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I. Das Programm der Herrschaftslegitimation

„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten [...] Wie ist es zu diesem Wandel gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihn rechtmäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann" (1.1; 351; 61). Das Problem, von dem Rousseau hier spricht, ist das Problem der Herrschaftslegitimation. Wie lässt sich angesichts des natürlichen Freiheitsrechts der Menschen Herrschaft rechtfertigen? Unter welchen Bedingungen ist es legitim, dass Menschen über Menschen herrschen? Welche Bestimmungen müssen Gesetze erfüllen, damit sie als rechtmäßige Einschränkungen der natürlichen Freiheit der Menschen Verbindlichkeit beanspruchen dürfen? Denn nicht um private, in natürlichen Unterschieden und kontingenten Abhängigkeiten wurzelnde zwischenmenschliche Machtbeziehungen geht es, sondern um politische Herrschaft, um staatliche Herrschaft. Daher kann die Frage der Herrschaftslegitimation nicht unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Existenz des Staates behandelt werden. Im Zentrum aller Herrschaftslegitimation steht darum der Staatsbeweis. Denn die Entwicklung, von der Rousseau spricht, ist die Entstehung staatlicher Verhältnisse, ist die Vergesellschaftung der Menschen unter dem Dach staatlicher Herrschaft. Und nach den Rechtmäßigkeitsbedingungen dieses in der Geschichte entstandenen Staates zu fragen heißt darum: die Bedingungen zu benennen, die staatliche Herrschaftsausübung legitimieren, die den vorfindlichen Staat zu einem rechtmäßigen Staat, die seine Gesetze zu gerechten Gesetzen machen. Denn „man muss wissen, was sein soll, um das, was ist, richtig beurteilen zu können [...] Vor der Beobachtung muss man Regeln für seine Beobachtung aufstellen. Man muss einen Maßstab aufstellen, um die Maße, die man nimmt, daran auszurichten. Unsere Prinzipien des Staatsrechts sind dieser Maßstab. Und unsere Maße sind die politischen Gesetze jedes Landes."2
Das Problem der Herrschaftslegitimation ist das Zentralproblem der politischen Philosophie der Neuzeit. Denn in der Neuzeit wird Herrschaft als solche für die politische Philosophie zum Problem. Das unterscheidet sie von der klassischen Zeit und vom Mittelalter. Vor Thomas Hobbes beschäftigte sich die politische Philosophie nicht mit der Rechtfertigung von Herrschaft, sondern mit den Kriterien, mit deren Hilfe sich gute Herrschaft von schlechter Herrschaft unterscheiden lässt. Herrschaft selbst war keinesfalls rechtfertigungsbedürftig. Dass Herrschaft aufgrund der Natur des Menschen sein müsse, war für die Philosophen selbstverständlich. Die politische

Philosophie der klassischen Zeit und des Mittelalters war darum im Wesentlichen Theorie der guten Herrschaft. Gleichgültig, ob sie in der Tradition des politischen Aristotelismus stand, dem Naturrechtsgedanken anhing oder mit tugendethischem Eifer Fürstenspiegel schrieb, immer ging es ihr darum, durch die Formulierung von Kriterien einer vorzugswürdigen Herrschaftsform und einer exzellenten Herrscherpersönlichkeit die gute Herrschaft zu unterstützen und dem tyrannischen, despotischen Regime entgegenzutreten.
Unter den Bedingungen der Neuzeit wird dieses normative Erkenntnisprogramm der politischen Philosophie radikalisiert. Die neuzeitliche politische Philosophie geht einen rechtfertigungstheoretischen Schritt hinter die normative Differenz von guter und schlechter Herrschaft zurück und macht die Rechtmäßigkeit von Staat und Gesellschaft selbst zum Problem. Damit tritt das bislang philosophisch unauffällige Faktum der Herrschaft in den Mittelpunkt des Interesses. Der Grund für diese Problemvertiefung ist das veränderte Selbstverständnis des modernen Menschen. Die Radikalität des neuzeitlichen politikphilosophischen Problembewusstseins ist eine Konsequenz der Abstraktheit der anthropologischen Voraussetzungen. Der moderne Mensch versteht sich als autonomes, aus allen vorgegebenen Natur-, Kosmos- und Schöpfungsordnungen herausgefallenes, allein auf sich gestelltes Individuum. Dieses Individuum ist aller sittlichen Bindungen beraubt, lebt jenseits aller sozialen Kontexte in uneingeschränkter natürlicher Freiheit. Der einzelne Mensch gewinnt nicht mehr durch Integration in übergreifende und von Natur aus frühere oder geschichtlich vorgegebene Gemeinschaften Wert und Sinn. Das Individuum ist zu einer absoluten Prämisse geworden, die allen Sozialbeziehungen und politischen Strukturen den Status des Abgeleiteten und Sekundären verleiht. Nur dann können die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen Legitimität beanspruchen, wenn sie die unmediatisierbare, absolute Vorausgesetztheit des Individuums respektieren, wenn sich in ihren Funktionen die Interessen, Rechte, Glücksvorstellungen der Individuen spiegeln. Und was für jede einzelne freiheitseinschränkende Institution gilt, gilt auch für die Institution aller Institutionen, gilt auch für die Institution, ohne die es keinerlei Institution und Struktur gäbe, gilt auch für den Staat. Der Staat muss sich vor dem Individuum rechtfertigen. Politische Philosophie muss unter neuzeitlichen Bedingungen daher mit einem Staatsbeweis beginnen.
