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V. Die Verwirklichung der Republik

Damit der Allgemeinwille in die Wirklichkeit treten kann, muss die Wirklichkeit für den Allgemeinwillen empfänglich sein, muss sowohl die innermenschliche wie die außermenschliche Wirklichkeit sein Erscheinen begünstigen. Und dann trifft der Allgemeinwille in den Menschen auf entgegenkommende Bedingungen, wenn diese Menschen in ihren individuellen Denk- und Handlungsverhältnissen gemeinwohlorientiert agieren, wenn sie sich selbst als Teil des Allgemeinen und mit den Belangen der Allgemeinheit identifizieren. Und dann wird in der Gesetzgebungsversammlung Gemeinsinn wirksam, wenn die Menschen zu Bürgern geworden sind, wenn ihnen durch Erziehung und gemeinschaftsbildende Lebensumstände Tugendhaftigkeit zur zweiten Natur geworden ist.
Rousseaus Untersuchung der Verwirklichungsbedingungen der Republik des Allgemeinwillens ist noch disparater und unsystematischer als seine staatsrechtliche Analyse legitimer Herrschaft. Sie beginnt mit der Figur des Gesetzgebers und endet mit der Bürgerreligion. Mittelstück dieser Passage ist das in keinem republikanischen Traktat fehlende Lehrstück über die Ursachen des Niedergangs einer politischen Gemeinschaft und die erforderlichen politischen Präventivmaßnahmen.
Zwei Gesetzgeber
Das VII. Kapitel des ersten Buches der ersten Fassung des Contrat social handelt von der „Notwendigkeit positiver Gesetze". Sein vorletzter Abschnitt endet mit der Konklusion: „Voilä d'ou nait la necessite d'une legislation." Und in genauer Entsprechung heißt es zum Schluss des letzten Abschnittes: „Voilä d'ou nait la necessite d'un Legislateur."132 Aber der Gesetzgeber, dem das folgende und in die veröffentlichte Fassung übernommene Kapitel gewidmet ist, ist nicht der Gesetzgeber, der das positive Recht setzt. Denn diesen kennen wir bereits: Der Gesetzgeber des positiven Rechts ist der Souverän, die Gesamtheit der Bürger.
Der aus dem Gesellschaftsvertrag geborene Souverän muss zwei Qualifikationen besitzen, eine staatsrechtliche und eine ethische. In staatsrechtlicher Hinsicht muss er um seiner Legitimität willen mit der Gesamtheit der Bürger identisch sein, denn nur dann sind Gesetze gültige Gesetze, wenn sie auf einer Versammlung aller Bürger beschlossen worden sind. In

ethischer Hinsicht muss er zuverlässig den Gemeinwillen zum Ausdruck bringen. Nur Gesetze, die als Gesetze des Gemeinwillens gelten können, sind gerecht und Ausdruck der Freiheit. Unglücklicherweise folgt die zweite Qualifikation nicht aus der ersten. Staatsrechtliche Legitimität impliziert nicht Gerechtigkeit. Direkt-demokratische Gesetzgebung garantiert nicht die Herrschaft des Allgemeinwillens. Gültige Gesetze sind nicht immer auch schon gerechte Gesetze. Da aber erst die Herrschaft des Allgemeinwillens die starke Autonomiebedingung erfüllt, an die Rousseau legitime Herrschaft und gelingende Vergesellschaftung bindet, muss sich Rousseau Gedanken darüber machen, wie sichergestellt werden kann, dass die gesetzgeberische Allgemeinheit auch wirklich dem Gemeinwohl dienlich ist und nur Gesetze erlässt, die als Selbstbestimmung der Gemeinschaft betrachtet werden können. Seine Lösung dieses Problems ist der Legislateur.
Rousseaus politische Philosophie kennt also zwei Gesetzgeber: einmal den formal-staatsrechtlichen Gesetzgeber, der durch die Assoziationslogik des Gesellschaftsvertrags definiert ist; zum anderen den Legislateur, der dafür sorgt, dass der formal-staatsrechtliche Gesetzgeber genau die Einstellung in sich ausbildet, genau die Dispositionen und Tugenden besitzt, die erforderlich sind, damit er das demokratische Gesetzgebungsverfahren nicht für seine Partikularinteressen missbraucht, sondern als Ermittlung und Durchsetzung des Allgemeinwillens und Gemeinwohls verwendet. Der Legislateur sorgt durch sein Erziehungswerk dafür, dass der zur Gesetzgebung berechtigte Bürger über die notwendige legislatorische Kompetenz verfügt. Und er verfügt über die notwendige legislatorische Kompetenz, wenn er sein Denken, Fühlen und Handeln am Gemeinwohl ausrichtet, wenn er gemeinwohlfähig ist. Gemeinwohlfähigkeit erreicht er durch Versittlichung; der Versittlichte lässt sein Handeln nicht durch sein Eigeninteresse dominieren; er hat sein Eigeninteresse durch das Gemeininteresse überformt, er wird - im Idealfall - das Gemeininteresse als Eigeninteresse auffassen. Damit verschaffen ihm gemeinwohlförderliche Aktivitäten die Befriedigung, die dem Egoisten nutzenmehrende Strategien bringen.
Die Menschen, wie sie sind, und die Menschen, wie sie sein sollen
„Wenn es gut ist zu wissen, wie man die Menschen, wie sie sind, verwenden kann, so ist es noch besser, sie so zu formen, wie man sie braucht; die unwiderstehlichste Autorität ist die, die bis ins Innere des Menschen dringt und den Willen nicht weniger als die Handlungen beeinflusst."133 Als er sich daranmachte, „für die Gesellschaftsordnung eine legitime und sichere Verfassung" zu suchen, wollte Rousseau die Menschen nehmen, wie sie sind (III, 351; 59). Diese programmatische Absicht muss er jedoch aufgeben, sobald er sich der Verwirklichungsfrage zuwendet. Denn mit den Menschen, wie sie sind, ist die Republik nicht zu machen, die er als einzig legitime, als einzig freiheitsbewahrende Vergesellschaftungsform entwickelt hat. Die Rousseau'sche Republik müsste sich selbst voraussetzen, um überhaupt entstehen zu können. Rousseau wusste das. „Damit ein Volk, das erst entsteht, Freude an gesunden politischen Maximen hat und den Grundregeln der Staatsvernunft folgt, müsste die Wirkung zur Ursache werden. Der Gemeinschaftsgeist, der das Werk der Verfassung sein soll, müsste schon vor den Gesetzen das sein, was er durch sie erst werden soll. Die Menschen müssten schon vor den Gesetzen das sein, was sie durch sie erst werden sollen" (II.7; 383; 102). Daher stellt sich die dringende Frage, wie die Menschen zu dem gemacht werden können, was sie sein müssen, damit die Republik der Freiheit Wirklichkeit werden kann. Welches Veränderungspensum muss von ihnen verlangt werden, damit die Gemeinwohlorientierung ihr Denken, Fühlen und Handeln zuverlässig ausrichtet? Welche Maßnahmen muss der Gesetzgeber ergreifen, welche Erziehungsmittel muss er einsetzen? Und vor allem auch: Welche Eigenschaften muss der Gesetzgeber selbst besitzen, um erfolgreich diese Verwandlung in den Menschen vornehmen zu können?
Wie geht Rousseaus Gegenspieler das Problem der Vertragsverwirklichung an? Nimmt der neuzeitliche Kontraktualismus die Menschen, wie sie sind? Der Kommunitarismus wird nicht müde, allen Spielarten des Liberalismus vorzuwerfen, dass sie ihren Vorstellungen gesellschaftlicher Wohlge- ordnetheit ein völlig verfehltes Menschenbild zugrunde legen.134 Natürlich sind die Menschen, die die kontraktualistischen Entscheidungsszenarien bevölkern, allesamt Konstrukte. Menschen sind keine Sozialatome, keine geschichtslosen Nutzenmaximierer von geradezu monadischer Selbstzen- triertheit. Aber es geht Rousseau nicht um das Problem der deskriptiven Angemessenheit der politischen Anthropologie. Im Gegenteil: Im Gegensatz zu den heutigen Kommunitaristen ist er der Meinung, dass die atomis- tische Anthropologie des neuzeitlichen Kontraktualismus ein durchaus zutreffendes Bild von den zeitgenössischen Menschen zeichnet, dass in den individualistischen Sozialmodellen von Hobbes und Locke ein genaues Bild des zeitgenössischen gesellschaftlichen Menschen gezeichnet wird. Genau darum konnte er ja auch den Kontraktualismus in seinem geschichtsphilosophischen Diskurs ideologiekritisch entlarven und als begriffliches Spiegelbild einer durch partikulare Interessen zerrissenen, nur durch despotische Politik zusammengehaltenen Gesellschaft charakterisieren. In der Tat nimmt der neuzeitliche Kontraktualismus den Menschen so, wie er ist. Hinter der rationalitätstheoretischen Modellkonstruktion des Vertrags steckt das neuzeitliche Individuum. Und seine rechtsförmigen Ordnungsmodelle, seine Idee einer Befriedung der Gesellschaft durch handlungskoordinierende Gesetze sind genau auf dieses Individuum zugeschnitten.
Kant hat in seiner Friedensschrift gemeint, dass das „Problem der Staatserrichtung ... selbst für ein Volk von Teufeln ... auflösbar" sei, „wenn sie nur Verstand haben"135, und mit diesem drastischen Bild der grundlegenden Überzeugung des Liberalismus einprägsamen Ausdruck gegeben, dass alle erforderlichen sozialen Integrationsaufwendungen aus dem motivationalen Fond des aufgeklärten Eigeninteresses bestritten werden könnten, dass die rechtlichen Ordnungsnormen des Liberalismus zur Sicherung ihrer Wirklichkeit, Stabilität und Kontinuität nicht mehr als Klugheit und reflektiertes Selbstinteresse verlangten. Der durch erzwingbares Recht geordnete soziale Friede ist eine allgemeine Vorteilsdistribution, und um sich den Bedingungen zu unterwerfen, die die Wirklichkeit dieser für jedermann vorteilhaften Ordnung garantiert und ihre Aushöhlung durch freerider-Parasitismus verhindert, ist keinerlei moralische Disziplinierung, kein Gemeinsinn, keine Tugendhaftigkeit der Bürger vonnöten. Das Integrationsprogramm des Liberalismus basiert auf einem motivationalen Exter- nalismus, der alle Disziplinierungskosten dem rationalen Zusammenspiel von zwangsbewehrter Rahmenordnung, Anreizsystem und strategischer Anpassung überträgt. Mit großer Genugtuung haben frühe liberale Denker die politische Gemeinschaftsordnung mit privatrechtlich organisierten Wirtschaftsbetrieben verglichen: Bei Assekuranzanstalten, Rechtsversicherungsorganisationen und Aktiengesellschaften bedarf es keiner Tugend, nur kluger Interessenverwaltung.
Der dogmatische Liberalismus glaubt an die konstruktive Kraft des reflektierten Interesses, an die produktive List des sich selbst bindenden Egoismus; er ist davon überzeugt, dass er keiner Tugend bedarf. Sein alle Disziplinierungsanstrengungen externalisierendes rationales Ordnungsarrangement entspricht genau dem staatlichen Maschinenwerk, das nach Montesquieus Überzeugung besonders in der Monarchie perfekt zur Sicherung des inneren Friedens gehandhabt wird: der Staat als zugleich Befreier und Meister der Interessen.
„In den Monarchien bringt die Politik die wichtigen Dinge mit so wenig wie möglich Tilgend zuwege. Ähnlich besteht bei schönen Maschinen die Kunst gerade darin, so wenig wie möglich Triebwerk, Energie und Räder zu verwenden. Der Staat behauptet sich unabhängig von Vaterlandsliebe, echter Ruhmesbegier, Selbstüberwindung, Opferung der Lieblingsinteressen und allen jenen heroischen Tugenden, denen wir bei den Alten begegnen, während wir davon lediglich haben reden hören. Die Gesetze treten hier an die Stelle all jener Tugenden, deren man nicht mehr bedarf. Deren enthebt euch der Staat."136
Genauso wie Rousseau davon überzeugt war, dass sich seine Vorstellungen einer Republik kollektiver Autonomie mit den Mitteln der kontrak-

tualistischen Konzeption begrifflich fassen lassen, hat er auch gemeint, in seiner politischen Philosophie mit dem gleichen anthropologischen Personal auskommen zu können, auf das auch die Philosophen Hobbes und Locke zurückgegriffen haben. Beides hat sich als Irrtum erwiesen. Den ersten Irrtum hat er nicht erkannt; den zweiten Irrtum hat er aufwendig korrigiert. Je weiter das Unternehmen, die Republik in die Form eines Vertragsstaats zu gießen, voranschritt, umso mehr veränderte der Vertrag unterschwellig seine Natur, umso mehr verlor er seine kategoriale Gestalt und verwandelte sich in eine Metapher. Und nachdem die republikanische Gemeinschaft dann entwickelt war, musste Rousseau eingestehen, dass sie nach Bewohnern verlangt, die mit den Naturzustandsbewohnern und kompetitiven Individualisten moderner Gesellschaften nichts gemein haben. Damit bleibt Rousseau nur folgende Alternative: entweder zuzugeben, dass seine politische Philosophie nicht mehr ist als eine sich in ohnmächtigem Trotz gegen die Zeit stellende republikanische Träumerei, oder Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Menschen, wie sie sind, zu Menschen gemacht werden können, wie sie sein sollen und um der Konstitution und Fortentwicklung der Republik willen sein müssen. Am Ende dieser ganzen Anstrengungen, aus den Menschen Bürger, Republikaner und Patrioten zu machen, wird sich freilich herausstellen, dass all die unterschiedlichen Lehrstücke, die sich zu einer umfassenden Republikanisierungslektion verbinden, das Lehrstück vom Gesetzgeber, von der Zivilreligion und von der sozio-ökonomischen Immobilität, doch nichts anderes sind als ein umwe- gig-aufwendiges Geständnis, statt einer wirklichkeitstauglichen politischen Philosophie einen republikanischen Traum verfasst zu haben, denn all diese Bedingungen sind ihrerseits nicht minder unwahrscheinlich, nicht minder unzeitig als die Republik der volonte generale selbst.
Der „Legislateur"
„Um die dem Wohl der Völker am besten dienenden Prinzipien der Gesellschaftseinrichtung zu finden, bedürfte es eines überragenden Geistes, der alle menschlichen Leidenschaften kennt und selbst keiner unterworfen ist, der keinerlei Beziehung zu unserer Natur hat und sie dennoch von Grund auf kennt; dessen Glück von uns unabhängig ist und der sich dennoch um unser Glück kümmert; der auf späten Ruhm wartet und in einem Jahrhundert arbeitet, um in einem anderen die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Götter brauchte es, um Menschen Gesetze zu geben [...] Wer es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, muss sich imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jeden Einzelnen, der ein in sich abgeschlossenes und selbstständiges Ganzes ist, in einen Teil eines größeren Ganzen umzuschaffen, von dem dieses Einzelwesen gewissermaßen erst Leben und Dasein empfängt, die Beschaffenheit des Menschen zu ändern137, um sie zu verstärken; eine anteilig-abhängige und moralische Existenzweise an die Stelle einer natürlichen und unabhängigen Lebensweise zu setzen. Mit einem Wort, er muss dem Menschen seine eigenen Kräfte nehmen, um ihm andere zu geben, die ihm fremd sind, und die er, ohne den Beistand der anderen, nicht zu nutzen versteht. Je mehr diese naturgegebenen Kräfte absterben und vernichtet werden und je größer und dauerhafter die erworbenen sind, desto stabiler und vollkommener ist auch die Verfassung" (IL7; 381 f.; 99f.).
Dieses Veränderungsprogramm ist uns bereits bei der Vorstellung des Kontrakts begegnet. Das, was nach Rousseau der Vertrag eigentlich bedeutet, nämlich eine Umwandlung der Natur des Menschen vom biologischen Gattungswesen zum Sozialwesen, vom Naturwesen zum Moralwesen, vom selbstständigen, für sich seienden Individuum zum integrierten und abhängigen Gemeinschaftsmenschen, was aber mit den Begriffsmitteln des Kon- traktualismus gar nicht dargestellt werden kann, da es mit der rechtfertigungstheoretischen Natur des Vertragsarguments nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, all das wird jetzt noch einmal aufgenommen. Die Mensch- und Bürgerwerdung erweist sich als Voraussetzung gelingender Vergesellschaftung, als Voraussetzung gesellschaftlicher Selbstregierung. Aber diese muss in einem zweiten Anlauf noch einmal thematisiert werden. Das Vertragsargument ist durch den bekannten Einwand, dass doch Staaten in der Regel nicht durch vertragliche Vereinigungen entstanden sind, nicht zu Fall zu bringen. Denn es vertritt ja keine deskriptive These über Staatsentstehungen, sondern eine normative, die die vorliegenden Herrschaftsverhältnisse unter Legitimationsdruck setzt und sie mit der Verpflichtung konfrontiert, die Herrschaft so auszuüben, dass sie den Interessen, Rechten, Zielen und Zwecken, die sich in der gewählten Form des Vertragsarguments als leitend erweisen, gerecht wird. Aber diese Möglichkeit ist Rousseau verschlossen. Sein Assoziationsvertrag ist so geartet, dass er nicht zu einem normativen Argument kondensiert werden kann, das an vorfindliche Herrschaftsorganisationen gerichtet ist. Sondern es verlangt eine bestimmte Herrschaftsorganisation, nämlich die bürgerschaft- liche Selbstregierung.
