations- klausel des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrages hat neben den rechtlich-politischen Konnotationen auch die fremde, das Vertragsparadigma sprengende Bedeutung einer Moralisierung, durch die der natürliche Triebegoismus der Menschen moralisch-vernünftig überformt wird. Und diese Überformung ist tief greifend, kommt einer Verwandlung gleich, in der alle Spuren der ersten Natur ausgelöscht werden.50 Es ist eine Merkwürdigkeit des Rousseau'schen Kontraktualismus, dass er den staatsrechtlichen Diskurs der politischen Philosophie der Neuzeit mit dem ethischen Diskurs der Tradition vermischt, damit Motivations-, Erziehungs- und Integrationsfragen in die Argumentation einführt, die der auf Externalisierung aller Koordinationsprobleme ausgerichtete neuzeitliche Kontraktualismus glaubt aus dem Diskurs der politischen Philosophie ausklammern zu können.
Rousseaus Vergesellschaftungskonzept stützt sich auf einen internalisti- schen Moralismus, der die strategische, äußerlich abgenötigte Anpassung

durch innere Formung ersetzt, der die Menschen innerlich allgemeinheitsfähig macht und das Allgemeine durch Gemeinsinn und Gemeinwohlorientierung in ihnen wirksam werden lässt. Rousseau sieht sich daher auch gezwungen, Überlegungen in seine Theorie aufzunehmen, mit denen sich Kontraktualisten gewöhnlich nicht belasten müssen, Überlegungen, die sich mit den Voraussetzungen einer ethischen Integration, mit Gestalt und Gestaltung ethosstabilisierender sozialer und ökonomischer Lebensbedingungen beschäftigen: Wie können Menschen zu Bürgern werden, wie kann der Egoist ein Patriot, der Individualist ein Gemeinschaftsmensch werden, wie müssen Menschen erzogen werden, um Gemeinsinn zu entwickeln, um politische Tugenden zu erwerben - Überlegungen, die in der Einführung des herzenskundigen Legislateur und eines zivilreligiösen Zwangsbekenntnisses gipfeln.

In diesem Bedeutungszusammenhang ist die vertragliche Assoziation als Chiffre eines naturverändernden, vernunftausbildenden, charakterumwandelnden Ethisierungsprozesses nur die Abkürzung einer Reihe unterschiedlicher politisch-ethischer Erziehungsmaßnahmen. In der Folge dieser ethischen Kontextualisierung des vertragsgesellschaftlich-demokratischen Ordnungsmodells verblasst die rechtliche Bedeutungsdimension des Kontraktualismus immer mehr. Der rechtliche Sinn seiner Hauptbegriffe wird konsequent ethisch eingefärbt; die menschenrechtlich verankerten und durch den Vertrag politisch ausgelegten Prinzipien des Egalitarismus und Universalismus werden durch einen republikanischen Partikularismus ersetzt. Durch diese sittliche Verwandlung wandert der Rousseau'sche Bürger aus der Moderne aus. Die Moderne ist charakterisiert durch Differenzierung und Trennung; sie entwickelt ein konfliktregulierendes Management der Unterscheidungen: Moralität scheidet sich von Legalität, Öffentlichkeit und Privatheit treten auseinander; Staat und Gesellschaft trennen sich ebenso wie Politik und Religion. Rousseaus Gesellschaftsvertrag wendet sich auf allen Ebenen gegen diese Trennungen und Unterscheidungen. Er ist ein Fanal der Entdifferenzierung.