Indem Rousseau den Gesellschaftsvertrag als Traktat über die Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft versteht, stellt er sich in die Tradition der neuzeitlichen politischen Philosophie. Und wie bereits der Titel kenntlich macht, teilt er auch die rechtfertigungstheoretische Grundüberzeugung der Moderne, dass weder Natur, noch Geschichte, noch Gott Herrschaft zu begründen vermögen, sondern nur menschliche Einwilligung Herrschaftsberechtigung verleihen kann? Der philosophische Nomothet der Neuzeit ist kein platonischer Ideenkenner, auch kein Naturrechtler, er ist ein Kontraktualist. Nur dann kann es eine rechtmäßige politische Herrschaft von Menschen über Menschen geben, wenn Menschen sie vereinbart haben, wenn sie einer vertraglichen Einigung entspringt. Nur dann gibt es einen legitimen Staat, wenn dieser sich auf einen Gesellschaftsvertrag gründet. Der Kern dieses voluntaristischen Legitimationskonzepts ist die Idee der Autorisierung und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Interesse unter der Rationalitätsbedingung strikter Wechselseitigkeit.
Um das unendlich freie Individuum zum legitimationsstiftenden Verzicht auf die natürliche Freiheit zu motivieren und das Theorieziel gerechtfertigter Herrschaft und begründeter, in selbst auferlegter Verpflichtung fundierter politischer Obligation zu erreichen, entwickelt die Vertragstheorie das Naturzustandstheorem. Es hat die Einsicht in das exeundum e statu naturali zu vermitteln, den Nachweis zu liefern, dass ein Zustand, in dem alle staatlichen Ordnungs- und Sicherheitsleistungen fehlen und jeder seine Interessen mit allen ihm geeignet erscheinenden und verfügbaren Mitteln zu verfolgen berechtigt ist, zu einem virtuellen Krieg eines jeden gegen einen jeden führen müsste und daher für jedermann gleichermaßen unerträglich wäre. Sodass es also in jedermanns fundamentalem Interesse läge, den gesetzlosen vorstaatlichen Zustand zu verlassen, die sich als aporetisch entdeckende absolute Ungebundenheit aufzugeben und eine Koexistenz verbürgende, politische, machtbewehrte Ordnung zu etablieren. Die zur Einrichtung des staatlichen Zustandes notwendige individuelle Freiheitseinschränkung ist allerdings nur möglich auf der Basis eines Vertrags, in dem die Naturzustandsbewohner sich wechselseitig zur Aufgabe der natürlichen Freiheit verpflichten und zugleich für die Einrichtung einer mit Gewaltmonopol ausgestatteten Vertragsgarantiemacht sorgen.