Damit ist ein doppeltes Verwirklichungsproblem verknüpft. Zum einen muss gefordert werden, dass die vorhandene Herrschaftsstruktur verschwindet und bürgerlicher Selbstregierung Platz macht. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass die Bürger die Selbstregierungschance auch angemessen nutzen können. Denn mit einer Machtübernahme der Bürger ist der republikanische Traum Rousseaus noch lange nicht Wirklichkeit geworden. Wenn die Bürger nicht Patrioten, Gemeinschaftsmen- sehen sind, sondern liberale Individuen, dann kommt bestenfalls eine pluralistische Demokratie zustande, in der die einzelnen Interessen sich organisieren und das Wahlvolk zur Unterstützung zu gewinnen versuchen, aber nicht eine Republik der Freiheit, in der ausschließlich der Gemeinwille herrscht und kein Privatwille die Chance bekommt, sich der politischen Macht zu bemächtigen.
Merkwürdigerweise hat Rousseau sich ausschließlich dem zweiten - und logisch nachgeordneten - Verwirklichungsproblem zugewandt. Wie die vorfindlichen Herrschaftsverhältnisse so verändert werden können, dass die herrschaftsstrukturelle Neuerung wirksam werden kann, die die Etablierung einer Republik verlangt, hat er nicht weiter untersucht - als ob es Raum für politische Neugründungen im Überfluss gäbe. Das hat zur Konsequenz, dass es Rousseaus politische Philosophie selbst mit ihrer Verwirklichungsdiskussion nicht gelingt, mit der politischen Wirklichkeit in Kontakt zu treten und sich an die vorfindliche Staatenwelt anzuschließen, um in sie verändernd eingreifen zu können. Normalerweise wendet sich die politische Philosophie den Problemen der Verwirklichung ihrer normativen Entwürfe zu, um die Differenz zwischen dem Sein und dem Sollen zu mindern, entweder revolutionär, indem sie dazu auffordert, dass das Sollen gewaltsam sein neues Sein an die Stelle des alten, abgelebten Seins setzt, oder evolutionär, indem sie zeigt, dass das Sollen mit der Vernunft des Gegebenen Gewinn bringend kooperieren kann, oder darauf hinweist, dass das Sollen langfristig siegen wird, dass es die Geschichte auf seiner Seite hat. Rousseaus Verwirklichungsdiskussion hingegen folgt diesem Muster nicht. Da sie das erste Verwirklichungsproblem ausspart, verlässt sie die Grenzen des Utopischen nicht. Sie erweitert nur die Legitimationsutopie durch eine Verwirklichungsutopie. Um überhaupt eine herrschaftsstrukturelle Nische zu haben, in der die Republik der Freiheit aufblühen kann, muss die Verwirklichungsutopie eine Oase der Staatsfreiheit, einen politisch herrenlosen Raum unterstellen. In diesem Niemandsland finden sich Menschen, wie wir sie kennen. Sie besitzen nicht die erforderliche charakterliche Beschaffenheit, die eine erfolgreiche Republikgründung verlangt. Sollten sie sich unvorbereitet an die schwierige Aufgabe der Selbstgesetzgebung machen, würden sie scheitern. Sie können nicht aus eigener Kraft eine Herrschaft des Gemeinwillens errichten. Es bedarf fremden Bestandes, es bedarf der Unterstützung durch einen Legislateur.
Im Verwirklichungsdiskurs begegnet uns ein Szenario, das sich kaum vom Naturzustandshintergrund des Legitimationsdiskurses unterscheidet. In beiden Fällen haben wir es mit einem vorpolitischen Zustand zu tun; in beiden Fällen geht es um die Frage der Verwirklichung der Republik. Der erste Diskurs, der Legitimationsdiskurs, erzählt die Verwirklichungsgeschichte als kontraktualistische Entstehungsgeschichte; der zweite Diskurs erzählt die Verwirklichungsgeschichte als Mythos vom Legislateur. Beide Darstellungen verstehen sich ausdrücklich als Darstellung eines anthropologischen Verwandlungsprozesses, in dem das humanbiologische Naturwesen einer ethisch-politischen Formierung unterworfen wird; es kommt zu Vernunft, vermag seine menschlichen Qualitäten zu entfalten und wird zum Bürger. Ansonsten jedoch könnten die beiden Diskurse verschiedener nicht sein: Während der Legitimationsdiskurs aufgrund seiner kontraktualistischen Begrifflichkeit die Konstitution der Republik als kollektiv-autonomen Akt darstellt, wird die Republik im Mythos vom Legislateur zu einer heteronomen Stiftung, die sich die Bürger nachträglich aneignen, zu Eigen machen müssen.
Geschichte und „Legislateur"
Kant legt die Verwirklichung der Rechtsvernunft in die Hände der Geschichte. Die Geschichte wird von ihm als Rechtsfortschritt gedeutet, als progressive Verwirklichung eines verborgenen Vorhabens der Natur, das inhaltlich mit der von der Rechtsvernunft verordneten Errichtung einer Republik und eines internationalen Friedenszustandes zusammenfällt. Die Mittel, deren sich die Natur bei der Ausführung ihres heimlichen vernunftfreundlichen Planes bedient, sind die menschliche Naturausstattung und die natürlichen Lebensbedingungen der menschlichen Gattung, sind insbesondere der Egoismus, die Unfriedlichkeit und die Aggressivität der Menschen. Diese Ursachen der Ungeselligkeit werden durch die Dialektik der Natur hinter dem Rücken der Individuen in Produktivkräfte der Vergesellschaftung verwandelt. Der Fortschritt der Geschichte basiert auf listig abgenötigter, gleichsam anonym entstandener Vernünftigkeit.
„Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d. i. sie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muss, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können."138
Die Geschichte erscheint hier als ein sich sukzessiv selbst befriedender Naturzustand Hobbes'scher Provenienz, der aus sich selbst heraus die Vertragswirkungen hervortreibt, ohne dass die Menschen die Verträge schließen würden. Ja, man möchte meinen, dass eine möglichst bornierte Unvernünftigkeit der Menschen seitens der Naturabsicht erwünscht sein mag, da so ihr listiger Dienst an der Vernunft erfolgreicher sein kann, als wenn linkische Anflüge menschlicher Vernünftigkeit sich störend einmischen würden. Damit wäre aus geschichtsphilosophischer Perspektive die Sache der Vernunft am besten bei der Natur aufgehoben. Rousseau ist dieser kantische Weg gleich doppelt versperrt. Zum einen kann er nicht auf die Vergesellschaftungseffekte der Natur setzen: die natürlichen Ungeselligkeitseigenschaften und die strategische Vernunft der Individuen mögen als umwegige Ursache eines liberalen Rechtsstaats dienen können; eine Republik des Gemeinwohls können sie jedoch nicht erzeugen. Die Republik verlangt eine anspruchsvollere anthropologische Basis. Sie verlangt Bürger, und Bürger vermag der kantische geschichtsphilosophische Zwitter aus Natur und Vorsehung nicht zu produzieren. Zum anderen ist für Rousseau die Geschichte vergiftet. Ihr kann die Sache der Republik nicht anvertraut werden. Rousseau vermag Kants Geschichtsoptimismus nicht zu teilen. Dort, wo Kant Spuren des Rechtsfortschritts sieht, erblickt Rousseau Niedergang, wachsende Unfreiheit, wachsende Ungleichheit, wachsende Ungerechtigkeit. Darum hat er die Republik gegen die mit der geschichtlichen Entwicklung deutlich verbündeten liberalen Ordnungsformen in Stellung gebracht. Ihre Verwirklichung kann daher nicht den gleichen Ursachen übertragen werden, die den liberalen Rechtsstaat bewirken. An die Stelle der Geschichte tritt der Legislateur.
Gemeinsam ist beiden, der kantischen Geschichte und dem Rousseau'- schen Legislateur, dass die von ihnen getragene Normverwirklichung radikal heteronom ist. Sowohl bei Rousseau als auch bei Kant steht eine radikal autonome Handlung im Zentrum der normativen Begründungsargumentation, denn Rousseau - und ihm folgend Kant - verwenden das Modell der vertraglichen Assoziation ja zugleich auch als Modell der Selbstkonstitution des Volkes, der legitimen Herrschaft und der gerechten Herrschaftsausübung. Deswegen kann man getrost sagen, dass die dem kontraktualistischen Legitimationsargument innewohnende Autonomiestruktur bei Rousseau und Kant eine unüberbietbar radikale Ausprägung erhält. Dieser radikalen Fassung des Autonomiegedankens im Legitimationsdiskurs korrespondiert bei beiden aber auch eine radikal heteronome Lösung des Verwirklichungsproblems. Was könnte heteronomer sein als die unsichtbare Hand der Geschichte, die hinter dem Rücken der modernen Individuen ihre Ungeselligkeit für sie verwendet? Was könnte heteronomer sein als der übermenschliche Legislateur und demiurgische Menschenformer, dem Rousseau die sittliche und politische Erziehung der Menschen ans Herz legt?
Auch Hegels Konzept der Geschichtsphilosophie wirft kein Licht auf den Rousseau'schen Legislateur. Der Gesetzgeber ist kein „welthistorisches Individuum", kein „Geschäftsführer des Weltgeistes".139 Sicherlich, er muss wie die HegePschen Heroen ein Genie des Partikularen sein, muss ein Gespür dafür haben, „was not und was an der Zeit ist". Wie jeder Demiurg muss er materialkundig sein, und die Geschichtlichkeit ist ein Bestandteil des menschlichen Materials. Aber die welthistorischen Individuen Hegels bringen die Geschichte nur darum voran, weil sie von dem Dämon ihres Ehrgeizes getrieben werden; sie haben keine Mission, keinen moralischen Auftrag; jede soteriologische Attitüde ist ihnen fremd. „Große Menschen haben gewollt, um sich, nicht um andere zu befriedigen." Im Treiben der großen Individuen waltet dieselbe Geschichtslist, die sich auch bei Kant der Borniertheit der Menschen bedient, um die Menschheit voranzubringen. Der Legislateur ist jedoch nicht Bestandteil eines Planes, er ist der Planer. Geschichte handelt nicht durch ihn hindurch, sondern er prägt die Geschichte. Er ist nicht Geschäftsführer des Weltgeistes, sondern Geschäftsführer des Gemeinwohls.
Die Figur des Gesetzgebers bei Machiavelli
Die Vorstellung einer politischen Selbstkonstitution einer Menschenmenge, die den Kern des Kontraktualismus bildet, ist dem politischen Denken der Antike fremd. Sie hat statt des Vertrages die Figur des Gesetzgebers, des Religionsstifters entwickelt, ein empirisch-mythologisches Doppelwesen, das eine Menge ungebändigter Individuen unter einen Willen, unter ein Gesetz, unter einen Gott zwingt. Der Gesetzgeber ist dem Demiurgen nachgebildet, der die Welt als einheitliches Werk geschaffen hat. Er ist ein irdischer Demiurg, ein deus mortalis, der mit dem vorfindlichen Menschenmaterial arbeitet, es formt, gestaltet. Sein politisches Bildungswerk gipfelt in einer Verfassung, deren stabilitätspolitische und charakterbildende Qualität sich darin zeigt, dass sich das Volk unter ihrem Regiment von dem Nomotheten zu emanzipieren vermag und sein politisches Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen lernt.
Die Figur des Gesetzgebers findet ihre eindrucksvollste Darstellung in den Schriften Machiavellis. Machiavelli ist freilich kein politischer Philosoph, sondern ein politischer Schriftsteller.140 Er ist nicht an den Prinzipien des Staatsrechts interessiert, sondern an den Gesetzen der Macht. Er entwickelt keine normative Politiktheorie, sondern eine politische Handlungslehre, die den Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen des politischen Handelns nachgeht. Gleichwohl gibt es eine interessante Gemeinsamkeit zwischen seiner politischen Praxeologie und den normativen Konzeptionen des neuzeitlichen Kontraktualismus. Machiavelli und die Kontraktualisten haben beide ein krisengeprägtes Politikverständnis; ihre Aufmerksamkeit gilt nicht der Normalität, der pragmatischen Prosa der konfliktfreien Kon- tinuierung, sondern der Krise und der dramatischen Krisenüberwindung. Die Krise ist für beide der archetypische Ort der Politikentstehung; und die Ordnungsstiftung, die krisenüberwindende Erneuerung gilt als die archetypische politische Handlung, als die politische Handlung kat' exochen.
Im Kontext der kontraktualistischen Konzeption wird das Krisenprofil durch den Naturzustand bestimmt; der Naturzustand ist die radikalste Ausprägung der Krise, denn er wird durch die Abwesenheit aller politischen Sicherungsleistungen definiert. Und die politische Urhandlung ist die Staatsgründung. Machiavellis Krisenkonzept entstammt hingegen nicht der Theorie, sondern der Erfahrung: ein Gemeinwesen zerfällt, ein Herrschaftsgefüge bricht zusammen, eine Ordnung zerbricht. Eine Wiederherstellung der alten Gesetze ist nicht mehr möglich, weil der Verfall zu weit fortgeschritten ist, weil keine tragfähigen Fundamente mehr vorhanden sind. Auch kann mit den vorhandenen Menschen keine Ordnung aufgebaut werden. Sie sind verdorben, korrupt. Es ist nötig, von Grund auf neu anzufangen; und dieser Neuanfang muss mit der Formierung der Menschen beginnen.
Die politische Erneuerung - und hier treten die politischen Urhandlungen Machiavellis und der Kontraktualisten auseinander - ist aber notwendig das Werk eines Einzelnen, einer großen Persönlichkeit, eines Mannes, der in einem außergewöhnlichen Maße über politische Tüchtigkeit, über virtü verfügt, eines uomo virtuoso, denn „viele Köpfe sind nicht dazu geeignet, Ordnung in ein Staatswesen zu bringen"141. Gleichgültig, ob die politische Notlage durch einen inneren Zerfall des Gemeinwesens hervorgerufen wurde oder durch einen verlorenen Krieg oder durch den Einfall fremder Mächte entstanden ist, das Volk kann sich nicht selbst aus seinem Elend befreien, kann sich nicht selbst institutionell bändigen und politisch formen. Es bedarf der charismatischen Führerpersönlichkeit, die es anfangs streng zur Ordnung ruft und dann durch eigenes Beispiel politisch erzieht. Aber wie das heruntergekommene Gemeinwesen das hervorragende Individuum braucht, um sich aufrichten zu können, so benötigt der uomo virtuoso ein politisches und sittliches Trümmerfeld, um sein politisches Genie, seinen Machtwillen und seine konstruktive Begabung am besten entfalten und Ruhm bringend verwenden zu können. „Wenn ein Herrscher nach Weltruhm strebt, so müsste er wünschen, die Regierung in einem zerrütteten Staatswesen zu übernehmen, nicht um dieses vollends zugrunde zu richten wie Cäsar, sondern um es neu zu ordnen wie Romulus."142
Der uomo virtuoso ist politischer Erneuerer, Ordnungsstifter, Gesetzgeber und politischer Erzieher durch Beispiel und Tat. Er nähert sich den Menschen, wie sich ein Künstler seinem Material nähert; er ist eine den Menschen äußere, sie formende Kraft. Wie Rousseaus Legislateur ist er ein gottgleicher Schöpfer ihrer zweiten, politischen Natur. Die Menschen sind, wie Machiavelli selbst im Principe sagt, „leblose Materie", die er nach seinen Ordnungsvorstellungen formt und politisch belebt, indem er ihnen seinen Odem einhaucht, seine virtü einflößt. Er befriedet und ordnet das Gemeinwesen, indem er mit „unumschränkter und außerordentlicher Macht den übermäßigen Ehrgeiz und die Verderbtheit der Mächtigen bändigt", und erweckt dann in den Menschen virtü und politische Gesinnung.143 Er zeichnet sich nicht nur durch die Fähigkeit zur rücksichtslosen Konsequenz bei der Gewinnung und ordnungspolitischen Verwendung der Machtmittel aus, er muss auch nomothetische Kompetenz und verfassungspolitische Phantasie beweisen. Außergewöhnlich ist an ihm aber vor allem, dass er selbst mit der institutionellen Befestigung der Herrschaftsordnung die uneingeschränkte Macht der Anfangsphase durch konstitutionelle Formen bindet, sie als Ausnahmesituation begreift, die der politischen Normalität des durch Gesetze, Einrichtungen und Bürgersinn stabilisierten Gemeinwesens weichen muss.
Im uomo virtuoso sind alle praxeologischen Tugenden, alle erfolgssichernden Eigenschaften in hervorragendem Maß ausgebildet. Er vereint Tatkraft, Situationsgespür, Entscheidungsfreudigkeit, Hartnäckigkeit, Konsequenz, Augenmaß, Zuversicht, Klugheit und Handlungsrationalität zu dem unwiderstehlichen Charakter des Siegers. Aber diese Ansammlung von Fähigkeiten macht ihn noch nicht zum politischen Innovator; auch nicht der von Machiavelli allen großen historischen Persönlichkeiten zugeschriebene Ehrgeiz nach Tatenruhm und geschichtlicher Größe. Alle diese Eigenschaften sind für ein Gelingen seines politischen Vorhabens unverzichtbar, aber sie verleihen dem uomo virtuoso noch nicht die ihn charakterisierende Vortrefflichkeit und Vollkommenheit. Diese kommen ihm zu aufgrund seiner politischen Zielsetzung, aufgrund der leidenschaftlichen Hingabe an sein politisches Werk, aufgrund der zielstrebigen Durchsetzung seiner Vorstellung von einem wohl geordneten, sich selbst erhaltenden Gemeinwesen.
