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10. Eigentum und Allgemeinwille

Der geschichtsphilosophische Diskurs erblickt im Eigentum den Sündenfall. Mit der Einführung des Eigentums endet die vorgeschichtliche Phase der Menschheit und beginnt die Geschichte, beginnt die bürgerliche Gesellschaft.

„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein; und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.4"99

Im Gesellschaftsvertrag rückt Rousseau von diesem harschen Urteil ab. Jetzt gilt ihm die prima occupatio nicht mehr generell als Betrug. Der erste Besitznehmer kann sich durchaus einen Rechtstitel erwerben, vorausgesetzt, er erfüllt bei seiner Landnahme drei Bedingungen100: (1) das von ihm okkupierte Land muss herrenlos und unbewohnt sein; (2) er bearbeitet es; (3) er beschränkt sich auf die Menge Land, die für die Befriedigung seiner Bedürfnisse ausreichend ist. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, besteht keinerlei Rechtsanspruch auf die gesellschaftliche Sanktionierung des Besitzes.

Diese Konzeption erinnert an Lockes Arbeitseigentum. Locke entwickelt das Eigentumsrecht als natürliches Recht und setzt sich damit von der vertraglichen Begründung des Eigentums ab, die von den Naturrechtsjuristen Grotius und Pufendorf vertreten wurde. Soll Eigentum ein natürliches Recht sein können, dann müssen Handlungen angegeben werden, die Besitzansprüche begründen. Solche Handlungen sind Handlungen der Arbeit, durch die sich die Subjektivität des Arbeitenden mit dem herrenlosen Gegenstand vermischt und diesem damit seine unverletzbare Rechtspersonalität mitteilt. Das ursprüngliche Freiheitsrecht dehnt sich durch die Bearbeitung auf den bearbeiteten Gegenstand aus, und dieser ist von allen so zu betrachten, als sei er ein Teil der unverletzbaren personalen Rechtssphäre des Individuums. Die Arbeit begründet Eigentum, indem sie ein inneres Eigentumsverhältnis auf ein äußeres Sachenverhältnis überträgt: Insofern der Mensch Eigentümer seiner selbst und seiner Handlungen ist, ist er berechtigt, das durch seine Arbeitshandlungen zuerst Veränderte und aus dem ursprünglichen Zustand des Gemeinbesitzes Herausgelöste als sein Eigentum zu beanspruchen und alle anderen von seinem Gebrauch notfalls unter Gewaltanwendung fern zu halten.101

In der Rousseau'schen Konzeption wird die Arbeit weitaus nüchterner betrachtet.102 Sie ist nicht mehr der Ort eines mystischen Transfers von Subjektivität in die Welt der Dinge. Sie wird daher auch nicht zur Grundlage des Rechtstitels. Rousseaus Eigentumskonzeption kann man als Konzeption einer qualifizierten Okkupation bezeichnen. Die Bearbeitung ist die Handlung, durch die Existenz und Grenze der Bedürftigkeit sinnfällig werden. Bearbeitung und Bestellung dienen ausschließlich der naturrechtliehen Qualifizierung der Okkupation. Diese veränderte Bedeutung der Arbeit für die Konzeption eines natürlichen Besitzanspruchs hat tief reichende Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Eigentum. Es ist leicht zu sehen, dass das Locke'sche Arbeitseigentum politisch und rechtlich unantastbar ist; durch die Vermischungsthese begegnet im Eigentum der Eigentümer. Dadurch gewinnt das Eigentumsrecht die Unantastbarkeit des Freiheitsrechts. Locke benötigt diese ausgezeichnete rechtliche Qualität des Eigentums, um den Staat von dem Eigentum der Bürger fern zu haken..Die alte Vorstellung vom dominium eminens, vom Staat als oberstem Besitzer aller Besitztümer seiner Bürger, ist mit dem Locke'schen Eigentumsrecht nicht vereinbar. Indem Rousseau die Arbeit auf eine okkupationsqualifizierende Bedingung reduziert, verliert das Eigentum alle staatsabwehrende Widerständigkeit. Die Rechtsfigur des dominium eminens kann zurückkehren; die volonte generale wird in der Rousseau'schen Republik zum obersten Besitzer aller bürgerlichen Besitztümer.