Der staatsphilosophische Kontraktualismus liefert so eine vertragstheoretische Legitimation staatlicher Herrschaft in Gestalt einer rationalen Rekonstruktion der Entstehung des Staates aus dem vereinten Willen der Bürger. Das kontraktualistische Argument weist dem Vertrag die Rolle der sichtbaren staatsgründenden Hand zu. Die Ausgangssituation der Vertragstheorie ist ein natürlicher, vorstaatlich-anarchischer Zustand.4 Die ihn charakterisierende, seine Unerträglichkeit bewirkende Konfliktträchtigkeit mag wie bei Hobbes in der Endlichkeit der Menschen und der Knappheit der Güter ihren Grund haben oder wie bei Locke auf der mangelhaften Handlungskoordinations- und Konfliktregulierungsleistung der Menschenrechtsnormen beruhen, immer ist der Naturzustand von der Art, dass nur die Etablierung staatlich organisierter Herrschaft eine Besserung der Situation verspricht. In der Naturzustandsschilderung präsentiert der Kontraktualist seine Problemsicht, und mit der von ihm entwickelten Vertragsgestalt offeriert er die passende Lösung. Lösungen können aber nur dann überzeugen, wenn sie dem Problem gerecht werden. Nur dann kann der vertragsbegründete Staat Anspruch auf die vernünftige Zustimmung aller erheben, wenn sich das Ausgangsproblem in seiner institutionellen Physiognomie und seinem Leistungsprofil spiegelt. Naturzustand und Staat verhalten sich im Kontraktualismus zueinander wie Negativ und Positiv, wie Mangel und Kompensation. Ein anderer Mangelbefund verlangt nach anderen Kompensationsstrategien. Für das Gelingen der kontraktualistischen Argumentation ist aber nicht nur wichtig, dass eine interne Entsprechungsbeziehung zwischen Naturzustand und Vertragsstaat besteht, sondern auch, dass die in der Naturzustandsschilderung vorgetragene Problemsicht einleuchtet und die ihr zugrunde liegende Anthropologie akzeptiert werden kann. Das Naturzustandskonzept entscheidet also in hohem Maße über das Schicksal der kontraktualistischen Theorie. Daher ist es kein Wunder, dass in den Schriften der Kontraktualisten die Erörterung des Naturzustandes, des menschlichen Zusammenlebens ohne jeden institutionellen Außenhalt, ohne Gesetz und Ordnung, von großer Wichtigkeit ist.5
Rousseau jedoch weicht von diesem Theorieprogramm des Stan- dardkontraktualismus ab. Im Gesellschaftsvertrag findet man keine ausgearbeitete Naturzustandstheorie. Seine Argumentation wird nicht durch die Polarität von Naturzustand und Rechtszustand strukturiert. Damit fällt auch die plausibilisierende Einbettung des staatsgründenden Vertrages in eine empirische Problemsituation fort. Der Staat gewinnt sein Legitimationsprofil nicht mehr vor einem konflikterzeugenden anarchistischen Hintergrund. Der Naturzustand wird im Gesellschaftsvertrag zu einem bloßen Zitat. Kontraktualistische Argumente haben vor Rousseau immer eine genealogische Gestalt. Zwar erzählen sie keine empirischen Staatsentstehungsgeschichten. Doch liefern sie eine rationale Rekonstruktion der Entstehung des Staates. Sie lassen den Staat gleichsam in der Gedankenretorte entstehen, entwerfen ihn als Produkt kollektiver, rationaler Entscheidung der Menschen unter bestimmten, als unstrittig angesehenen empirischen Bedingungen. Dadurch wird der geschichtlichen Kontingenz staatlicher Existenz eine rationale Struktur übergeworfen, die zum einen - herrschaftslegitimierend - der immer schon bestehenden Staatlichkeit nachträglich einen vernünftigen Existenzgrund verschafft und zum anderen - herrschaftslimitierend - einen normativen Maßstab für die legitimationstheoretische Bewertung der politischen Wirklichkeit bereitstellt.
Durch diese genealogische Einbettung des Vertrages in eine rationale Staatsentstehungsgeschichte wird der kontraktualistische Legitimationsbeweis für staatliche Herrschaft natürlich eng mit den Motiven verknüpft, den Naturzustand zu verlassen. Die durch den Vertrag gestiftete Rechtsgrundlage staatlicher Herrschaft gerät in Abhängigkeit von den Interessen,

die die Menschen bewegen. Im Rechtsgrund des Staates spiegelt sich das Motiv für den Staat. Die quaestio juris ist von einem Kranz von quaestiones facti umgeben. Das ist der Preis des Voluntarismus: Da erst die Einwilligung Legitimität, moralische Autorität und verbindliches Recht schafft, die Einwilligungshandlung aber ihrerseits auch plausibel gemacht werden muss und darum von dem Kontraktualisten in einer rationalen - und das heißt: interessegeleiteten und vorteilssuchenden - Überlegung verankert wird, muss das vertragstheoretische Argument die legitimierende Einwilligung immer von empirischen Randbedingungen abhängig machen. Diese Abhängigkeit findet ihren Ausdruck in einer merkwürdigen rationalitätstheoretischen Zwielichtigkeit des klassischen Vertragskonzepts. Denn da der Vertrag zum einen Normativität stiftet, zum anderen kausale Ursache der Staatsentstehung ist, verschafft er dem von ihm begründeten Staat eine moralisch-instrumentelle Doppelnatur: Zum einen ist der Staat eine moralische Wirklichkeit eigenen Rechts, durch die Einwilligung der Vertragspartner zum Herrschen ermächtigt, zum anderen ist er ein Instrument, erfunden, um das Naturzustandsproblem zu lösen; das eine Mal geht es um seine Legitimität, das andere Mal geht es um seine Effizienz.