In der Krise versagt die politische Routine, die „gewöhnlichen Mittel" werden erfolglos, die „gewöhnlichen Wege" sind nicht mehr begehbar. „Man muss vielmehr zu außerordentlichen Mitteln greifen, das heißt zur Gewalt und zu den Waffen. Vor allem aber muss man die unumschränkte Macht in einem solchen Gemeinwesen bekommen, um nach seinem eigenen Urteil handeln zu können."144 Nach der Beendigung des Zustandes der Gesetzlosigkeit, nach erfolgter politischer Neuordnung muss der uomo virtuoso, muss der prudente ordinatore d'una repubblica (kluge Ordner eines Gemeinwesens) das eingerichtete Staatswesen den Menschen jedoch zurückgeben und die Macht klug auf die gesellschaftlichen Kräfte verteilen. Nur dann wird ihn sein politisches Werk überleben, wird das Gemeinwesen Festigkeit und Dauer und er geschichtlichen Ruhm gewinnen.
Der ordnungspolitische Tätigkeitsbogen des idealtypischen Innovators spannt sich also von der Herrschaft des krätos zur Herrschaft des ethos, von der Gewalt als außergewöhnlichem Machtmittel in Krisenzeiten bis zu den machtkontrollierenden republikanischen Institutionen, den buoni or- dini. Ziel ist es, die geschaffene Ordnung so zu befestigen, dass sie selbsterhaltungsfähig wird. Für Machiavelli führt die politische Verbesserung eines Gemeinwesens von der Fremderhaltungsbedürftigkeit zur Selbsterhaltungsfähigkeit. Die Herrschaftsorganisation muss das Gemeinwesen von der außergewöhnlichen virtü der großen Gründerpersönlichkeit unabhängig machen. Die Verfassung muss so geartet sein, dass das Volk der Vormundschaft des Gründungsheros nicht mehr bedarf. Selbsterhaltungsfähig sind für Machiavelli in höchstem Maß Republiken, darum gibt er ihnen den Vorzug vor anderen Formen der Herrschaftsorganisation. In der Fähigkeit, ein Gemeinwesen republikfähig zu machen, manifestiert sich die innovatorische Qualität eines uomo virtuoso. Republiken sind selbstmächtig, auf Selbstkontinuierung ausgerichtet: Sie sind die objektivierte virtü ihres Gründungsheros. Die fortuna bezwingende Tüchtigkeit ihrer Gründer ist in Gestalt der von ihnen geschaffenen Gesetze und Einrichtungen einerseits und des Gemeinschaftssinns der Bürger andererseits an sie übergegangen, sodass die Republiken jetzt mit eigener Kraft und Tüchtigkeit sich gegen die Unbill des Schicksals behaupten können.
Eine Republik der Freiheit ist für Rousseau eine Republik des Allgemeinwillens, denn wenn der Allgemeinwille herrscht, dann herrscht ausschließlich das Gesetz. Kant hat diese These von dem engen Zusammenhang zwischen Allgemeinwillen, Gesetz und Freiheit aufgenommen. „Die ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt", so lautet das vernunftrechtliche republikanische Credo der Rechtslehre Kants.145 Und genau dieser Gedanke klingt auch in Machiavellis republikanischem Credo an. Im 4. Buch der Geschichte von Florenz heißt es:
„Wenn es einmal geschieht, was freilich selten der Fall ist, dass zum Glück einer [...] Stadt ein weiser, guter, einflussreicher Bürger aufsteht und Gesetze erlässt, die solchen Unfrieden zwischen Adel und Volk beilegen oder so lenken, dass kein Übel von ihnen kommen mag: dann wahrlich kann eine Stadt frei genannt, eine Verfassung für wohlbegründet erachtet werden. Denn wenn sie auf gute Gesetze sich stütze und auf eine gute Verfassung, bedarf sie nicht gleich andern der Kraft und Tugend eines Einzelnen, sich zu erhalten."146
Ein so ausgezeichneter, politisch tüchtiger und nomothetisch begabter Mann ist selten, muss er doch gewöhnlich einander ausschließende Persönlichkeitsmerkmale, Charakterzüge und Fähigkeiten in sich vereinigen, muss er zugleich zu machtpolitischer Rücksichtslosigkeit fähig sein und eine feste konstitutionalistische Gesinnung besitzen, die durch keine erhaltungsnotwendige Schändlichkeit beschädigt werden kann. Er muss, wie Machiavelli mit entwaffnender Einfachheit und Offenheit sagt, zugleich gut und böse sein, sowohl zu skrupellosem Machterwerb als auch zu politisch konstruktiver Machtverwendung und letztlich zum Machtverzicht in der Lage sein. Nicht jeder, der sich in der Krise uneingeschränkte Macht zu verschaffen weiß, taugt zum Innovator, besitzt die spezifische Selbstlosigkeit, die nur aus der leidenschaftlichen Verfolgung des politischen Ziels erwächst und die ebenso selbstverständlich die individuelle moralische Integrität opfert, wenn die politische Klugheit Verwerfliches verlangt, wie auf die absolute Macht zugunsten der Einrichtung eines selbsterhaltungsfähigen Gemeinwesens verzichtet, wenn es an der Zeit und politisch geboten ist.
Die Ordnungsstifter und Gesetzgeber sind für Machiavelli die Heroen der Politik. Und es sind Sternstunden der Geschichte, wenn aus dem Zusammentreffen von virtü und Gelegenheit, einer großen individuellen Befähigung zur Politik und einer gesellschaftlichen Elendssituation, ein dauerhaftes und ruhmvolles politisches Werk entsteht, eine Ordnung, in die das politische Leben zurückkehren kann. Kein Mann wird „wegen irgendeiner Handlung so sehr gepriesen als es die werden, welche durch Gesetze und Einrichtungen die Republiken und Reiche reformiert haben. Diese Männer sind nächst den zu Göttern Erhobenen, den zuerst Gelobten. Da es aber wenige gibt, die es zu tun Gelegenheit hatten, und sehr wenige, die es zu tun verstanden, so ist die Zahl derer klein, die es taten."147
Es ist nicht verwunderlich, dass Machiavelli die erzieherische, die Menschen in Gemeinschaftswesen transformierende Tätigkeit des uomo virtuoso nicht erläutert. Die von einer charismatischen Herrscherpersönlichkeit und ihren nomothetischen Leistungen ausgehende Politisierungswirkung hat den theoretischen Status eines Postulats, das die Hoffnungen des Republikaners Machiavelli reflektiert. Mit ihm wird die Kluft zwischen der gewaltsam durchgesetzten Ordnung und der selbsterhaltungsfähigen Gemeinschaft der Bürger überbrückt. Dieser Politisierungsvorgang liegt auch jenseits der Reichweite Machiavelli'scher Politikberatung. Machiavelli hat immer wieder betont, dass den Staatengründern und Gesetzgebern der größte Ruhm gebührt, denen es gelingt, eine politische Bürgergemeinschaft zu formen; aber dieses, den zweiten Tätigkeitsbereich des uomo virtuoso definierende Republikanisierungsziel ist nicht in dem Maße operationalisierbar und pragmatisch aufzuklären, wie es das erste Tätigkeitsfeld der Ordnungsstiftung, das Ziel der politischen Selbstbehauptung des Herrschers ist. Machiavellis Politikberatung bezieht sich daher nur auf die ordnungspolitischen Anfänge der Karriere des uomo virtuoso. Ihr Adressat ist der neue Herrscher, der principe nuovo, dessen vordringliches Interesse darauf geht, sich an der Macht zu halten und seine neu errichtete Herrschaft zu festigen. Ihm hat Machiavelli seinen Principe auf den Leib geschrieben. Ihm soll die neue pragmatische, sich von moralischen Auflagen befreiende Lehre vom politischen Handeln dienen, die Machiavelli in diesem Buch entwickelt.148 Ob jedoch der von ihm mit viel nützlichem herrschaftstechnischen Wissen ausgestattete principe nuovo das Format eines politischen Menschenformers hat und langfristig die Transformation in die Republik ansteuert oder zeitlebens in den machtpolitischen „Niederungen des Romulus" verbleibt und sich im Geschäft der politischen Selbstbehauptung verschleißt, steht dahin.
Machtlosigkeit und ethische Exzellenz
Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Machiavelli'- schen Gründungsheros und dem Rousseau'schen Legislateur. Rousseaus Gesetzgeber strebt nicht nach Macht und besitzt keine Macht. Er befriedet nicht den Naturzustand mit unwiderstehlicher Gewalt. Nicht Anarchie und Herrschaftskrise rufen ihn auf den Plan. Er ist auch keine verfassungsrechtliche Instanz. Denn es gibt nur eine Verfassung, nur ein Staatsrecht: das durch den einzig legitimen gesellschaftsvertraglichen Assoziationsakt festgelegte Prinzip der Volkssouveränität und der volonte generale. Und in dieser Verfassung ist ein Gesetzgeber von der Statur des Rousseau'schen Legislateur nicht vorgesehen. Daher wird durch sein Wirken das Prinzip der Volkssouveränität rechtlich nicht angerührt. Die Bürger behalten die uneingeschränkte Herrschaft; allein ihre Stimme entscheidet, ob ein von der Regierung vorgelegter oder in der Diskussion vorgebrachter Vorschlag Gesetzesrang bekommt. Der Legislateur tritt nicht als Herrscher und Gewalthaber auf, denn die Herrschaftsgewalt gebührt dem Volk. Ihm stehen keine Legionen und keine Bajonette zur Verfügung, um die Republik zu verwirklichen. Er geht sein Erziehungswerk ohne jede Unterstützung durch Macht oder Amt an. Er ist in die entstehende Ordnung der Republik nicht verfassungsrechtlich eingebunden; er ist ein Fremder, ein Außenseiter, der allein gewaltfrei wirkt, durch Charisma, Argument und List, eine mythische Figur, die nach erfolgreicher Verwandlung der Menschen verschwindet. Ihm fehlt daher gänzlich der politische Zuschnitt, den der Gründungsheros und Nomothet bei Machiavelli besitzt. Der Rousseau'sche Legislateur steht jenseits der Geschichte der politischen Ordnungsstiftung. Weder ist er deren Ursprung, noch deren treibende Kraft. Er ist nicht mit dem Naturzustand zwischen den Menschen befasst, sondern mit dem Naturzustand in ihrem Seelenleben. Da er seine Karriere nicht als Gewaltnehmer und politischer Gründer beginnt, muss man annehmen, dass er in einer Situation auftaucht, in der bereits eine republikanische Verfassungsordnung existiert. Seine Aufgabe ist es dann, die äußere - staatsrechtliche - Republikanisierung der politischen Herrschaftsverhältnisse durch eine innere - ethische - Republikanisierung des Fühlens, Denkens und Handelns der Bürger zu vervollständigen. Er wird so zum Geburtshelfer und Erzieher des staatsrechtlich erzeugten, politisch werdenden Volkes (peuple naissant).
Dieser göttliche Seelenformer ist Gesetzgeber im Sinne der vierten Gesetzesart der Rousseau'schen Gesetzestypologie: Sie ist die „wichtigste von allen" und wird „weder in Erz noch in Marmor, sondern in die Herzen der Bürger eingegraben" (11.12; 394; 116). Wenn die Menschen dieses Gesetz in sich tragen, dann werden sie stets gewillt sein, sich unter die Gesetze der Gemeinschaft zu stellen, dann werden sie nicht danach trachten, sich die Gesetze zu unterwerfen, sich ihrer zu bedienen. Wenn das Gesetz des Gemeinsinns in den Menschen wirksam ist, dann besteht Hoffnung auf eine dauerhafte Herrschaft der volonte generale, dann ist die Aufgabe gelöst, die nach Rousseau „über die Kräfte selbst des vollkommensten Staatsmannes geht", die so schwierig ist wie die „Quadratur des Kreises", nämlich „das Gesetz über den Menschen zu stellen".149 Der Gesetzgeber ist ein Volkserzieher, der in seinem Zögling ein Wir-Bewusstsein weckt, das moi commun der Republik. Dann ist sein Erziehungswerk vollbracht, wenn sein Zögling seiner Führung nicht mehr bedürftig ist, wenn das Volk mündig geworden ist. Wie der Machiavelli'sche Gründungsheros kann der Rousseau'sche Erzieher dann hinter sein Werk zurücktreten: das zur Selbstregierung berufene Volk ist jetzt zur Selbstregierung fähig. Der Legislates gibt den Menschen also keine Ordnung der äußeren Koexistenz, kein handlungskoordinierendes Rechtssystem, sondern eine in Verstand und Herz eingesenkte, die Menschen in Gemeinschaftswesen verwandelnde Verfassung. Durch seine TUgenderziehung werden die Menschen so geändert, dass mit ihnen genau das geschieht, was der Gesellschaftsvertrag von ihnen erwartet. Jetzt können sie als Souverän genauso agieren, wie sie es im Gesellschaftsvertrag selbst festgelegt haben. Der Gesetzgeber sichert somit den Vollzug des Gesellschaftsvertrages. Jetzt vermögen die Menschen dem ethischen Anspruch ihrer politischen Vereinigung zu genügen.
Rousseau und Schumpeter
Es ist verständlich, dass die Rousseau-Rezeption nicht nur der Diskursethik, sondern aller Demokratietheoretiker, die glauben, mit einer Prise Rousseauismus eine demokratische Qualitätsverbesserung der liberalen Massendemokratie erreichen zu können, um den Gesetzgeber einen großen Bogen gemacht hat. Denn an der „Notwendigkeit des Gesetzgebers" zerschellt der Glaube an die rationale Selbstoptimierungskraft des demokratischen Diskurses, werden alle prozeduralistischen Illusionen zuschanden, die durch eine Vermehrung plebiszitärer Elemente Politikverdrossenheit bekämpfen und dem Bürger neue Tätigkeitsanreize verschaffen wollen.
Im 21. Kapitel seines 1942 erschienenen Buches Capitalism, Socialism, and Democracy beschäftigt sich Joseph A. Schumpeter mit der „klassischen Lehre der Demokratie", die er folgendermaßen definiert: „Die demokratische Methode ist jene institutionelle Ordnung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gesamtwohl dadurch verwirklicht, dass sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden lässt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen." Diese Demokratiekonzeption stützt sich auf drei Thesen: zum einen, „dass es ein Gemeinwohl als sichtbaren Leitstern der Politik gibt, das stets einfach zu definieren und jedem normalen Menschen mittels rationaler Argumente sichtbar gemacht werden kann"; zum anderen, dass alle politischen Streitfragen sich unter Rekurs auf das Gemeinwohlkonzept verstehen und entscheiden lassen; und drittens, dass jeder Bürger sich der Verbindlichkeit dieses höchsten politischen Gutes bewusst ist, die Forderungen des Gemeinwohls in Entscheidungssituationen klar erkennt und verantwortungsbewusst an ihrer Verwirklichung teilnimmt.150
Schumpeter weist alle drei Thesen zurück. Gemeinwohl und allgemeiner Wille sind für ihn Chimären. Aber selbst wenn es das Gemeinwohl gäbe, so der zweite Einwand, könnte man mit seiner Hilfe keinesfalls alle auftauchenden Entscheidungsprobleme einvernehmlich lösen. Entsprechendes gilt, dies der dritte, konsenskritische Einwand, auch vom allgemeinen Willen: Selbst wenn dieser aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz einmal aus dem kompetitiven Interessenwirrwarr heraus ins Leben treten würde, wäre damit keinesfalls die Gewähr für die Vernünftigkeit seines Inhalts gegeben. Das Rationalitätsschema der klassischen Demokratietheorie vermag also an allen drei Punkten des idealtypischen Prozesses der Allgemeinheitsgewinnung ausgehebelt zu werden: Weder ist die Rationalität der Eingangsgrößen gesichert, der individuelle Willen der Bürger; noch kann die Rationalität des Integrationsprozesses, der politischen Willensbildung garantiert werden; und die so entstandenen Ergebnisse vermögen schon gar nicht für ihre Vernünftigkeit einzustehen.