In einer Hinsicht hat übrigens auch der Hobbes'sche Vertrag schöpferische Qualität. Man denke etwa an die großartige Einleitung in den Leviathan, in der die Anatomie des künstlichen Menschen beschrieben wird, der durch das schöpfungsimitierende und gottgleiche „Fiat" der Menschen, durch ihr „Lasst uns einen künstlichen Menschen, einen Staat machen" ins Leben gerufen wird: „Lastly, the Pacts and Covenants, by which the parts of the Body Politique were at first made, set together, and united, resemble that Fiat, or the Let us make man, pronounced by God in the Creation."51 Und an anderer Stelle heißt es: „Before covenants and laws were drawn up, neither justice nor injustice, neither public good nor public evil, was natural among men any more than it was among beasts."52 Der Verbindlichkeitsanspruch der Welt der Normen ist ohne allen objektiven ontologischen Rückhalt; Moral und Recht sind bei Hobbes kollektive Inventionen, entstammen einer verbindlichkeitstheoretischen creatio ex nihilo. Die verbindlichkeitstheoretische Urhandlung, die zur Erschaffung der moralischen Welt führt, ist die in der Fähigkeit providenzieller Zukunftsverfügung gründende Selbstbindung, die nur im Medium der promissiv-kontrak- tualistischen Sprache Bedeutung gewinnen kann: „there being no obligation on any man, which ariseth not from some Act of his own"53. Die moralische Welt ist zwischen den Prädikaten der moralisch-rechtlichen Verpflichtungssprache aufgehängt, denen durch die inventiven promisso- risch-kontraktuellen Sprechakte der Selbstverpflichtung und autorisierenden Rechtsübertragung Verbindlichkeit zuwächst. So wie in der traditionellen Sichtweise der Wille Gottes zu den Gesetzen hinzutreten muss, um ihnen Verbindlichkeit zu verleihen, so tritt bei Hobbes jetzt der sich vertragssprachlich artikulierende Wille der Menschen zu den Klugheitsregeln und nutzenmaximierenden Strategien hinzu, um ihnen die zusätzliche, aus ihrer inhaltlichen Beschaffenheit selbst nicht zu gewinnende Eigenschaft verbindlicher Normativität zu verleihen.

Hobbes war sich der Zumutungen der Moderne bewusst und über die verbindlichkeitstheoretischen Auswirkungen einer gottentleerten Welt, einer entfinalisierten Natur im Klaren. Zur Illustrierung des Problems greift er jedoch ironischerweise auf die begrifflichen Requisiten und mythischen Bilder der abgelegten Weltanschauung zurück und inszeniert die Entstehung einer moralischen Welt aus menschlicher Selbstmächtigkeit als Wiederholung des göttlichen Kreationismus. In der Verbindlichkeitstheorie nimmt der Mensch eine gottgleiche Schöpferrolle ein: So wie Gott die natürliche Welt geschaffen hat, so schafft der Mensch die von der natürlichen Welt getrennte, nicht auf sie zurückzuführende moralische Welt. Deutlicher könnte der Abstand des Hobbes'schen Denkens zur naturrechtlichen Tradition nicht zum Ausdruck gebracht werden. Es gibt nicht mehr die eine, in sich normativ verfasste und daher auch für menschliche Lebensverhältnisse vorbildlich-verbindliche Seins- und Naturordnung; die Natur, die sich den modernen Menschen in der Auslegung der mathematischen Naturwissenschaften zeigt, ist sinnleer, verbindlichkeitsfrei, pure Tatsächlichkeit; aller normativer Orientierungssinn ist aus ihr entschwunden. Dem Menschen bleibt damit nur die Wahl, sich entweder in die Tatsächlichkeit der Natur zu schicken und sich ausschließlich als Teil der Natur zu erblicken, oder eine moralische Welt selbstmächtig aus sich herauszuspinnen und der Natur entgegenzustellen. Daher erzählt die Hobbes'sche Philosophie die Geschichte von den zwei parallelen Schöpfungen, von der Schöpfung der natürlichen Welt durch Gott, die durch die Physik rekonstruiert werden kann, und von der Schöpfung der moralischen Welt durch den Menschen, die in dem Hobbes'schen Kontrak- tualismus nacherzählt wird.54