Mit dem Naturzustandsfundament verliert Rousseaus Vertragsargument auch seinen genealogischen Zuschnitt. Damit tritt sein normativer Charakter rein hervor. Die Rechtmäßigkeitsuntersuchung wird nicht mehr durch die narrativ-genealogische Struktur der rationalen Rekonstruktion der Staatsentstehung überlagert. Der durch den Vertrag begründete Staat ist bei Rousseau eine freitragende normative Konstruktion, eine absolute Norm, ein ausschließlich aus der normativen Freiheitsprämisse herausgesponnenes absolutes politisches Ideal ohne jeden empirischen Außenhalt. Dass gerade Kant, der aprioristische Vernunftrechtler und methodologisch versierteste Kontraktualist, im Rousseau'schen Bürgerbund sein philosophisches Vorbild erblickt, hat seinen Grund nicht zuletzt in dieser normativen Verabsolutierung des Rousseau'schen Gesellschaftsvertrags, in seiner Unabhängigkeit von jeder empirischen Naturzustandskonstruktion. - Um dem allgemeinen methodologischen Profil der im Gesellschaftsvertrag vorgetragenen Konzeption zusätzliche Kontur zu geben, werde ich im Folgenden einen vergleichenden Blick auf Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen werfen.
Naturzustand und Vertrag im
„Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen"
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten [...] Wie ist es zu dieser Veränderung gekommen? Ich weiß es nicht." „Ich weiß es nicht"? Hier muss man Einspruch erheben. Natürlich weiß Rousseau es. Die Ironie ist hier ein wenig dick aufgetragen. Denn sein zweiter Diskurs von 1755 handelt von nichts anderem als eben diesem Wandel, bietet eine überaus eindringliche Schilderung von dem Verlust der Freiheit und der Entstehung von Herrschaft. Er entwirft eine Geschichtsphilosophie, die die Menschheitsgeschichte als einen Drei-Stadien-Prozess rekonstruiert. Das erste Stadium ist ein vorsozialer und vorgeschichtlicher Zustand, in dem die Menschen als einander meidende Einzelne leben, mit sich und der Natur in Übereinstimmung. Seine Schilderung erinnert an den Paradiesmythos. Erstaunlich ist, dass Rousseau diese prälapsarische Idyllik dadurch erreicht, dass er den Hobbes'schen Individualismus auf die Spitze treibt; denn der geschichtsphilosophische Naturzustand wird nicht als Sozialidylle, sondern als Individualidylle entworfen. Sein homme de la nature ist nicht minder asozial, nicht minder amoralisch als der Hobbes'sche Naturzustandsbewohner. Nur hat der Naturzustand in der Rousseau'schen Vergesellschaftungsgeschichte eine ganz andere Funktion als bei Hobbes. Es geht nicht darum, einen Staatsbeweis vorzubereiten. Den Naturzustand muss man aus der Hobbes'schen Perspektive ja verlassen, weil die unvermeidlichen Strategien der Machtakkumulation und des offensiven Misstrauens das Leben für alle gleichermaßen unerträglich machen.6 Rousseau hingegen treibt die Vereinzelung des Naturmenschen so weit, dass die Menschen einander aus den Augen verlieren und darum nicht zu der komparativen und kompetitiven Existenzweise gezwungen werden können, die Güterknappheit und Machtwettbewerb rationalen Individuen unweigerlich aufnötigen. Die Rousseau'schen Solitäre sind so sehr vereinsamt, dass sie keinerlei Anstrengungen unternehmen müssen, sich physisch und sozial gegen ihresgleichen zu behaupten. Daher wird ihnen das Glück unverfälschten, authentischen Selbstgenusses zuteil.