Die Fundamentalschwierigkeit dieser Konzeption liegt in der Unerfüllbarkeit des Rationalitätsideals des Bürgers. Jeder Rationalitätsoptimismus muss angesichts des von der Geschichte aufgetürmten Gebirges menschlicher Irrationalität kleinlaut werden. Das desillusionierende Beweismaterial ist überwältigend. Mag der Mensch in seinen vertrauten privaten und beruflichen Lebenskreisen durchaus Verständigkeit zeigen, so verliert er jedoch in Mengen und Massen stets und zuverlässig seinen letzten Rest an Vernunft. Und auch dann, wenn er als Bürger nur zu allgemeinen Dingen befragt wird, beweist er selten Sachverstand und Rationalität; immer dann, wenn der Horizont kurzfristiger Vorteilssicherung überschritten werden muss, fällt er als Bundesgenosse der Vernunft aus. Schumpeter gleicht die Normalrationalität des Bürgers dem Gefühl an: beides sind Nahbereichsphänomene, beide verlieren an verlässlicher Orientierungskraft, wenn der Kreis des Vertrauten verlassen wird: je weiter das Anwendungsfeld von dem Zentrum eigener Betroffenheit entfernt ist, je weiter die kalkulierende Vernunft in die Zukunft schauen muss, um die günstigste Handlungsoption zu ermitteln, desto geringer wird die bürgerliche Geistesstärke, desto schwächer wird der Wirklichkeitssinn, der Sinn für die politische Bedeutsamkeit der Entscheidung, das politische Verantwortungsgefühl. „So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig."151
Der Bürger leistet sich im politischen Zusammenhang ein Ausmaß an Irrationalität, das er sich in seinem privaten Leben nie gestatten würde: Schumpeter spricht von „außerrationalen oder irrationalen Vorurteilen oder Trieben", von „dunklen Impulsen". Aber auch wenn den Bürger Ausbrüche „edler Entrüstung" in der Öffentlichkeit antreiben, ist damit der Vernunft keine verlässlichere Chance politischer Wirksamkeit gegeben. Eher steht zu erwarten, dass moralische Empörung die Trübung der Intelligenz noch vorantreibt und das Ausmaß an Verantwortungslosigkeit noch steigert. Eine weitere Folge der bürgerlichen Rationalitätsschwäche im Öffentlichen ist seine Instrumentalisierbarkeit durch Gruppen, Demagogen, Tribune. Der Bürger wird Material eines heteronom fabrizierten Willens. Die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Autonomie ist ihm aus natürlichen Gründen nicht möglich, denn die Natur sorgt nicht nur für ein Verblassen der emotionalen Intensität mit zunehmender sozialer Entfernung, sie begründet auch ein unausgleichbares Rationalitätsgefälle zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Der „rationalisierende Einfluss persönlicher Erfahrung und Verantwortlichkeit" verliert sich, je weiter sich die Individuen von ihren privaten Belangen entfernen, je mehr sie sich den Themen des Allgemeinen, den Interessen der Politik nähern. Der Wille des Volks ist ein Fabrikat, keine Triebkraft des politischen Prozesses; ein Fabrikat freilich, das nicht auf dem Wege rationaler Deliberation, sondern durch die Instrumente der Willenssteuerung und Willensbeeinflussung, durch die manipulativen Mittel der Werbung erstellt wird; er ist also ein durch und durch heteronom bestimmtes Produkt. Schumpeter widerspricht weder Lincoln noch Jefferson, die beide auf die Weisheit des Volkes setzen und es für unmöglich halten, dass das „ganze Volk ständig zum Narren" gehalten werden kann. Aber diese Konzession widerspricht nicht dem pessimistischen Befund: Denn auch wenn das ganze Volk nicht ständig zum Narren gehalten werden kann, so kann es doch häufig zum Narren gehalten werden, und je kurzfristiger die Entscheidungen angelegt sind, je schneller die Themen wechseln, je hektischer die Probleme aufgetischt werden, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass es immer wieder zum Narren gehalten wird. Es wird zu einer Legitimationsgeisel der Tagespolitik.
Offenkundig hat Schumpeter bei der Darstellung der „klassischen Lehre der Demokratie" an Rousseau gedacht, obwohl der Autor des Contrat social darauf aufmerksam gemacht hätte, dass seiner Meinung nach das Volk nicht durch Deputierte repräsentiert werden darf. Ansonsten aber, das mag überraschen, hätte er Schumpeters Analyse nicht widersprochen. Es mag überraschen, aber nichts liegt Rousseau ferner, als das Volk zu mythologisieren. Rousseau macht sich nicht die geringsten Illusionen. Das Volk ist ungebildet, unfähig zu abstraktem Denken; Bilder liegen ihm näher als Begriffe; und der fasslichen Suggestion folgt es schneller als dem Argument. Langfristige Überlegungen werden durch ungestüme Affekte durchkreuzt. Wäre da nicht der Legislateur, Rousseau hätte sich ebenfalls nach einer anderen Demokratietheorie umschauen müssen.
Der brillante Aufklärungskritiker Rousseau hat auch dem Grundgedanken der Aufklärung von der Gleichheit der natürlichen Menschenvernunft keinen Glauben schenken können. Dass sich ein Volk aus seiner Unmündigkeit befreien kann, dass es eine demokratische Gesellschaft geben kann, die jeden Versuch, sie hinters Licht zu führen, sie zu bevormunden, empfindlich bestraft, war für ihn unvorstellbar. Der Freund der kleinen Leute und der einfachen Verhältnisse war im Grunde ein Elitarist. Das Schicksal des Volkes darf nicht in die Hände des Volkes gelegt werden. Es bedarf der Bevormundung, des göttlichen Vaters, der ihm den Weg weist. Und ist dieser klug, wird er das Volk nicht überschätzen und überfordern. Er wird ihm die Begriffe und Bilder liefern, die es fassen kann; und wird seine Mission so vortragen, dass sie von den einfachen, kindlichen Seelen aufgenommen werden kann. Insbesondere wird er sich mit den Göttern verbünden und die disziplinierenden Kräfte der Religion für sich und sein Verfassungsvorhaben arbeiten lassen. Rousseau hat Machiavellis Discorsi sorgsam studiert.
„Die Väter aller Nationen haben sich zu allen Zeiten genötigt gesehen, die Vermittlung des Himmels anzurufen und den Göttern ihre eigene Weisheit zuzuschreiben, damit die Völker, die den Staatsgesetzen genauso unterworfen sind wie den Gesetzen der Natur, in der Erschaffung des Menschen die gleiche Macht erkennen wie in der Erschaffung des Staates, freiwillig gehorchen und gehorsam das Joch des Gemeinschaftsglücks ertragen. Diese hohe Einsicht, die die Fassungskraft der einfachen Menschen übersteigt, legt der Gesetzgeber in den Mund der Unsterblichen, um durch die göttliche Autorität jene mitzureißen, die sich durch die menschliche Klugheit nicht erschüttern lassen" (II.7; 384; 103).
Aber diese Manipulationen stehen nur solchen Seelenführem zu, die über eine eigene Autorität verfügen und eine „erhabene Seele" besitzen. Oder die, wie die platonischen Philosophen, sich aufgrund ihres Gerechtigkeitswissens verantwortlich fühlen, aber zugleich auch wissen, dass die Menschen ihr Wissen nicht teilen können. Platons Politeia ist der locus classicus der medizinischen Lüge, der wohlmeinenden Manipulation, deren sich auch die Gesetzgeber bei Machiavelli und Rousseau bedienen. Soll doch der platonische Philosoph eine Gerechtigkeitsordnung entwerfen und nach den geeigneten Maßnahmen suchen, um in den Bürgern eine dieser Ordnung zuarbeitende tugendhafte Gesinnung zu erwecken, ohne dabei jedoch im mindesten auf ein Gerechtigkeitswissen und eine wissensbegründete Einsichtigkeit der Bürger setzen zu können. Wie können die Bürger dazu gebracht werden, eine dem Bestand der Gerechtigkeitsordnung dienliche seelische Verfassung, ein den Erfordernissen der Gerechtigkeit entgegenkommendes Verhaltens- und Überzeugungsrepertoire auszubilden, wenn sie keinerlei Zugang zu den Gründen der ihnen abverlangten Disziplin und Mäßigung haben? Der platonische Philosoph steht also vor dem gleichen Problem wie der Gründungsheros und Religionsstifter bei Machiavelli und der Legislateur bei Rousseau. Und seine funktionalistische, pragmatische Einstellung ist für die anderen Vorbild. Menschenformern und Psychagogen sind alle Mittel gestattet, die sie bei ihrer großen Aufgabe der Menschenbildung und Ordnungsstiftung voranbringen. Sie dürfen um der Wahrheit willen lügen; um der Vernunft willen die Affekte mobilisieren; um der Erkenntnis willen Glauben wecken und um der Autonomie willen ein subtiles Regiment der Bevormundung errichten.
Aber diese Manipulation ist nur darum wirksam, weil der Gesetzgeber sie durch seine erhabene Seele legitimiert. Würde sie nicht durch sein Charisma, seine unmittelbar spürbare Autorität beglaubigt, könnte sie nicht die noblen Effekte zeitigen, die sich der Menschenformer von ihr erwartet. Außerdem muss der Griff zu List und Manipulation immer eine Ausnahme bleiben. In der Regel wird das Erziehungswerk des Gesetzgebers durch seine sittlich-politische Beispielhaftigkeit getragen. Er gibt den Bürgern ein Beispiel bürgerlichen Verhaltens. Denn Charakterbildung, das ist eine wichtige Einsicht der Tugendethik, kann sich nicht aufs Prinzipienlernen stützen, sondern muss die Praxis benennen und zeigen, in der die von der Tugendethik angestrebte Kompetenz erworben wird. Sie kann nicht Entscheidungsregeln aufstellen, sondern muss auf die vorbildlichen Mitmenschen zeigen. Ein solches ethisches Musterexemplar, ein spoudaios, „hat in allen Fällen das richtige Urteil und in jedem Einzelfall zeigen sich ihm die Dinge so, wie sie wirklich sind". Er ist in den durch allgemeine Begriffe, Prinzipien und Regeln nicht erreichbaren Einzelfällen „Richtschnur und Maß des Guten"152. Die Möglichkeit des tugendethischen Fortschritts gründet sich also nicht auf die Erkenntnis des Guten und Gerechten, sondern auf das allgemeine und weit verbreitete Wissen davon, wer ein Guter und Gerechter ist. Sicherlich steht der Rousseau'sche Legislateur in der Nachfolge des Machiavelli'schen uomo virtuoso, aber er gehört auch in die Traditionslinie des aristotelischen spoudaios. Wenn wir seine mythologische
Einkleidung als metaphorischen Hinweis auf die Schwierigkeit seines sittlich-politischen Bildungswerks lesen, dann taucht hinter dem übermenschlichen Demiurgen der Umriss eines hervorragenden Mitbürgers auf, der in der Volksversammlung kraft seiner ungewöhnlichen intellektuellen, moralischen und rhetorischen Qualitäten, auch kraft seiner pragmatischen Raffinesse das Abstimmungsverhalten der Bürgergemeinschaft mehrheitlich hinter seine gemeinwohldienlichen Vorstellungen zu bringen weiß.
Genie des Partikularen
Wie Rousseaus eigenes gesetzgeberisches Engagement beweist, ist es nicht notwendig, dass der Gesetzgeber ein Mitbürger ist.153 Sicherlich hat der mitbürgerliche Legislateur den Vorteil der Zugehörigkeit; den Gemeinsinn-Lektionen eines Fremden wird man wohl erst einmal mit Skepsis begegnen; außerdem muss man ja auch Bürger sein, um zur Volksversammlung Zugang zu haben. Grundsätzlich ist jedoch die aus der gemeinsamen Zugehörigkeit erwachsende affektive Parteilichkeit nicht Voraussetzung des gesetzgeberischen Erfolgs. Es ist auch möglich, aus der Distanz guten Rat zu geben. Aber auch da reicht Prinzipienwissen nicht aus, denn eine republikanische Verfassung kann sich nicht mit der Aufzählung von Rechten begnügen. Die Moderne macht sie sehr zerbrechlich, sodass sie beträchtliche Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse ihrer externen und internen Stabilisierung richten muss. Und diese Sorge bleibt abstrakt, wenn sie nicht durch ein genaues Wissen um die Lebensumstände des Volkes geleitet wird. Daher hat sich Rousseau mit den nötigen Informationen über Land und Leute versorgt, bevor er für die Korsen verfassungsgeberisch tätig werden wollte.154
Was muss der Gesetzgeber beachten, wenn er erfolgreich zu Werke gehen will? Zuerst muss er das Material prüfen, dem er seine Form aufprägen möchte. Denn nicht jedes Volk ist zu jedem Zeitpunkt reif für die Republik. Nur in ihrer Jugend sind Völker formbar und fügsam. Im Alter sind sie dagegen störrisch und unverbesserlich. Der Gesetzgeber muss auf den geeigneten Zeitpunkt achten und den Entwicklungsgrad des Volkes prüfen. „Ein Volk ist bildbar, wenn es entsteht, ein anderes nach zehn Jahrhunderten noch immer nicht. Die Russen werden nie wahrhaft gesittet sein, weil man zu früh damit begonnen hat. Peter war ein Genie der Nachahmung, aber er war kein wahres schöpferisches Genie, das alles aus dem Nichts erschafft" (II.8; 386; 106). Der Gesetzgeber hat nicht nur ein Gespür für den geeigneten Zeitpunkt, er vermag auch ein Werk zu schaffen, das der Beschaffenheit des Volksmaterials gerecht wird, das auf die Eigenart des Volkes abgestimmt ist, ihr politischen Ausdruck gibt. Er wird nicht ein Muster aus fremden kulturellen Kontexten exportieren und dem Domestischen gefühl- und instinktlos überstülpen, wie es nach Rousseaus Meinung Peter der Große mit seinen Untertanen gemacht hat. „Er wollte Deutsche und Engländer aus ihnen machen, als es Not tat, Russen aus ihnen zu machen." Der Rousseau'sche Nomothet ist kein Universalist, der mit den Blaupausen des Ewig-Gültigen ausgestattet sich daranmacht, die Wirklichkeit zu formen und die Geschichte zur Vernunft zu bringen. Obwohl dem Rest der Menschheit so entrückt wie der platonische Philosoph, ist er doch anders als dieser kein Ideenwisser und Prinzipienkundiger. Er ist ein Herzenskundiger und ein Kenner des historischen Materials. Der Rousseau'- sehe Nomothet ist ein Genie des Partikularen. Es geht ihm nicht darum, Verschiedenes über den einen abstrakten Vernunftleisten zu schlagen, sondern in dem je Besonderen die Möglichkeiten zu suchen, die es zur ethischen Reife und politischen Selbstermächtigung führen. Die Wirklichkeit des Allgemeinwillens ist nicht die nivellierende Herrschaft des zeitlosen Prinzips, sondern die Wirklichkeit eines sich aus dem Partikularen einer bestimmten Gemeinschaft entwickelnden, der Besonderheit eines Volkes und seiner natürlichen Umwelt entwachsenden Allgemeinen, das immer die Färbung der Besonderheit des Volkes und seiner Lebensumstände, eine national-charakterliche und nationalgeographische Prägung behalten wird, nie anderes sein wird als Selbstausdruck eines sich im geographischen Raum und im Geschichtsverlauf selbst organisierenden Besonderen.
Diese Überlegungen Rousseaus über die Notwendigkeit einer passenden, die Lebensumstände spiegelnden Verfassungsgebung sind stark von Montesquieu beeinflusst. Denn die Lebensumstände eines Volkes, die ihrerseits maßgeblichen Einfluss auf die Ausprägung des Nationalcharakters haben, sind vor allem die klimatischen und geographischen Verhältnisse. Der Gesetzgeber muss aus den vorliegenden Lebensbedingungen das Leitmotiv herauslesen, das die Wirtschaft, die Kultur und Gesellschaft eines Volkes prägt, und ihm seine Gesetzgebung und seine Erziehungsmaximen anpassen. Es ist ein Unterschied, ob sich ein Volk durch Fischfang oder durch Ackerbau und Viehzucht ernährt, ob es Handel treibt oder autark sein kann, ob der Boden karg oder fruchtbar ist, ob das Volk von agrarischer Produktion sich ernährt und über das Land verteilt lebt oder ob die Bevölkerung das Land flieht und in die Städte zieht. Jedes Mal werden die Lebensverhältnisse von einem anderen Motiv regiert, auf das die Verfassung reagieren muss. Nur wenn die Verfassung in den Gegebenheiten der natürlichen Umwelt verankert ist, wenn sie sich dem Unveränderlichen anschmiegt, um das Veränderliche wirksam im Sinne der wenigen allgemein gültigen Grundsätze der Freiheit und Gleichheit zu verändern, wird die Verfassung von segensreicher Dauer sein können.
In diesem Kontext stoßen wir auf eine weitere Ambivalenz des Rous- seau'schen Denkens. Denn offenkundig hat der Rechts-, Gesetzes- und

Verfassungsbegriff eine zweifache Bedeutung, je nachdem, ob er im Kontext des staatsrechtlichen Begründungsdiskurses betrachtet wird oder im Zusammenhang der Verwirklichungsproblematik gebraucht wird. Das Gesetz der volonte generale ist eine allgemeine Regel, von der Allgemeinheit für die Allgemeinheit um des Wohls der Allgemeinheit willen erlassen. Die situationskompetente Anwendung und Durchsetzung ist der Regierung überantwortet. Das Gesetzes- und Verfassungswerk, durch das der Gesetzgeber ein Volk formt, ist hingegen etwas ganz anderes; es beschreibt alle internen und externen Formierungen und Prägungen, durch die der Gesetzgeber das Volk bereit macht, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Gesetzesbegriff umfasst die gesamte ethische und institutionelle Prägung der Denk- und Lebensverhältnisse eines Volkes, er formt die Herzen der Bürger ebenso wie ihre Wirtschaft, bestimmt die öffentliche Erziehung nicht weniger als die Kultur, den Rhythmus ihrer Arbeit nicht anders als den Rhythmus ihrer Feste. Im Wesentlichen verbindet das Ge- setzgebungs- und Erziehungswerk drei Formierungsebenen: Da ist zum einen die ethische Formierung der Bürger; sodann die politische Formierung, die aus den Menschen ein Volk macht, mit dem Ziel, es zur Selbstregierung zu führen; drittens eine umweltliche Formierung, die darauf achtet, dass sich in der Kultur und den Einrichtungen, den Bräuchen und den Gesetzen die Besonderheit der natürlichen Lebensbedingungen der Menschen angemessen spiegeln. Diese letzte Komponente wendet Montesquieus protosoziologische Analysen der Verfassung in ein expressionistisches Verfassungskonzept: Eine gute Verfassung ist eine solche, in der sich das Leitmotiv der vorgegebenen natürlichen Lebensumstände zum Ausdruck bringt, die durch ein enges Passungsverhältnis zwischen dem Menschengemachten und dem Naturgegebenen bestimmt ist. Diese Sichtweise ist gegen den normativistischen Designer gerichtet, der glaubt, am Reißbrett der ewigen Gültigkeit allgemein anwendbare und zeitlos gültige Regeln und Prinzipien finden zu können. Wenn diese in die Wirklichkeit entlassen werden, ziehen sie eine Spur der Gewalt hinter sich her. Da sie nicht die Kooperation mit dem Besonderen suchen, richten sie das Besondere ab. Das derart ab- und zugerichtete Besondere wird dann irgendwann die allgemeine Verfassung wie ein gewebeunverträgliches Implantat abstoßen. Wenn die Verfassung das vermeiden will, muss sie zu unerlässlicher Gewaltanwendung bereit sein. Rousseau entwickelt hier ein geradezu ökologisches Verfassungsverständnis; das Genie des Partikularen, das der Gesetzgeber besitzen muss, zeigt sich vor allem als ökologische Sensitivität. Die Umwelt, die vorgegebene, muss in dem Verfassungswerk berücksichtigt werden, bestätigt werden; das Verfassungwerk muss sich in sie einfügen, mit ihr kooperieren, sich dem Leitmotiv der vorgegebenen Lebensumstände eines Volkes unterwerfen.