Rousseaus Menschwerdung freilich geht über diese verbindlichkeitstheoretische Produktivität des Vertrages weit hinaus. Den Vertrag als Quell von Normativität auszulegen, Verbindlichkeit somit nicht mehr als objektive Eigenschaft, sondern als voluntaristische Funktion zu verstehen, ist systemkonform, denaturiert nicht den Vertragsbegriff. Rousseau jedoch sprengt das Vertragsschema. All die Veränderungen, die sich für ihn in der vertraglichen Assoziation bündeln - der Übergang vom Tierischen zum Menschlichen, vom Natürlichen zum Moralischen, von der Instinktleitung zur Autonomie, von affektiver, triebbestimmter Reaktivität zur Vernünftigkeit, vom natürlichen Egoismus zur sittlichen Gemeinwohlorientierung -, sind nicht als Folgen einer vertraglichen Einigung explizierbar.

Rousseau wollte im Gesellschaftsvertrag ein normatives Erkenntnisprogramm entwickeln, um die Rechtmäßigkeitsbedingungen politischer Herrschaft zu finden. Aber dieses Programm ist gescheitert. Die herrschaftsrechtliche Sprache verliert im tugendethischen Zwielicht ihre semantische Kontur. Die strenge legitimationstheoretische Begrifflichkeit des Kontrakts wird durch eine republikanische Metaphorik unterspült, die klare Sprache des Rechts durch vage Tugendrede vernebelt. Rousseaus Kontrak- tualismus gleicht einem Palimpsest: Auf der sichtbaren Oberfläche präsentiert sich ein modernitätsadäquater Liberalismus in vertragstheoretischer Schrift. Aber kratzt man ein wenig an dieser rechtssprachlichen Oberfläche, dann taucht ein ganz anderer Text auf, ein republikanischer Subtext, der eine ganz andere, an ferne Zeiten erinnernde politische Botschaft verkündet.

Denkt man an das der vertraglichen Vereinigung aufgeladene Veränderungspensum, dann wird man feststellen müssen, dass sich der Kontraktua- lismus im Gesellschaftsvertrag in Geschichtsphilosophie auflöst. Anders als im Diskurs über die Ungleichheit wird diesmal aber die Geschichte einer sittlichen Veredelung, einer gleichzeitig ontogenetischen und phylogenetischen Personwerdung erzählt. Verwendet Rousseau im zweiten Diskurs den sittlich unzulässigen Vertrag seiner kontraktualistischen Vorgänger in ideologiekritischer Hinsicht zur Illustrierung der internen Falschheit und Unsittlichkeit der geschichtlichen Entwicklung, so wird im Gesellschaftsvertrag der sittlich zulässige Vertrag zur Chiffre geglückter Vergesellschaftung. Buchstabiert der Ungleichheitsdiskurs die geschichtsphilosophische These kontraktualistisch, so interpretiert der Gesellschaftsvertrag den Vertrag geschichtsphilosophisch. Nur das Wertungsvorzeichen ändert sich. Hat die kontraktualistische Geschichtsphilosophie das Paradies unwiederbringlich hinter sich, ist sie Geschichte des Abfalls und des Niedergangs, so hat der geschichtsphilosophische Kontraktualismus das Paradies vor sich, ist er Ausdruck von Hoffnung und Aufstieg. Diese geschichtsphilosophische Auslegung des Vertrages freilich bekommt dem kontraktualisti- schen Argumentationsschema nicht, denn sie zwingt die Vertragstheorie in einen fundamentalen Widerspruch.

Die Vertragstheorie verbindet den Vertrag mit einer grundlegenden Verbesserung der menschlichen Lebensumstände. Der durch ihn herbeigeführte neue, staatlich-gesellschaftliche Zustand weist all die Defekte nicht mehr aus, die für den Naturzustand charakteristisch sind. Damit das Vertragsargument freilich überzeugen kann, muss die naturzustandseigene Defizienz ausschließlich eine der äußeren Lebensbedingungen der Menschen sein. Es ist die Defizienz der äußeren Natur, an deren Abschaffung die rationalen, ihrer Interessen sicheren, verständigen und zu providenziel- ler Vernunft fähigen Menschen arbeiten. Und sie können an dieser Verbesserung der Lebensumstände gezielt arbeiten, weil sie aufgrund ihrer Reflexivität eine naturexterne Position besitzen. Wird der Vertrag jedoch als begriffliche Abbreviatur eines Zivilisierungsprozesses verstanden, der den instinktgelenkten Naturmenschen in einen vernunftgeleiteten Gesellschaftsmenschen verwandelt, dann ist der Vertrag nicht mehr eine Antwort auf die Defizienz der äußeren Natur, sondern eine Antwort auf die Defizienz der inneren Natur des Menschen. Nur fragt man sich jetzt, wer denn diese Antwort geben kann.