Der Entäußerungsvertrag verlangt die vollständige Übereignungder Individuen, all ihrer Kräfte und Güter an die Gemeinschaft. Im Tausch dafür - das verspricht ihnen Rousseau - erhalten sie Gerechtigkeit und Sicherheit. Die in ihrer Wirksamkeit beschränkten naturrechtlichen Rechtstitel gewinnen jetzt effektive Rechtskraft; die einsame Selbstbehauptung der Naturzustandsbewohner weicht dem machtvollen Schutz, den die Gemeinschaft ihren Mitgliedern und deren Habe bieten kann. „An dieser Entäußerung ist eigentümlich, dass die Gemeinschaft durch die Vereinnahmung der Privatgüter die Einzelnen nicht beraubt, sondern ihnen den rechtmäßigen Besitz sichert und die Besitznahme in ein wirkliches Recht und die Nutznießung in Eigentum verwandelt." Hinter dem Entäußerungsvertrag steckt jedoch mehr als ein Modalitätssprung von der Besitzunsicherheit zur Eigentumssicherheit, vom besitzrechtlichen Provisorium des Naturzustandes zu peremtorischen Eigentumsverhältnissen im status civilis. Wie der folgende Satz zeigt, teilt sich der Antiliberalismus der Rousseau'schen politischen Philosophie auch seiner Eigentumskonzeption mit, färbt der Antiindividualismus des Gesellschaftsvertrags auch das Eigentumsverständnis. „Die Eigentümer werden als Depositäre des öffentlichen Besitzes (depositaries du bien public) angesehen. Ihre Rechte werden von den Mitgliedern des Staates anerkannt und mit aller Kraft gegen Fremde verteidigt. Sie haben durch ihre Abtretung, die für die Öffentlichkeit und mehr noch für sie selbst günstig ist, gewissermaßen alles das zurückerhalten, was sie aufgegeben halten" (1.9; 367; 82). Mitnichten: die Allgemeinheit gibt dem Besitzer keinesfalls unentgeltlich einen sicheren Eigentumstitel; sie trägt sich vielmehr als Miteigentümer ein, als Haupteigentümer, im Vergleich mit dem der individuelle Eigentümer nur noch Verwahrer, Sachwalter, Treuhänder ist. Die innere rechtliche Beziehung zwischen Individualeigentümer und Eigentum ist so schwach, dass keinerlei rechtliche Einspruchsmöglichkeit gegen mögliche legislatorische Vorhaben der volonte generale, die Eigentumsordnung zu ändern oder das Prinzip des Privateigentums überhaupt abzuschaffen, existiert. Denn dgjLJS.Quygräxir-wir haben es gesehen, ist in seinen Handlungen weder diKcJijNaUtfr«Ghtepri»^^ zipien, den Willen Gottes oder individuelle Grundrechte eingeschränkt schon gar nicht durch selbstgegebene Gesetze. ~

Däs~Eigerttümsrecht steht damit gänzlich zur Disposition des Souveräns. Er besitzt das dominium eminens aller Besitztümer auf seinem Territorium und kann mit diesen verfahren wie er will. Rousseaus Eigentumsrecht gleicht in mancher Hinsicht darum dem subjektiven Recht in totalitären Gesellschaften. Totalitäre Gesellschaften ruhen auf einer holistischen Ontologie, die dem Allgemeinen ontologische, axiologische und politische Ho- herraingigkeif zusclireiBVürfd' däFTridivTdü'elte und Private in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Subjektive Rechte werden „den einzelnen Individuen in erster Linie nicht um ihrer selbst willen eingeräumt [...], sondern nur, um ihnen die Durchführung ihrer Lebensaufgabe, als Glied der Gemeinschaft in deren Dienst zu wirken, möglich zu machen"103. Im Gesellschaftsvertrag ist es nicht viel anders: zwar kann der Souverän nicht einzelnen Individuen das Eigentum nehmen, aber als eminenter Gesamtbesitzer kann er über das Insgesamt der Besitztümer verfügen, die Eigentumsordnung ändern, Größe, Qualität und Verwendung des Eigentums überprüfen, seinen Zielen unterwerfen und seinen Zwecken anpassen.104 Und angesichts der engen Verbindung, die zwischen dem sittlich-politischen Gelingen der Republik und einer sparsamen Lebensführung, weitgehend gleichen Vermögensverhältnissen und einer bedarfsdeckenden, auf innere wie äußere Unabhängigkeit bedachten Ökonomie besteht, darf sich auch die Allgemeinheit nicht die politische Oberaufsicht über die Privatrechtsordnung nehmen lassen. Unbeaufsichtigte property rights werden zu Totengräber jeder republikanischen Lebensform. Sie sind ein Motor der Begehrlichkeit, vertiefen die gesellschaftlichen Unterschiede, lassen zugleich Luxus und Elend entstehen, verdichten das Netz der Abhängigkeiten, heizen den Wettbewerb an.