Aber es kommt nicht nur auf den geeigneten Zeitpunkt für die erfolgreiche politische Formung eines Volkes an. Es ist auch notwendig, auf die demographischen und territorialen Größenverhältnisse zu achten. „Wie die Natur dem Wuchs eines normalen Menschen Grenzen gesetzt hat, jenseits deren sie nur noch Riesen oder Zwerge erzeugt, so gibt es auch hinsichtlich der besten Verfassung eines Staates Grenzen der Ausdehnung, die er beachten sollte, um weder zu groß zu sein, um gut verwaltet werden zu können, noch zu klein, um sich selbst erhalten zu können" (II.9; 386; 106). Und die Subsistenzsicherung ist bei der Feststellung der erforderlichen Größe des Territoriums und der Bevölkerung ein zuverlässiges Kriterium. „Die Menschen bilden den Staat, und der Boden ernährt sie. Das Verhältnis zwischen beiden ist angemessen, wenn das Land ausreicht, seine Bewohner zu ernähren, und es so viele Menschen gibt, wie das Land ernähren kann" (ILIO; 389; 109). Anders als Machiavelli vertritt Rousseau keinen Raubtierrepublikanismus. Imperiale Eroberungssucht ist schädlich für ein Gemeinwesen; Ruhmbegierde, die nach der Unterwerfung fremder Völker trachtet, ethisch verwerflich. Das Staatsgebiet einer Republik muss überschaubar sein, muss der Begrenztheit menschlicher Erfahrung, menschlicher Empfindung angepasst sein. Ist die Staatsfläche so groß, dass die Menschen einander Fremde sind, dann gibt es keine Gemeinsamkeit, die die Menschen einen könnte, dann zerfällt das Gemeinwesen: „Je weiter sich das soziale Band ausdehnt, umso lockerer wird es" (IL9; 386; 107). Mitbürgerlichkeit muss erlebbar sein, nur dann kann in den Beratungen über die besten Wege, dem Gemeinwesen zu dienen, der gemeinwohlkompetente Allgemeinwille in Erscheinung treten. Nur erlebte Mitbürgerlichkeit führt auch zu der für die Kohärenz des Gemeinwesens wichtigen sozialen Kontrolle; sind die Bürger einander unbekannt, dann „bleiben Talente unentdeckt, Tugenden ohne Anerkennung und Laster unbestraft" (II.9; 387; 108).
„Finanzsysteme machen die Seelen käuflich"
In der direkt-demokratisch organisierten Freiheitsrepublik umfasst die Sorge der Bürger um die allgemeinen Dinge freilich mehr als die Beteiligung an den gesetzgeberischen Volksversammlungen. Sie umfasst auch den Waffendienst in der Bürgerwehr und den Frondienst, den Arbeitseinsatz zur Errichtung von Straßen, Häfen, Schulen und öffentlichen Gebäuden. Denn alles, was die Allgemeinheit braucht, besorgen die Bürger unmittelbar, durch eigenen Willen, durch eigene Hand, durch Einsatz des eigenen Lebens. Der Bürger darf seinen Willen nicht durch Abgeordnete vertreten lassen; er darf aber auch nicht sich von dem Wehrdienst, von der Vaterlandsverteidigung freikaufen, etwa durch Einrichtung einer Berufsarmee oder durch das Anheuern von Söldnern; und schließlich darf er auch nicht Privatleute dafür bezahlen, dass sie die Infrastruktur der Republik aufbauen, Plätze anlegen, die Versammlungshalle für die Gesetzgebung und die Regierungsgebäude errichten. Nichts darf der Bürger zwischen sich und die Allgemeinheit treten lassen, weder Abgeordnete noch Soldaten, noch Geld. „Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort. Im Stadtstaat ist es unbekannt. In einem wirklich freien Staat machen die Bürger alles eigenhändig und nichts mit Geld [...] Ich glaube, dass Frondienste der Freiheit weniger widersprechen als Steuern" (III.15; 429; 157). Daher empfiehlt Rousseau den Polen auch, dass der „Bau der Straßen, der Brücken, der öffentlichen Gebäude, der Dienst für den Fürsten und den Staat [...] durch Frondienste und nicht gegen Bezahlung" zu vollbringen sei.155
Freilich darf dieses Plädoyer für eigenhändigen Bürgereinsatz nicht missverstanden werden. Rousseau denkt hier weniger an die positiven sozialpsychologischen Effekte erlebter, durch gemeinsames Schweißvergießen erhärteter Gemeinsamkeit. Zugegeben, die Grenze zwischen der ehrwürdigen Tugendrhetorik des Republikanismus und dem ideologischen Kollektivismuskitsch des modernen Totalitarismus ist fließend, doch auch für Rousseau macht gemeinsames Straßenbauen keine besseren Gesetze. Rousseaus Plädoyer für Frondienst ist nur die Kehrseite seiner Verteufelung des Geldes. Den verderblichen Einfluss des Geldes zurückzudrängen, ist sein ganzes Bestreben.
„Die Finanzsysteme sind neuzeitlich. Ich sehe nicht, dass etwas Gutes oder Großes aus ihnen hervorgegangen wäre. Die alten Regierungen kannten nicht einmal das Wort Finanzen, und was sie mit Menschen anrichteten, ist wunderbar. Das Geld ist höchstens Ersatz für die Menschen und der Ersatz ist nie die Sache selbst. Polen, lasst nur das ganze Geld den anderen oder begnügt euch mit dem, was sie euch nötigerweise geben müssen, weil sie euer Korn nötiger brauchen als ihr Gold [...] Euch frei und glücklich zu erhalten, braucht ihr Köpfe, Herzen, Arme: Sie sind es, die die Stärke eines Staates und den Wohlstand eines Volkes ausmachen. Die Finanzsysteme machen die Seelen käuflich; sobald man nur nach Gewinn trachtet, so gewinnt man immer mehr, wenn man ein Beutelschneider ist, als ein ehrlicher Mann. Die Verwendung des Geldes geht leicht aus dem Geleise und bleibt heimlich; es ist für eine Sache bestimmt und wird für eine andere verwandt. Die, durch deren Hände es geht, lernen bald, es umzuleiten, und was sonst sind alle Aufseher, die man über sie setzt, als andere Betrüger, die man schickt, mit ihnen zu teilen."156
Und den verderblichen Einfluss des Geldes drängt man am wirkungsvollsten zurück, indem man die Menge des umlaufenden Geldes möglichst gering hält. Denn mit der Menge des Geldes erhöht sich die Käuflichkeit der Menschen, erhöht sich der Missbrauch der Macht. Selbst ein Liberaler wie Locke konnte nicht die Augen davor verschließen, dass sich mit der Erfindung des Geldes der amor sceleratus habendi ausgebreitet und den friedlichen Naturzustand in einen Kriegszustand verwandelt hat. Zwar war der Schutz der Grundrechte und vor allem des Eigentums das treibende Motiv für die Locke'schen Individuen, den vorstaatlichen Zustand zu verlassen und eine Regierung mit der wirksamen Durchsetzung ihrer Rechte zu beauftragen. Aber der unmittelbare Anlass für Vergesellschaftung und Verstaatlichung war die Erfindung des Geldes, weil erst mit der Erfindung des Geldes die menschliche Lasterhaftigkeit florieren konnte.
Das Geld verlangt höchste republikanische Wachsamkeit. Denn ihm eignen zwei Eigenschaften, die dem republikanischen Ethos diametral widersprechen. Zum einen - Rousseau wird nicht müde, es zu betonen - hat das Geld einen Hang zum Heimlichen. Es verschwindet aus der Öffentlichkeit, wandert verstohlen von Hand zu Hand; versickert in dunklen Kanälen, entzieht sich der sozialen Kontrolle, nimmt strukturell Partei für die Privatheit. Auf der anderen Seite ist es unüberbietbar universell, der Vertreter für alles, ein grenzenloser Vermittler. Es besitzt einen unbeschränkten Tauschwert, der an die Stelle alles anderen treten kann. Daher führt das Geld dazu, das Originale, Authentische zu entwerten. Es leitet eine Ära des Surrogats ein, das den Schein von Originalität erweckt, aber die Qualität des Ursprünglichen nicht erreichen kann. Als Vermittler ist es zugleich ein Entfremden Es tritt zwischen die Menschen und zerstört die sozial-kommunikative Unmittelbarkeit, es tritt zwischen die Menschen und die Dinge, zwischen die Menschen und die Allgemeinheit. Aufgrund dieser Vermittlungs-, Vertretungsund Nivellierungsfunktion stößt das Geld auf das Misstrauen des Republikaners. Es sind weniger die direkten Auswirkungen auf die Korruptionsanfälligkeit der Menschen im Regierungsapparat, der Bürger auf dem sich ausweitenden Tauschmarkt, die Rousseau alarmieren. Es ist vorwiegend die von dem Geld ausgehende Zerstörung der Unmittelbarkeit, die seinen republikanischen Argwohn heraufbeschwört. Geld ist strukturell unrepublikanisch. Es widerspricht der republikanischen Favorisierung des Einfachen und Authentischen, des Unmittelbaren und Echten, des Ungekünstelten und Direkten. Zusammen mit den Künsten und Wissenschaften ist es eine Produktivkraft der kulturellen Modernisierung.
Den Rousseau'schen Empfehlungen in seinen Betrachtungen über die Regierung Polens sind die Umrisse der Wirtschaftspolitik des Legislateur zu entnehmen. Er wird darauf dringen, dass die Ökonomie der werdenden Freiheitsrepublik durch den Gebrauchswert, und nicht durch den Tauschwert geprägt wird, dass eine dem Ideal der inneren und äußeren Autarkie entsprechende Bedarfsdeckungsökonomie eingerichtet wird, dass die Finanzwirtschaft so gering wie möglich gehalten wird und nur

die „am dringendsten notwendigen Manufakturen (les manufactures de premiere necessite)" gegründet werden.157 Er wird darauf achten, dass die Besteuerung der Bürger nicht als Einkommensquelle einer unersättlichen Regierung missbraucht wird, sondern nur zur Finanzierung des Unerlässlichen verwandt wird.158
Kleinstaatlichkeit und Konföderation
Nur in einem kleinen und überschaubaren Staatswesen, in dem jeder jeden kennt, lässt sich die Rousseau'sche Republik errichten. Denn direkte Herrschaftsausübung bedarf der schnellen Erreichbarkeit aller, erfordert ein unaufwendiges Zusammenkommen. Rousseaus Bürger sind keine Berufspolitiker, die ihre ganze Zeit der Politik widmen und davon gut leben. Rousseaus Bürger sind vor allem Bürger, die ein Arbeits-, Familien- und Gemeindeleben haben und als solche gelegentlich zusammenkommen, um sich um die Geschicke des Allgemeinen zu kümmern und gemeinwohldienliche Entscheidungen zu fällen. Daher darf der Ort der politischen Zusammenkunft nicht allzu weit von ihrem Lebensort entfernt sein. Dieser Versammlungsstätte will Rousseau gestatten, Stadt zu werden, nicht zuletzt auch darum, weil dort, wo die Bürger sich versammeln, praktischerweise auch der Regierungssitz sein sollte. Ansonsten sollte die Republik keine weiteren Städte besitzen. Und wenn es doch mehrere Städte geben sollte, dann ist darauf zu achten, dass sich unter diesen Städten keine Hauptstadt herausbildet.
Wenn Rousseau „Hauptstadt" sagt, meint er Paris. Sein Affekt gegen die Hauptstadt ist genährt durch seine Erfahrung mit Paris: In der französischen Kapitale konnte er die sittliche Erosionswirkung der zivilisatorischen Modernisierung genau beobachten. Rousseau wusste auch, dass die Moderne durch einen Verdrängungswettbewerb zwischen Stadt und Land geprägt ist, dass Modernisierung vor allem auch Verstädterung ist. „Erinnert euch", so ruft er pathetisch aus, „dass die Stadtmauern aus dem Schutt der Bauernhäuser erbaut wurden" (III. 13; 427; 156). Der Republikanismus ist notwendig provinzialistisch; er ist für das Land, gegen die Stadt. Das Land ist der Ort der einfachen, überschaubaren Lebensverhältnisse; dort folgt der Lebensrhythmus dem immergleichen Takt der Natur. Das Land ist veränderungsimmun, konservativ. Der Fortschritt ist eine Sache der Städte. Die Moderne nistet sich immer zuerst in der Stadt ein, um dann das umliegende Land zu kolonisieren und die dort noch vorhandenen Widerstände der alten Sittlichkeit zu brechen.
Großflächige Staaten sind nicht nur mit einer direkt-demokratischen Organisation der Gesetzgebung unvereinbar, sie erfordern auch einen mehrstufigen, hierarchisch aufgebauten Regierungs- und Verwaltungsapparat, der nicht nur ungeheure Kosten verursacht, sondern zur Anonymisierung des politischen Lebens führt. Das Volk wird seinen Führern entfremdet, und diese verlieren das Volk aus den Augen. Es entsteht ein Willkürregime der kleinen Beamten vor Ort, die sich der Kontrolle durch die weit entfernte Zentrale geschickt entziehen. Politische Verantwortlichkeit kann nur im Rahmen eines gemeinsamen Lebens- und Erfahrungszusammenhangs von Bürgern und Amtsträgern gedeihen. Wird dieser Rahmen gesprengt, zerfällt der politisch-ethische Kontext, verabsolutiert sich die Bürokratie. Auch werden die Gesetze der zentralen Legislation nicht allen Eigenarten der verschiedenen Provinzen gerecht werden, die manchmal stärker voneinander unterschieden sein können als selbstständige kleine Staaten. Daher muss das Großreich den einzelnen Provinzen eigenständige legislatorische Kompetenzen einräumen. Wenn in einem Staat jedoch an unterschiedlichen Orten unterschiedliches Recht gilt, entsteht unter den miteinander verkehrenden Bürgern nur „Unruhe und Verwirrung".
Es ist evident, dass diese wenig originellen Überlegungen nicht nur für den Rousseau'schen Gesetzgeber von Wichtigkeit sind. Auch für einen Demokraten, der sich von der Extravaganz der volonte generale verabschiedet hat und mit der Repräsentation seines Willens durch gewählte Abgeordnete zufrieden ist, stellen politische Organisationsformen, die die Grenzen seiner Erfahrungswelt überschreiten, ein gewichtiges Problem dar. Es scheint so zu sein, dass auch die repräsentative Demokratie in ihrer Lebenskraft von der Existenz von Bürgern, zumindest von der Existenz einer hinreichend starken Bürgerlichkeitselite, abhängig ist, ein Bürgerbewusstsein aber ohne affirmative Zugehörigkeit, ohne akzeptierte geschichtliche und erlebte politische Gemeinsamkeit sich nicht entwickeln und erhalten kann. Aber genau diese Voraussetzungen sind nicht gegeben, wenn künstliche Großgebilde sich in politische Gemeinschaften verwandeln sollen. Wie kann Europa je eine politische Gemeinschaft werden, wenn es keine Bürger hat? Europabürger aber können die Bürger der Nationalstaaten nicht werden, weil Bürgerlichkeit nur in überschaubaren partikularen Kontexten gedeihen kann. Man muss kein Rousseauist sein, um zu bezweifeln, dass das künstliche verfassungslose, geschichtslose und bürgerlose Monstrum Europa je eine politische Einheit werden könnte, in der sich die Menschen Europas politisch zu Hause fühlen würden.
Freilich, auch dieser zweifelnde Nicht-Rousseauist ist insofern immer noch Rousseauist, als er die Möglichkeit politischer Gemeinschaften von einem hohen Grad an kulturell codierter Gemeinschaftlichkeit abhängig macht. Kulturell codierte Gemeinschaftlichkeit ist jedoch im Fortlauf der Modernisierung zu einem immer knapperen Gut geworden. Der moderne Bürger muss darum lernen, sein Homogenitätsbedürfnis zu bekämpfen und alteritätsfähig zu werden. Denn die für demokratische Friedlichkeit erforderlichen Gemeinsamkeiten müssen zunehmend mehr von einander Fremden erarbeitet, neu geschaffen werden. Worauf soll man sich denn bei der Entwicklung deliberativer Politik und demokratischer Entscheidungsfindung in einer Gesellschaft stützen, in der unterschiedliche Kulturen, Religionen, lebensethische Konzepte nebeneinander gleichberechtigt existieren? In der selbst eine gemeinsame Geschichte nicht mehr existiert, weil jeder Neuankömmling ja seine eigene Geschichte mitbringt und die des Immigrationslandes nicht teilen kann? Rousseaus homogenitätsobsessive Republikkonzeption war schon mit den Frühformen der liberalen, individualistischen Gesellschaft seiner Zeit nicht vereinbar. Wie viel weniger taugt sie als Begriffsangebot und Orientierungshilfe bei der Selbstverständigung gegenwärtiger moderner Gesellschaften!