Menschen, die einen Vertrag zur Verbesserung ihrer äußeren Lebensumstände schließen, sind denkbar; Menschen, die einen Vertrag schließen, um die intellektuelle, rationale und moralische Defizienz ihrer schieren Naturalität in einem langwierigen Vergesellschaftungsprozess zum Verschwinden zu bringen, sind nicht denkbar. In der Biologie kommen Verträge nicht vor. Der natürliche Mensch, der nur als Gattungsexemplar existiert, ist kein denkbares Rechts- und Vertragssubjekt. Ihm fehlen alle intellektuellen Qualitäten, die notwendig sind, um den gemeinsamen Auszug aus dem Zustand der natürlichen Defizienz zu organisieren. Er kann den Vertrag keinesfalls durch Situationsanalyse und Abwägung alternativer Lebensumstände rational vorbereiten. Er kann ihn aber auch nicht schließen, weil der Naturmensch kein zu wechselseitiger Verpflichtung fähiges Rechtssubjekt ist. Durch die geschichtsphilosophische Umdeutung des Vertrages zerstört Rousseau die anthropologischen Voraussetzungen des Vertragsarguments. Die im Vertrag anvisierte, durch den Vertrag ermöglichte Zustandsveränderung ist grundsätzlich nur als Wandel äußerer Lebensverhältnisse sich selbst nicht ändernder Menschen denkbar. Ein Veränderungsprozess hingegen, der nicht die äußere Umwelt der Menschen betrifft, sondern im Menschen selbst stattfindet, der nicht seine Umwelt, sondern seine innere Natur verwandelt, ist konsistent nicht als vertraglich herbeigeführte Zustandsveränderung beschreibbar.

Mit dieser geschichtsphilosophischen Deutung des Contrat social gehen jedoch noch weitere Unstimmigkeiten einher. Notwendigerweise ist der Vertragsschluss der Naturzustandsbewohner eine intentionale Handlung, anderenfalls wäre der Vertrag in einem Argument, mit dessen Hilfe die Legitimität von Herrschaft begründet und der politische Gehorsam der Bürger als rational gerechtfertigt werden soll, nicht verwendbar. Ein Prozess ist aber keine Handlung, erst recht nicht „die freiwilligste Handlung von der Welt" (IV.2; 440; 170). Seit jeher neigten Menschen dazu, Prozesse nach dem Muster von Handlungen auszulegen, um ihnen Sinn und Richtung zu geben. Sie haben der Geschichte ein Subjekt unterstellt, um die Unerträglichkeit anonymen Prozessgeschehens zu mildern, um sich selbst sinnvoll in die Strukturabläufe einfädeln zu können oder um einen Verantwortlichen identifizieren zu können, dem die Schuld für das Geschehen aufgebürdet werden kann. Die Umkehrung dieser Strategie macht aber wenig Sinn. Was soll damit gewonnen werden, wenn innerhalb eines normativen Argumentationskontextes explizites menschliches Handeln in ein anonymes Prozessgeschehen umgedeutet wird? Die einzige Folge dieser Uminterpretation ist die Marginalisierung verantwortungsfähiger Subjektivität und all ihrer Handlungen. Rousseau entwickelt hier wahrlich eine desaströse Hermeneutik. Seine Deutung bringt das Gedeutete zum Verschwinden; Vertrag und Staatsrecht verlieren ihre subjektivitätstheoretischen Voraussetzungen und lösen sich auf.​