Nimmt sich der Gesetzgeber Rousseaus Empfehlungen zu Herzen, dann wird er in Rousseaus Europa sicherlich wenig Gelegenheit finden, seine Reformpläne ins Werk zu setzen. Korsika, so können wir Rousseaus einschlägiger Schrift entnehmen, hätte eine geeignete Größe, wäre zudem wegen seiner Insellage auch gut gegen fremde Einflüsse abzuschirmen. Aber in Frankreich oder der Schweiz, in England, Italien oder dem deutschen Reich wird der Gesetzgeber vergeblich seine Tugendreform verwirklichen wollen. Auch Polen, für das Rousseau einen „Plan zur Neugestaltung der Regierung"159 erarbeitet hat, wäre politisch nur zu retten, wenn es seine Gestalt preisgäbe und sich in eine Konföderation von 33 politisch autonomen Kleinstaaten verwandelte. Als Konföderation sei es dann stark genug, um sich gegen die bedrohlichen Nachbarn, das russische Zarenreich, das kaiserliche Österreich und die preußische Monarchie, behaupten zu können; zugleich aber komme es auch in den Genuss der nur in kleinen Republiken blühenden Freiheit. Nicht das imperiale Rom, sondern die griechischen Stadtstaaten bilden das historische, nicht Frankreich oder die Schweiz, sondern Genf bildet das zeitgenössische Beispiel eines republika- nisierungsfähigen Gemeinwesens mit einer geeigneten, für die Reform des Gesetzgebers empfänglichen Größe. Rousseau hat immer nur den Kleinstaat vor Augen gehabt, damit die Anwendungsreichweite seiner politischen Philosophie a limine drastisch eingeschränkt. Der Contrat social liefert eine politische Philosophie für die kleinen, randständigen, von den Zentren des zivilisatorischen Fortschritts weit entfernten Gebiete. Rousseaus politische Philosophie ist Kleinstaatsphilosophie. Es ist eine politische Philosophie für die Peripherie, die der zivilisatorische Fortschritt übersehen hat. Es ist eine politische Philosophie, die Zurückgebliebenheit als Chance betrachtet.
Eine erfolgreiche Ausübung des Souveränitätsrechts, so hat Rousseau immer wieder betont, ist nur in kleinen, überschaubaren, sozial und kulturell homogenen und autarken Gemeinwesen möglich. Auch im Contrat social selbst hat er diese Überzeugung geäußert.160 Wie aber sollen sich diese kleinen Staaten gegen stärkere Nachbarn behaupten können? Ist das republikanische Ideal nicht schon darum zum Scheitern verurteilt, weil keine Republik im Machtwettbewerb der Staaten überleben würde? Rousseau hat eine Antwort auf diese Frage gewusst, sie aber nicht gegeben. Er war der Überzeugung, dass man die an Kleinstaatlichkeit gebundenen Qualitäten einer republikanischen Freiheitsordnung und wirksamen Regierung mit den machtpolitischen Vorzügen eines Großstaates verbinden könnte, aber die Fortsetzung seines staatsrechtlichen Traktats, die sich dieses Themas annehmen sollte, hat er nicht mehr geschrieben. Wir können jedoch aus seinen Betrachtungen über die Regierung Polens etwa den Hinweis entnehmen, dass Rousseau an eine konföderative Lösung dachte. Damit sich die Republiken auch außenpolitisch behaupten können, müssen sie sich gegen die aggressiven Großmächte verbünden und zu einer Verteidigungsallianz zusammenschließen.
Rousseaus Äußerungen zu einem solchen internationalen und zwischenstaatlichen Bündniswesen sind äußerst spärlich.161 Es scheint aber so zu sein, dass für ihn genauso wenig wie für Hobbes der Schritt ins Staatsrecht völkerrechtlich wiederholbar ist. Auch für Rousseau verbleibt das zwischenstaatliche Verhältnis generell ein Naturzustandsverhältnis. An eine Fortsetzung der rechtsverwirklichenden Republikanisierung auf zwischenstaatlicher Stufe ist im Kontext des Rousseau'schen Philosophierens nicht zu denken. Erst Kant hat diesen Gedanken gefasst und den globalen Rechtsfrieden als höchstes politisches Gut und notwendige Forderung des Vernunftrechts betrachtet. Da Rousseau jedoch den Übergang in den status civilis nicht ausschließlich als Verrechtlichungsprozess, sondern als emphatische Menschwerdung, Moralisierung und Verbürgerlichung begreift, ist seine Wiederholung auf zwischenstaatlicher Ebene ausgeschlossen. Wenn republikanische Freiheit nur im Besonderen gedeiht, Recht nur gesetzesförmiger Ausdruck des für die Erhaltung und Verbesserung des Gemeinwohls Notwendigen, dann fehlt dieser republikanischen Korrelation von Freiheit und Recht genau der universalistische Zuschnitt, dessen die Konzeption eines globalen Rechtsfriedens bedarf. Rousseaus normativer Partikularismus ist dazu verurteilt, mit dem Grenzübertritt auf das Niveau des Positivismus zurückzufallen: Mehr als die Allerweltsklugheit, die Vorkehrungen trifft und in Notlagen nach Verbündeten suchen lässt, vermag er nicht aufzubieten. Bei Rousseau kann es keine zweite Republi- kanisierungswelle geben, die den Naturzustand zwischen den Staaten beendet. Erst recht verbietet sein emphatischer Souveränitätsbegriff die Etablierung staatlichkeitsanaloger supranationaler Institutionen. Selbst Kant war durch seinen souveränitätstheoretischen Dogmatismus gehin

dert, geeignete institutionelle Strukturen für seine globale Rechts- und Friedensordnung ins Auge zu fassen.162 Die Rousseau'schen Republiken sind Inseln in einem Ozean der Gewalt; sie können sich zu einem Archipel zusammenschließen und so ihre Verteidigungskraft erhöhen, aber mehr als ein gewalthemmendes Abschreckungsgleichgewicht ist nicht zu erzielen.
Zivilreligion
Dass die großen politischen Gründer zu allen Zeiten auf die Dienste der Religion zurückgegriffen haben, um ihrer Herrschaft Autorität und Legitimität und ihren Gesetzen Gehorsam zu verschaffen, diese Einsicht zeigt Rousseau sicherlich nicht als Vorläufer Feuerbach'scher Religionskritik163. Das abendländische Denken musste nicht auf Feuerbach warten, um über die nützliche politische Funktion der Religion aufgeklärt zu werden. Montaigne wusste das ebenso wie Hobbes und Spinoza. Und vor allem wusste es Machiavelli, den Rousseau sehr geschätzt und dessen Discorsi er sehr genau studiert hat.164
Das 11. Kapitel des 1. Buches der Discorsi handelt von der „Religion der Römer". In der Hauptsache berichtet es von Numa Pompilius, der „vorgab, vertrauten Umgang mit einer Nymphe zu haben, die empfahl, was er dem Volk anraten sollte: Dies alles geschah nur aus dem Grund, weil er in der Stadt Rom neue, ungewohnte Einrichtungen schaffen wollte und daran zweifelte, ob seine eigene Autorität ausreiche". Und wie er machte es „Lykurg, und Solon und viele andere, die dasselbe Ziel anstrebten". Machiavelli kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Unterstützung der Religion bei politischer Ordnungsstiftung und Ordnungssicherung unverzichtbar sei.
„Es gab tatsächlich noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber in irgendeinem Volk, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen worden wären; denn es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springenden Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit ihre Zuflucht, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden."165
An der Wahrheit der Religion ist Machiavelli nicht interessiert, auch nicht an ihrer Bedeutung für die individuelle Lebensführung des Gläubigen. Er erblickt in ihr nur ein unerlässliches politisches Werkzeug. Durch geschickte Benutzung menschlicher Gottesfurcht lässt sich die Bindewirkung von Versprechen und Eiden erhöhen, kann man militärische Disziplin verstärken, Tapferkeit erhöhen, die Sterbensbereitschaft vergrößern, auch Vertrauen einflößen. Die legitimationsspendende Rückführung menschlicher Einrichtungen auf göttliche Willensakte und Ratschläge erlaubt eine risikolose Einführung von Institutionen und Gesetzen. Die Akzeptanz- und Gehorsamsbereitschaft der Bürger ist ohne jede Überzeugungsanstrengung gesichert. Die politische Klugheit darf daher auf den Schein der Transzendenz nicht verzichten. „Wer die römische Geschichte aufmerksam verfolgt, wird stets finden, wie viel die Religion dazu beigetragen hat, die Heere in Gehorsam, das Volk in Eintracht zu halten, die guten Menschen zu stärken und die schlechten zu beschämen."166 Dieses funktionalistische Religionsverständnis hat in der politischen Philosophie der Neuzeit Schule gemacht. „Schrecklich ist die große Menge, wenn sie sich nicht fürchtet"167, heißt es beispielsweise bei Spinoza; notwendig seien daher „nicht sowohl wahre als fromme Dogmen [...], solche, die den Sinn zum Gehorsam anhalten"168. Und auch Rousseau mag auf die politisch nützlichen Effekte religiöser Seelenformierung nicht verzichten. Im letzten Kapitel formuliert der Gesellschaftsvertrag ein bürgerliches Glaubensbekenntnis, das den Schlusspunkt der moralischen Verwandlung der Menschen bildet und der Bürgermoral ein Fundament in der Transzendenz verschafft. Der Gesellschaftsvertrag schlägt einen Bogen von der politischen Anthropologie des Bürgers bis zur politischen Theologie der Republik. Die versittlichende Denaturierung des Menschen kulminiert in einer wirkmächtigen Allianz des Souveräns mit dem Übernatürlichen.
Auch hier stellt Rousseau eine historische Skizze an den Anfang seiner Ausführungen, die auf knappem Raum seine Lesefrüchte über die Geschichte des Verhältnisses von Politik und Religion präsentiert. In der heidnischen Welt, so erfahren wir, herrschte das Prinzip der territorialen Religion, der Identität von Gott und Gesetz. „Die Machtsphären der Götter (departements de Dieux) waren sozusagen durch die Grenzen der Nationen festgelegt" (IV.8; 460; 196). Und der Eroberer war zugleich Missionar; er nahm den Besiegten Land und brachte ihnen die eigenen Götter. Daher waren den Griechen und Römern Religionskriege unbekannt. Denn wenn man eigene und fremde Götter unterscheidet, der Autoritätsanspruch der eigenen Götter nicht über die Einflussgrenzen der eigenen Politik hinausgeht, kann sich nie die Politik in den Dienst der Religion stellen, steht die Religion von vornherein im Schatten der politischen Interessen. „Statt dass die Menschen für die Götter kämpften, kämpften die Götter [...] für die Menschen" (ebd.; 461; 197).
Mit der Entstehung des Christentums ging diese enge Korrelation zwischen Nation und Religion verloren. Der geistige Kosmopolitismus des Christentums war mit dem Prinzip der Nationalgötter nicht vereinbar. Das Christentum war keine Bürgerreligion mehr, es war eine Religion der Menschen. Unter seinem Einfluss traten darum Religion und Politik auseinander. Die Einheit des Staates ging verloren. Die Gesellschaft wurde durch Spaltungen und Sektenbildung auseinander gerissen. Auch der ein-
zelne Mensch wurde zerrissen, war er doch sowohl Mitglied seines Gemeinwesens als auch Mitglied des ewigen, unsichtbaren göttlichen Reiches und aufgrund der einander widersprechenden Verpflichtungen gehindert, „gleichzeitig fromm und Bürger zu sein" (IV.8; 465; 201). Schon Machiavelli hatte im Christentum den Totengräber jeder Republik erblickt. Das Christentum nehme den Menschen mit seinem Demutsethos und seinem Lob der Wehrlosigkeit die Tapferkeit, die Leidenschaft, den Zorn. Mit seiner Jenseitsorientierung, seiner Herabwürdigung aller weltlichen Wichtigkeiten mache es die Menschen für die politische Welt untauglich. Rousseaus Charakterisierung des Christentums nimmt all diese Topoi republikanischer Christentumskritik auf.
Das Christentum hatte aber nicht nur schädliche Auswirkungen auf das Ethos der Bürger, es unterminierte auch die staatliche Souveränität. Es spaltet nicht nur den Einzelmenschen, es zerteilt auch die Macht des Gemeinwesens und zerstört darum seine politische Einheit. Denn der Katholizismus begnügte sich nicht mit der Stellvertretung Gottes, er begehrte auch irdische Macht und gab sich ein „sichtbares Oberhaupt". Die Religion meldete Herrschaftsansprüche an und geriet mit der weltlichen Macht in einen Dauerkonflikt, der die Politik lähmte. Im Schatten des Streites zwischen Souveränität und Suprematie wurde „in den christlichen Staaten jede vernünftige Staatsführung unmöglich gemacht" (IV.8; 462; 198). Rousseau erweist sich hier als überzeugter Hobbesianer. Hobbes hat sich in der zweiten Hälfte des Leviathan ausführlich mit dem Suprematieanspruch des Papstes auseinander gesetzt und ihn entschieden zurückgewiesen. Er hat sich der alten politischen Maxime: divide et impera erinnert und den römisch-katholischen Universalismus durch einen landeskirchlichen Partiku- larismus ersetzt, der zudem den jeweiligen Souverän in den Rang eines obersten Propheten, „alleinigen Interpreten des Gottesworts"169 und Statthalter Gottes auf Erden erhob.170 Die politische Macht, das war die Lektion der konfessionellen Bürgerkriege, muss an dem Interpretations- und Definitionsmonopol der Gesetzestexte und der Heiligen Schrift festhalten. Sie muss die Bedeutungen der Wörter festlegen und bestimmen, was als Wahrheit gilt und welche Lehren und Deutungen nicht zugelassen werden dürfen. Denn ein Religionskrieg ist ein Krieg der Ideologien, ein Kampf der Interpretationen und Bedeutungen. Das Ziel der Bürgerkriegsvermeidung und Sicherung der staatlich-gesellschaftlichen Einheit verlangt daher die absolute Verfügung über die Bedeutung handlungsrelevanter normativer und religiöser Begriffe. Hobbes ist für Rousseau „unter allen christlichen Autoren [...] der einzige, der das Übel und seine Heilmittel erkannt hatte; der es gewagt hatte, die beiden Köpfe des Adlers zu vereinen und alles auf eine politische Einheit zurückzuführen, ohne die weder der Staat noch die Regierung lebensfähig sind" (IV.8; 463; 200). Freilich habe sich
Hobbes' Lösung letztlich als nicht tragfähig erwiesen: Die Rezeptur des Leviathan heile den politischen Körper nicht von der Spaltung, da „der Anspruch des Priesters immer stärker ist als der des Staates". Ausdrücklich bekräftigt Rousseau die Hobbes'sche Strategie der staaatlichen Einheitssicherung durch Verstaatlichung der Religion. „Nicht so sehr das Schreckliche und Falsche in seiner Politik hat sie verhasst gemacht, als vielmehr das, was an Gutem und Wahren in ihr ist."
Was lernt der Republikaner nun aus alldem? Welchen Schluss zieht Rousseau aus der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Religion im Allgemeinen und aus dem Schicksal der christlichen Staaten im Besonderen für seine Republik? Kann sie es sich politisch leisten, eine christliche Republik zu werden? Oder muss sie sich ausdrücklich zum Atheismus bekennen, den Atheismus gleichsam aus Staatsräson fordern? Oder kann sie das Verhältnis zwischen Religion und Politik so gestalten, dass die Sache der Republik gestärkt wird, dass die Religion nicht nur politisch unschädlich gemacht wird, sondern sogar eine politisch nützliche Funktion ausüben kann, sodass die Republikaner nicht nur zugleich fromm und Bürger sein können, sondern aufgrund ihrer Frömmigkeit sogar bessere Bürger werden? Eines ist von vornherein klar: Was immer die zivile Religion an Überzeugungen beinhalten mag, eine christliche Religion wird es nicht sein können. Denn wer von einer christlichen Republik redet, macht sich nach Rousseau einer contradictio in adjecto schuldig. „Diese beiden Wörter schließen einander aus. Das Christentum predigt immer nur Knechtschaft und Unterwerfung. Sein Geist begünstigt zu sehr die Tyrannei [...] Die wahren Christen sind die geborenen Sklaven" (IV.8; 467; 204). Vor allen Dingen, auch dies ein Gemeinplatz republikanischer Christentumskritik, taugen Christen nicht zu Soldaten. Tapferkeit kommt auf ihrer Tugendtafel nicht vor, denn sie schätzen das Wohl des Gemeinwesens gering, hängen ihr eigenes Schicksal nicht an das Schicksal des Vaterlandes. Einzig am Heil ihrer Seele interessiert, sind irdische Dinge für sie nicht von Belang. Nur der, der eine Sache liebt, sie für wichtiger erachtet als sich selbst, wird bereit sein, unter Einsatz seines Lebens für sie zu kämpfen und sich für sie aufzuopfern.
Eine politisch nützliche Funktion kann die Religion dann ausüben, wenn sich ihre Autorität zur Stärkung politisch erwünschter, wenn nicht gar unerlässlicher Einstellungen und Handlungsweisen einsetzen lässt, wenn sie den Verbindlichkeiten der Bürgermoral zusätzliche Festigkeit verleiht. Aber diese Effekte werden sich nur dann erzielen lassen, wenn der Dogmenbestand der Religion von allen dissensriskanten Glaubensstücken gereinigt wird. Auf umstrittene Wahrheiten lässt sich keine politische Theologie der Republik bauen. Die Religion muss von allen zwietrachtanfälligen Inhalten befreit und auf ein bürgerreligiöses Minimum reduziert werden. Alles, was den Test allgemeiner Zustimmungsfähigkeit nicht erfüllt, was unter Dissensverdacht steht, muss mit politischer Entschlossenheit aus dem öffentlichen Raum entfernt werden und dem Privatglauben der Bürger anheim gestellt bleiben. Obwohl Rousseaus Republikkonzeption alle Spaltungen und Trennungen perhorresziert, muss er hier einen Dualismus akzeptieren. Neben dem einen „rein bürgerlichen Glaubensbekenntnis" gibt es auch eine Pluralität von Privatreligionen (IV.8; 468; 206). Rousseaus Republik steht auf einer Zeitenschwelle: Sie ist einerseits ein modernes Gemeinwesen, das Glaube und Konfession subjektiviert und den Bürgern das Recht auf Religionsfreiheit einräumt. Obwohl die Republik in dem Gesetzgeber einen herzenskundigen Seelenführer besitzt, der das Denken und Fühlen der Menschen in eine gemeinwohldienliche Verfassung bringt, ist doch nicht die völlige Verstaatlichung des Innenlebens verlangt. Wie der Hobbes'sche Leviathan kennt auch die Rousseau'sche Republik Nischen des Privaten, in denen der Staat nichts zu suchen hat. Und wie der Leviathan muss auch die Republik strikt darauf bestehen, dass diese Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sorgfältig beachtet wird. Die privaten Religionsüberzeugungen dürfen nicht in die Domäne des Allgemeinen eindringen und kulturelle Hegemonieansprüche anmelden. Als Gegenleistung bietet der Staat Duldsamkeit gegenüber der ganzen Vielfalt religiöser Überzeugungen. Da die Konvergenz von Gott und Gesetz in der Moderne nicht mehr aufrechterhalten werden kann, muss sich der Staat mit dem Pluralismus privater Glaubensüberzeugungen abfinden. Solange sich aus dem religiösen Gewissen der Individuen heraus kein Widerstand gegen den zivilreligiösen Katechismus, insbesondere gegen die Divinisierung der gesellschaftsvertraglichen Grundordnung regt, übt sich der Staat in Toleranz. Hinsichtlich der Bürgerkonfession ist er jedoch unerbittlich. Die Politik darf nicht darauf verzichten, ihr zivilreligiöses Konzept gegen Widerstrebende durchzusetzen.
Die Religionsfreiheit ist in Rousseaus Republik also nur selektiver Natur. Die Republik des Gesellschaftsvertrags ist ein voraufklärerisches Gemeinwesen, das von seinen Bürgern ein Glaubensbekenntnis verlangt, dessen Inhalt vom Souverän verkündet wird. Dieser Inhalt umfasst das, was die Suche nach bürgerethisch verwertbaren religiösen Materialien aus der religiösen Überlieferung herausgefiltert hat. Und hier besteht ausdrücklich Bekenntniszwang.171 Dieser Restglaube, dieses religiöse Residualbekenntnis wird von der Republik zur politischen Pflicht erhoben. Hier hat die Religionsfreiheit ihr Ende. Wer das Bekenntnis verweigert, verliert seinen Bürgerstatus und wird aus der Republik verbannt. Denn der im Sinne des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses Ungläubige gibt sich als „Feind der Gesellschaft" zu erkennen, „der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für die Pflicht zu opfern". Wer seinen Bürgerglauben jedoch nur als Lippenbekenntnis äußert, Zustimmung nur heuchelt und in seinem Verhalten seinen zivilreligiösen Unglauben beweist, ist wie der schlimmste Verbrecher zu behandeln und mit dem Tode zu bestrafen.
Und was umfasst das zivilreligiöse Bekenntnis? Was ist hängen geblieben, nachdem Rousseau den Dogmenfundus der religiösen Überlieferung nach Unstrittigem und zugleich bürgerethisch Verwendbarem durchkämmt hat?
„Die Glaubenssätze der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Sätze sind: die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten; die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze" (IV.8; 468; 207).
Im Wesentlichen handelt es sich hier um eine fundamentale religiöse Syntax, um eine Grammatik des Glaubens, deren semantische Interpretation den einzelnen Konfessionen, den menschlichen Glaubenssystemen überlassen bleiben muss. Man stößt auf dieses abstrakte Religionsprogramm, wenn man die gemeinsame Struktur vorfindlicher ausgearbeiteter Religionsgestalten sucht. Keine Religion, jedenfalls keine aus dem Bereich der abendländischen Überlieferung, ohne eine theistische These; keine auch, die dem vorausgesetzten Gott nicht übermenschliche, alle menschlichen Grenzen in kognitiver wie praktischer Hinsicht überschreitende Kompetenzen zuschreibt. Und gemeinsam ist allen Religionen auch ein sanktionistisches Programm, das die gesellschaftliche Praxis des Handlungslobs und des Handlungstadels über das Grab hinaus verlängert und ein postmortales Gratifikations- und Sanktionssystem einrichtet. Dass dieses hinwiederum eine sowohl unsterbliche als auch empfindungsfähige, durch Belohnung und Bestrafung in ihrem Wohlbefinden beeinflussbare Seele voraussetzt, versteht sich von selbst. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Rousseaus Bürgerbekenntnis im ersten, religionsbezogenen Teil inhaltlich weitgehend der Postulatentheologie gleicht, die Kant im Dialektikteil der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt hat. In beiden Fällen haben wir es mit dem Produkt einer radikalen Abstraktion zu tun, die von der geschichtlichen Religionsgestalt nur die grammatische Grundstruktur, ein minimalistisches Definiens religiöser Überzeugung zurückbehält. Diese Abstraktion ist so weit getrieben, dass man sich kaum vorstellen kann, dass diese Programmsätze in der bürgerlichen Lebenswelt, jenseits philosophischer Diskurse die Qualität eines lebendigen, einstellungsprägenden und handlungsleitenden Bekenntnisses gewinnen können. In lebensweltlichen Kontexten begegnen solche Sätze immer in partikularisierter Gestalt, eingebettet in ausgearbeitete Überzeugungssysteme mit einer komplexen Semantik. Sie erhalten hier die Konkretheit, die die Vorstellungskraft braucht, um sich zu regen. Ohne die Bildkraft des lebendigen Vorstellungsvermögens werden die Affekte nicht gereizt, das Gemüt nicht bewegt, bleibt die von Rousseau gewünschte Motivationsverstärkung aus.
Hier genau haben aber auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Religionsgestalten ihren Ort, hier ist der Herd der Zwietracht und der Konflikte. Indem sich das Bürgerbekenntnis auf die Suche nach dem unstrittigen Minimum religiöser Überzeugung macht, um die politische Einheit nicht durch den Kampf um die einzig wahre Religion zu gefährden, erzeugt es eine abstrakte Religion des Kopfes, die in reflexiver Distanz zu der Vielfalt der lebendigen Privatreligionen tritt, gleichzeitig aber auch mit jeder der vielen Privatreligionen vereinbar ist. So ist dafür gesorgt, dass zwischen Mensch und Bürger kein Keil getrieben wird. Die Bürgerreligion erweist sich damit als typisch modernes Konstrukt. Dieselbe Überlegung, die den Rechtfertigungssubstanzialismus der Tradition durch einen Recht- fertigungsprozeduralismus ersetzt hat, steht auch hinter dem Bürgerbekenntnis. Sobald die kulturelle Homogenität einem Pluralismus von Überzeugungen, Konfessionen und Lebenseinstellungen Platz macht, wird die Gemeinsamkeitsheuristik reflexiv und abstrakt. Die Konsenssicherung wird anspruchsvoller, da sie die Gemeinsamkeiten erst durch Reflexionsanstrengungen aus der Pluralität herauspräparieren muss. Die reflexiv ermittelte Gemeinsamkeit, das, worauf man eine pluralistische Gesellschaft verpflichten kann, liegt notwendigerweise immer auf einer höheren Reflexionsebene als die konfligierenden Überzeugungssysteme. So tritt die pro- zeduralistische Vernunft an die Stelle der substanziellen, der Verfassungspatriotismus an die Stelle des Patriotismus und das Bürgerbekenntnis an die Stelle der Nationalreligion.
Diese Überlegung macht auf einen weiteren Bruch in der Rousseau'- schen Konzeption aufmerksam. Die Strategie, die zur Einführung des Bürgerbekenntnisses führte, hat Rousseau sonst nämlich mit aller Heftigkeit bekämpft. Seine Äußerungen über die bürgerbildende Kraft der Vaterlandsliebe legt die Vermutung nahe, dass er die Konzeption des Verfassungspatriotismus als hölzernes Eisen verworfen und als liberale Illusion verspottet hätte. Die Verfassung ist kein Vaterland. Aber, so müsste man ihm dann entgegnen: ein Gott ohne Geschichten, von dem wir nur wissen, dass er existiert und ein ens perfectissimum ist, ist auch nichts, woran man glauben kann. So plausibel es also scheint, die Zivilreligion mit dem Patriotismus zu verbinden, die in ihr verborgene politische Theologie als religiöse Selbsterhöhung der Republik zu deuten, es darf nicht übersehen werden, dass die beiden Konzepte in modernitätstheoretischer Hinsicht beträchtlich differieren. Ist der Patriotismus Ausdruck eines ethisch-politischen Partikularismus, der in einem polemischen Verhältnis zu den rechtsund moraluniversalistischen Ordnungsprinzipien des modernen Liberalismus steht, so ist das Bürgerbekenntnis Ausdruck eines typisch modernen Pluralismusmanagements, das die nötigen Gemeinsamkeiten, die Ressourcen sozialer Kohärenz, auf einer höheren Abstraktionsebene lokalisieren muss.
Aber gleichwohl gilt, dass sich Rousseaus politische Philosophie durch die Einführung eines Bürgerbekenntnisses, wie modern auch immer sein Zuschnitt sein mag, als voraufklärerisch erweist. Wie minimalistisch die Staatsreligion auch immer sein mag, dass die volonte generale des republikanischen Gemeinwesens auf bürgerreligiöse Unterstützung nicht verzichten zu können glaubt, dass Rousseau bürgerliche Exzellenz zivilreligiös abstützt, besagt, dass seine politische Philosophie die aufklärungskonstitutive Trennung von Politik und Religion unterläuft. Zwar nicht auf der Rechtfertigungsebene: Die Begründung der ethischen Vorzugswürdigkeit eines Gemeinschaftslebens und einer Politik der volonte generale stützt sich allein auf die Begriffsrequisiten des modernen Vertrags und ist vollständig religionsunabhängig. Jedoch auf der Ebene der Verwirklichung: Die Zivilreligion dient als Motivationsverstärker. Rousseau vertraut nicht auf die Macht des republikanischen Ethos, vertraut nicht darauf, dass die Tugend den Gesetzen Gehorsam sichert und der Gemeinsinn die Bürger zur gemeinwohldienlichen Gesetzgebung befähigt. Er kann den republikanischen Optimismus von der sich selbst belohnenden Tugend nicht teilen und spannt zusätzlich Himmel und Hölle für die Zwecke der Republik ein. Damit das möglich ist, muss das Gesetz einem göttlichen Gebot gleichgestellt werden und der Gesellschaft^vertrag die Qualität eines heiligen Textes bekommen. Daher ist die „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze" der wichtigste Glaubensartikel des Bürgerbekenntnisses. Er ist das Scharnier, das die politische Welt mit dem Übernatürlichen verbindet; jetzt kann die Gottesfurcht dort wirksam werden, wo die Furcht vor dem strafenden Staat nicht ausreicht, um gesetzestreues Verhalten zu erzwingen.
Abermals zeigt sich, dass in der politischen Philosophie Rousseaus der Begründungszusammenhang und der Verwirklichungszusammenhang auseinander klaffen; mehr noch, dass die im Verwirklichungskontext aufgebotenen institutionellen und motivationalen Elemente die im Rechtfertigungskontext herangezogenen begrifflichen Mittel konterkarieren, ja desavouieren. Denn wird der Gesellschaftsvertrag geheiligt, damit aller Kritik und Reflexion entrückt, dann kommt das einer Selbstdivinisierung der Republik gleich, durch die ihr im Begründungszusammenhang freigelegter rationaler Ursprung verstellt wird. Während die kontraktualistische Tradition davon ausging, dass die Einsicht in die rationalen Gründe staatlicher Existenz die Bürger zu einem gesetzestreuen Verhalten motivieren könnte, dass sich also der rationale Grund der Staatsentstehung in eine rationale Ursache der Staatserhaltung ummünzen ließe, reinigt Rousseau den republikanischen Verwirklichungsdiskurs von allen rationalen Elementen. Aus der Konseqenz von Selbsterhaltungsinteresse und Freiheitswesen wird ein absolutes göttliches Ereignis. Die Republik ist nichts Gemachtes, sondern etwas Gestiftetes. Zum zweiten Mal greifen übermenschliche und außerweltliche Mächte ein, um der Republik zur Wirklichkeit zu verhelfen. Erst war es der menschenkundige, doch selbst allem Menschlichen fremde Gesetzgeber, der als bürgerbildender Demiurg dafür sorgte, dass aus den Menschen Patrioten wurden. Er dementierte die Rechtfertigungsfigur der menschlichen Selbsterschaffung durch Vergesellschaftung; mit dem Übergang in den Verwirklichungsdiskurs verwandelte sich der autonomiestolze Protagonist des Vertragsstaates in ein unmündiges und politisch inkompetentes Wesen, das nach ethischer Zucht und sittlicher Formung verlangte. Jetzt ist es der Gott der Zivilreligion, der die Menschen in Furcht versetzt, damit sie bessere Bürger werden. Alles, was aus der Perspektive der Rechtfertigung sich menschlicher Klugheit und menschlicher Selbstmächtigkeit verdankte, wird jetzt menschlicher Verfügung entzogen und Ergebnis göttlicher Setzung. Gott ist der Autor des Gesellschaftsvertrags, nicht der Mensch. Und da die Struktur des Gesellschaftsvertrags, der einzig denkbaren Grundlage legitimer Herrschaft, durch den Gesellschaftsvertrag überhaupt erst offenbart worden ist, impliziert die Heiligung des Gesellschaftsvertrags auch die Autosakrierung des Contrat social. In seinem allerletzten Kapitel gibt sich Rousseaus Gesellschaftsvertrag somit als heiliges Buch zu erkennen.
Freilich gibt es auch hierzu eine Kehrseite. Während die Einführung der Zivilreligion einerseits den rationalen Ursprung des politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens verhüllt und auf die verhaltensprägende Wirkung vorrationaler Empfindungslagen setzt, ist sie selbst ein rein rationales Konstrukt, das den Sanktionismus der Maschinerie des Jüngsten Gerichts benutzt, um Bürger abzurichten. Die Zivilreligion verdankt sich einem Kalkül auf die disziplinierenden Effekte der religiösen Gewissheit, dem Jüngsten Gericht nicht entkommen zu können. Rousseau ist genauso wenig wie Machiavelli am Seelenheil der Bürger interessiert. Er will ihre Loyalität, ihre Tugendhaftigkeit, ihr Engagement; er funktionalisiert die kulturell geprägte Empfänglichkeit für religiöse Deutungen, um dieses Ziel zu erreichen. Der Glaube ist nur insoweit von Interesse, wie er für die Begründung und Festigung der Bürgermoral unentbehrlich ist. Es ist kein existenziell notwendiger Glaube, es ist ein politisch benötigter Glaube. Er ist selbst ein rationales Konstrukt, ein Instrument, der Sache nach nicht verschieden von dem Staat der Vertragstheorie. Daher wird der konstruktive Rationalismus der modernen politischen Philosophie durch die zivilreligiöse Selbstdivini- sierung der Rousseau'schen Republik keineswegs dementiert. Er erfährt vielmehr in der Rousseau'schen Religionspolitik eine Potenzierung: Selbst der deus immortalis verdankt sich dem Kalkül des Staatenbauers. Diese Überlegung macht auf einen interessanten Unterschied zwischen der Rousseau'schen Zivilreligion und dem heutigen Gebrauch dieses Terminus aufmerksam. Während unter „Zivilreligion" in der Gegenwart alle sozialmoralischen Voraussetzungen verstanden werden, ohne die die komplizierten Integrationsleistungen der modernen politischen Ordnungen des Liberalismus nicht möglich wären, die jedoch durch die Politik selbst nicht bereitgestellt und reproduziert werden können, erweist sich die Zivilreligion in der Rousseau'schen Republik als eine nicht minder notwendige Voraussetzung des Gelingens republikanischer Politik, die jedoch von der Politik selbst erschaffen wird.
Es scheint ein enger Zusammenhang zwischen Gesetzgeberkapitel und Zivilreligionskapitel zu bestehen. Beide verweisen aufeinander. Beide beweisen eine gründliche Lektüre der einschlägigen Passagen aus Machiavellis Discorsi, Die Ausführungen aus dem Zivilreligionskapitel über die Beziehung von Religion und Politik nehmen Äußerungen aus dem Gesetzgeberkapitel über die wichtige politisch Rolle der Religion insbesondere in der Gründungsphase von Staaten auf und setzen sie fort. Und wer, wenn nicht der Gesetzgeber, bringt denn die Republik auf die Idee, mit einem zivilreligiösen Glaubensbekenntnis die Bürgerloyalität zu verstärken? Schließlich zählen nicht nur Nomotheten und Staatsgründer, sondern auch Religionsstifter zu seinen Vorfahren. Die Vermutung ist keinesfalls abwegig, dass die Zivilreligion genau zu der Art von Werkzeugen gehört, mit der der charismatische Bürgerbildner die Seelen der Menschen bearbeitet.
Andererseits findet sich weder im Gesetzgeberkapitel ein Hinweis auf das bürgerliche Glaubensbekenntnis noch, was schwerer wiegt, im Zivilreligionskapitel ein Hinweis auf den Gesetzgeber. Der Grund für die Abwesenheit des Gesetzgebers im Zivilreligionskapitel könnte sein, dass in ihm etwas zur Sprache kommt, das von der Erziehungsarbeit des Gesetzgebers sachlich getrennt ist, das von eigener Art ist und eng mit der Besonderheit der Religion zusammengehört. Da sowohl die ethische Erziehung des Gesetzgebers als auch die religiöse Erziehung durch die Bürgerreligion auf die Erzeugung von Loyalität und Gemeinsinn zielen und dadurch Widerstände in den Einstellungen und dem Verhaltensrepertoire der Bürger beiseite räumen wollen, die für die Selbsterhaltung der Republik schädlich sind, muss sich die zivilreligiöse Erziehung auf einen politischen Funktionsbereich erstrecken, in dem ausschließlich religionsspezifische Motivationsunterstützung die erwünschten Bürgerleistungen sichern, wo also die natürlichen Widerstände in den Bürgern so groß sein können, dass ethische Erziehung nichts ausrichten kann. Rousseau hat den Handlungsbereich nicht explizit genannt, auf dem er sich von der Religion einen durchschlagenderen Erziehungserfolg verspricht als von der Gemeinwohlethik. Aber der Kontext erlaubt die Vermutung, dass es sich um den Kriegsdienst handelt.172 Das wird zum einen durch den martialischen Hintergrund der religionsgeschichtlichen Ausführungen von Rousseau nahe gelegt, zum anderen durch den Umstand gestützt, dass die Überzeugung von der ethischen Vorzugswürdigkeit einer gemeinwohlorientierten Politik mit dem fundamentalen Selbsterhaltungszweck der Individuen normalerweise kompatibel ist, der Patriotismus jedoch schnell seine Attraktivität verliert, wenn das Gemeinwesen von seinen Bürgern verlangt, ihr Leben für die Allgemeinheit einzusetzen, da sie sich schließlich in die Gemeinschaft begeben haben, um ihr Leben zu schützen. Auch Hobbes sieht sich mit diesem Problem konfrontiert. Seine Lösung ist jedoch nicht befriedigend. Zwar räumt er konsequenterweise den Individuen das Recht ein - es ist das einzige den Vertragspartnern im Staat verbleibende, da aus logischen Gründen nicht zu veräußerlichende Recht -, sich im Fall einer staatlichen Gefährdung ihrer Selbsterhaltung, erst recht im Fall eines staatlichen Angriffs auf Leben, Leib und Gesundheit, den Vertrag für ungültig anzusehen und den Gehorsam aufzukündigen. Andererseits redet Hobbes aber von Krieg und Verteidigung, ohne erklären zu können, wie seine zentral vom Selbsterhaltungsmotiv gesteuerten Rationalegoisten überhaupt auf die Idee verfallen können, sich zu den Waffen zu melden.
Die Rousseau'sche Republik, wir haben es weiter vorne gesehen, gründet sich auf einen Entäußerungsvertrag, dessen Reichweite das Hobbes'- sche Vorbild überschreitet. Rousseau lässt den Individuen noch nicht einmal mehr den Selbsterhaltungsvorbehalt. Das Gemeinwesen erhebt einen totalen Anspruch auf die Kraft, die Habe und das Leben seiner Bürger. Denn um die Einzelnen schützen zu können, muss es das Recht haben, Leben zu nehmen. „Um nicht das Opfer eines Mörders zu werden, ist man zu sterben bereit, wenn man Mörder wird" (II.5; 376; 94). Diejenigen, die die Gesetze brechen, werden zu inneren Feinden des Gemeinwesens und müssen „als Vertragsbrüchige in die Verbannung oder als Staatsfeind in den Tod gehen". Kein effektives Strafrecht ohne Todesstrafe. Daher muss dem Gemeinwesen das Recht zukommen, über das Leben seiner Bürger verfügen zu können, wenn das Gemeinwohl es gebietet. Ein Vertrag ist unsinnig, der eingegangen wird, um durch kollektive Anstrengungen das Leben eines jeden sicherer zu machen, bei dem jeder sich aber mit einem Selbsterhaltungsvorbehalt ausstattet, der jede selbsterhaltungsbedrohliche Handlung des Staates, somit auch alle Bestrafungen rechtswidrig macht.
Das Gemeinwesen muss sich aber nicht nur gegen innere Feinde schützen können, es muss sich auch gegen äußere Feinde zur Wehr setzen können. Es muss verteidigungsfähig sein und daher von seinen Bürgern verlangen, im Verteidigungsfall zu den Waffen zu greifen und im Notfall ihr
Leben für das Gemeinwesen zu opfern. Daher gehört der Kriegsdienst zu den Pflichten der Bürger und die Bereitschaft, für die Republik sein Leben zu opfern, zu den bürgerlichen Tugenden. Die Selbsterhaltung des Gemeinwesens verlangt, dass es über die Bürger, ihr Gut und ihr Leben verfügen darf, wenn eine Notlage eintritt. Und eine Theorie, die sich Gedanken über die Verwirklichung der Republikkonzeption macht, muss sich auch fragen, wie in den Bürgern diese bis zum Letzten gehende Pflichtbereitschaft geweckt werden kann, wie man den Bürgern eine Pflicht nahe bringen kann, die sich unmittelbar gegen ihr Selbstinteresse richtet, auch gegen das Selbstinteresse des denaturierten, zum Bürger konvertierten Naturmenschen. Denn auch der sich als Teil der Gemeinschaft definierende, seine Selbstwertschätzung wesentlich aus seiner Mitgliedschaft, seiner Zugehörigkeit zur Republik ziehende Bürger ist nicht minder selbsterhaltungsinteressiert als der Naturmensch oder der von seinem Partikularwillen geknechtete Bourgeois. Da also auch der wohlerzogene Bürger diese Selbsterhaltungsbarriere hat, kann das auf Bürgerkompetenz und Bürgerexzellenz ausgerichtete Erziehungsprogramm des Gesetzgebers nicht ausreichend sein. Es genügt, um aus Menschen Bürger zu machen. Es genügt nicht, um aus Bürgern Soldaten zu machen. Erst recht genügt es nicht, um in der Neuzeit aus Bürgern Milizionäre zu machen, denn in den Selbstverständigungsdiskursen der Neuzeit ist das Selbsterhaltungsmotiv so übermächtig, dass man nicht einfach republikanische Selbstverständlichkeiten wiederholen kann. Die Zeiten Spartas sind vorbei; auch Machiavellis Re- publikanismus kann nicht einfach umstandslos wieder belebt werden. Es bedarf ausdrücklicher und eigenständiger Anstrengungen, um eine Selbstaufopferungspflicht der Bürger gegen die Übermacht des Selbsterhaltungsmotivs durchzusetzen. Und hier kommt die religiöse Verheißung des ewigen Lebens ins Spiel. Denn zu welch Grauen erregender Selbstaufopferung Gläubige fähig sind, weiß Rousseau. Derjenige, der sich sicher ist, dass er im Jenseits für seine Wohltaten und seine gemeinwohldienlichen Opfer entschädigt wird, wird nicht zögern, auch sein Leben dreinzugeben, wenn es denn die Situation verlangt. Diese das eigene Leben nicht schonende, durch religiöse Überzeugungen getragene Pflichterfüllungskraft gilt es, in die richtigen Bahnen zu lenken, aus den religiösen Fanatikern zivilreligiöse Bürgersoldaten zu machen. „In jedem Staat, der von seinen Mitgliedern das Opfer des Lebens fordern kann, ist derjenige, der an kein zukünftiges Leben glaubt, notwendig entweder ein Feigling oder ein Narr. Man weiß aber nur zu gut, bis zu welchem Punkt die Hoffnung auf Unsterblichkeit einen Fanatiker in der Missachtung des diesseitigen Lebens führen kann. Nehmt diesem Fanatiker seine Visionen und gebt ihm die gleiche Hoffnung als Preis der Tugend - ihr werdet einen wahren Bürger aus ihm machen."173 Wahre Bürger machen, das will der Gesetzgeber, das will auch das bürger-

liehe Glaubensbekenntnis. Der Gesetzgeber zielt bei seiner Erziehungsarbeit auf den Bürger als Gesetzgeber; die Zivilreligion zielt bei ihrer Erziehungsarbeit auf den Bürger als Soldaten.

Aber natürlich ist diese rationale Verwendung religiöser Überzeugungen verallgemeinerbar. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Rousseau nur daran gedacht hat, eine Motivationslücke für die republikanische Miliz zu schließen. Es ging ihm grundsätzlich darum, die religiösen Gewissheiten, insbesondere die Gewissheit, dem Jüngsten Gerichts nicht entkommen zu können, für die Festigung der Bürgertugend zu nutzen. Die Zivilreligion entstammt nicht der Sorge um das Seelenheil der Bürger; dieses ist Rousseau so gleichgültig wie Machiavelli. Die Einführung der Zivilreligion verdankt sich der Sorge um loyale, tugendhafte Bürger.

„Die menschliche Natur geht nicht rückwärts"

Rousseau hat sich nie sonderliche Illusionen hinsichtlich der Verwirklichung seines Republikanismuskonzepts gemacht. Er war sich über die Kluft, die seine Vorstellungen von der Wirklichkeit und die in ihr sichtbar waltenden Entwicklungstendenzen trennen, völlig im Klaren. Er warnt davor, „dass man meine Grundsätze über meine Absicht und über die Vernunft hinaus Überspannen darf, dass es nicht mein Plan ist, den Umlauf des baren Geldes zu unterdrücken, sondern nur zu verlangsamen, und vor allem zu beweisen, wie wichtig es ist, dass ein gutes ökonomisches System nicht ein bloßes Finanz- und Geldsystem sei"174. Und was Rousseau hier über seine ökonomischen Anschauungen sagt, lässt sich getrost auf andere Bereiche seiner politischen Philosophie ausdehnen. In seiner autobiographischen Schrift Rousseau juge de Jean-Jacques heißt es:

„Die menschliche Natur geht nicht rückwärts, und nie kommt man in die Zeiten der Unschuld und der Gleichheit zurück, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat. Dieses ist ein weiterer der Grundsätze, den er [nämlich Rousseau] immer wieder betont hat. Seine Absicht konnte es also nicht sein, die zahlreichen Völker und großen Staaten zu ihrer ursprünglichen Einfachheit zurückzuführen, sondern lediglich, wenn möglich, das Fortschreiten derer aufzuhalten, deren Kleinheit und Randlage sie vor einer so raschen Entwicklung zur Perfektion der Gesellschaft und zum Verfall der Gattung bewahrt hat. [...] Er [Rousseau] hat für sein Vaterland und für die kleineren Staaten geschrieben, die konstruiert sind wie dieses. Wenn seine Lehre auch für andere von einigem Nutzen sein konnte, so dadurch, dass sie die Gegenstände ihrer Wertschätzung veränderte und dadurch vielleicht ihren Niedergang verzögerte, den sie durch ihre falschen Wertschätzungen beschleunigten."175

Das Verhältnis normativer politischer Philosophie zur gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit kann vielfach sein. (1) Die normative Argu- mentation der politischen Philosophie transzendiert das Bestehende weder grundsätzlich noch akzidentiell. Das Sein vermag sich unverzerrt im Sollen zu spiegeln. Es gibt kein normatives Defizit der Wirklichkeit, das durch Veränderung des Bestehenden oder Intensivierung schon ergriffener Maßnahmen auszugleichen wäre. Die politische Philosophie liefert eine Legitimation des Gegebenen und mündet in eine Apotheose des Status quo. Staat und Gesellschaft sind nicht verbesserbar, weil sie gut sind. (2) Die normative Argumentation der politischen Philosophie bietet eine Legitimation der politischen Wirklichkeit im Grundsätzlichen. Sie macht jedoch darauf aufmerksam, dass die zeitgenössische politische und gesellschaftliche Realität hinter ihre eigenen normativen Überzeugungen zurückgefallen ist, dass die normativen Verheißungen der allseits geteilten Prinzipien der politisch-kulturellen Selbstverständigung noch nicht eingelöst sind. Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, sich durch stete Anstrengung auf das Niveau ihrer eigenen normativen Überzeugungen zu bringen. (3) Die normative politische Philosophie entwirft ein Bild von legitimen politischen Verhältnissen, das sich zwar beträchtlich von der vorfindlichen politischen Wirklichkeit unterscheidet, dessen Realisierung jedoch von der Entwicklung der Moderne erwartet werden kann. Kants Rechtsphilosophie ist ein Beispiel einer solchen modernitätsverbundenen politischen Reformphilosophie. Ihr großformatiger Reformismus ist obsolet, wenn innerhalb der Entwicklung der Moderne Staat und Gesellschaft die Prinzipien des kantischen Vernunftrechts angenommen haben. Dann kann sich politische Philosophie mit einem kleinformatigen Reformismus begnügen, wie ihn die zeitgenössische politische Philosophie des Liberalismus entwickelt. (4) Die politische Philosophie entwirft eine Konzeption von Staat und Gesellschaft, deren Verwirklichung verlangt, die Entwicklungsdynamik der Moderne in eine alternative Richtung zu lenken. Nur dann kann die Moderne jedoch einen anderen Weg einschlagen, wenn die bestehenden Herrschaftsverhältnisse revolutionär zerschlagen werden und auf den Trümmern des Alten sich Neues entfalten kann. (5) Politische Philosophien der Revolution teilen mit politischen Philosophien der Reform eine billigende Einstellung zur Moderne. Glauben die Letzteren, dass eine bessere Moderne das Resultat der Verbesserung der bestehenden Modernitätsgestalt ist, so glauben die Ersteren, dass nur eine alternative Modernitätsgestalt eine verbesserte Moderne sein kann. Wenn man jedoch in der Moderne überhaupt nichts Gutes sieht, ihre Entwicklungsdynamik als sich stetig beschleunigenden Niedergang deutet, dann wird man sein normatives Programm nicht im Bündnis mit der Moderne entwickeln können. Dann bleibt nur, (6) sich in die Illusion zu verrennen, das Rad der Geschichte erst anhalten und dann zurückdrehen zu können, oder sich resignierend den Entscheidungen der Geschichte zu beugen und sich die Resthoffnung zu bewahren, das Modernisierungstempo zeitweilig ein wenig verlangsamen zu können.

Nie hat Rousseau geglaubt, das Rad der Geschichte anhalten zu können. „Die alten Völker können für die neuen kein Modell sein, sie sind ihnen in jeder Hinsicht zu fremd geworden." Wo Kapitalwirtschaft und Gewinnstreben Einzug gehalten haben, kann kein republikanisches Bürgertum mehr gedeihen. Wo das Repräsentationssystem herrscht, macht sich Unfreiheit breit. Politische und sittliche Korruptionsprozesse können nicht umgekehrt werden. Man kann ihrem Fortgang nur ohnmächtig zusehen. Daher ruft Rousseau den Genfer Bürgern im 9. Brief vom Berge zu: „Bleibt an eurem Platz und jagt nicht nach den erhabenen Gegenständen, die man euch vorhält, damit ihr den Abgrund überseht, den man vor euren Füßen gräbt. Ihr seid weder Römer noch Spartaner, ja nicht einmal Athener. Lasst alle diese großen Namen, die euch nicht kleiden, ihr seid Kaufleute, Handwerker, Bürger (bourgeois), die ausschließlich mit ihrem Privatinteresse, ihrer Arbeit, ihrem Handel, ihrem Gewinn beschäftigt sind; ihr seid überhaupt Leute, für die die Freiheit selbst nur ein Mittel ist, ohne Hindernisse erwerben und in Sicherheit besitzen zu können."176 Rousseaus fulminante Kritik der Moderne in den beiden Diskursen und in den Texten seiner republikanischen Philosophie ist nie von der Zuversicht begleitet gewesen, die überschaubaren Lebensverhältnisse der Antike wiederherstellen zu können. Weder gibt es einen Weg zurück in die unverfälschte, von den Versehrungen der Vergesellschaftung verschonte Natur, noch kann man sich aus der Gegenwart befreien und in die goldenen Jahre der Geschichte zurückkehren. Machiavelli konnte sich noch in der Hoffnung wiegen, durch Rückbesinnung den Republikanismus in der Gegenwart wieder heimisch zu machen. Rousseau wusste, dass der Republikanismus in der Moderne keine Zukunft hat. Er ist sich über die Unzeitgemäßheit seiner politischen Philosophie immer im Klaren gewesen. Er wusste, dass die Entwicklungsdynamik der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Moderne ihre Verwirklichung nicht zulässt. Ihm blieb nur die Hoffnung, diese Entwicklungsdynamik allenfalls ein wenig abbremsen zu können, die liberale Änderungsgeschwindigkeit durch republikanischen Traditionsschutz verlangsamen zu können. Der Sinn der politischen Philosophie Rousseaus ist nicht Konstruktion, sondern Kritik. Insofern liegt uns mit seiner ganzen Philosophie ein einheitliches Werk vor; insofern auch bilden die beiden Diskurse, der Enzyklopädie-Artikel und der Contrat social, eine Einheit. Sowohl der homme naturel als auch der citoyen bilden Gegenentwürfe zur Moderne, die im Gestus der Kritik verharren, die selbst keinen Weg zur Verbesserung des Kritisierten weisen. Rousseau ist der Erfinder der absoluten Gesellschaftskritik, die ihre Vergeblichkeit zum Zeugen ihrer Wahrheit macht.