Mit der Beendigung des Naturzustandes tritt der Naturmensch in die Geschichte ein. Das sich gleich bleibende natürliche Leben löst sich in einem Prozess der Vergesellschaftung auf. Immer komplexere Formen des Zusammenlebens und der Abhängigkeit folgen aufeinander. Die Menschen verändern sich und lemen, sich zu verändern. Sie verlieren ihre Seelenruhe und ihre Selbstgenügsamkeit. Sie betrachten sich durch die Augen der anderen; ihr Leben ist durch die Ruhelosigkeit des Vergleichszwangs gezeichnet. Der Vergesellschaftungsprozess kulminiert in der Errichtung eines staatlichen Zustandes, durch den der konfliktträchtige, durch immer größere Ungleichheit zerrissene Gesellschaftszustand beruhigt wird. Die Gesamtgesellschaft unterstellt sich politischer Herrschaft. Die vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten werden durch diese größte unter Menschen denkbare Ungleichheit, durch die Ungleichheit zwischen Herren und Untertanen, zwischen Machthabern und Ohnmächtigen überwölbt und festgeschrieben. Mit dieser dritten Phase ist die Geschichte in der Gegenwart Rousseaus angekommen. Der Diskurs bietet eine historische Erklärung des zeitgenössischen Zustandes; er zeigt, wie das, was ist, geworden ist. Und in dem Naturmenschen besitzt er einen Maßstab, um festzustellen, was dieser Vergesellschaftungsprozess dem Menschen angetan hat. Er schärft unsere Beobachtung, sodass uns die Ketten unter den Blumengirlanden der kulturellen Verfeinerung und zivilisatorischen Errungenschaften nicht entgehen.7
Angesichts der vom Contrat social aufgeworfenen Verständnisprobleme ist nun von großem systematischem Interesse, dass sich Rousseaus geschichtsphilosophischer Diskurs ebenfalls der kontraktualistischen Begriff- lichkeit bedient. Er dynamisiert das kontraktualistische Argument. Sein sozialevolutionäres Geschichtspanorama spannt wie die Vertragstheorie einen Entwicklungsbogen von einem Naturzustand zu einem staatlichen Zustand und verbindet beide durch einen Prozess fortschreitender Vergesellschaftung. Wie verhält sich aber nun der geschichtsphilosophisch integrierte Kontraktualismus zum kontraktualistischen Legitimationsmodell im Gesellschaftsvertrag? Besteht zwischen beiden Schriften ein systematischer Zusammenhang? Tritt der geschichtsphilosophische Naturzustand, der Ausgangszustand des Vergesellschaftungsprozesses, in die systematische Lücke der kontraktualistischen Argumentation im Gesellschaftsvertrag? Kann Rousseau im Gesellschaftsvertrag auf den Naturzustandssockel verzichten, weil er diesen in seinem geschichtsphilosophischen Diskurs längst bereitgestellt hat?
Im Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen stellt Rousseau das kontraktualistische Argument in den Rahmen einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion der Entstehung von Gesellschaft und Herrschaft. Dadurch bekommt es den Zuschnitt einer sozialevolutionären These, die die begriffliche Trias von Naturzustand, Vertrag und staatlich gefestigter Gesellschaft in eine zeitliche Abfolge markanter Vergesellschaftungsetappen auf einem Weg zunehmender gesellschaftlicher Komplexität verwandelt. Und weil für Rousseau die Vergesellschaftung des Menschen Abfall von der Natur bedeutet und eine selbstzerstörerische Entfremdungsdynamik freisetzt, die sozialevolutionäre These von ihm also dekadenzgeschichtlich ausgelegt wird, verändert sich auch das interne Wertgefälle des kontraktualistischen Arguments vollständig. Die ihm von den neuzeitlichen Vertragstheoretikern eingeschriebene Geschichte des Übergangs von einem maximal negativen politischen Zustand zu einem maximal positiven politischen Zustand verliert ihre optimistische Färbung, wenn sie in ein geschichtliches Dekadenzpanorama eingefügt wird, das die historische Entwicklung als zunehmende Entfernung von einem maximal positiven Ausgangszustand menschlicher Existenz deutet. Will der Kontraktualist die rationale - und im Fall Kants auch: normative - Vorzugs Würdigkeit des status civilis beweisen, so offenbart sich dem Geschichtsphilosophen der Staat als Kulmination sittlicher Depravation. Der für das kontraktualistische Argument wesentliche Gegensatz zwischen natürlich-gewaltbedrohter und politisch-rechtlicher Existenzweise wird relativiert, der Unterschied zwischen kontraktualistischem Naturzustand und status civilis zu einem nur noch graduellen herabgestuft. Die beiden Angelpunkte der Vertragstheorie, Naturzustand und status civilis, sind bei Rousseau nur noch zwei Phasen innerhalb der einen menschlichen Sozialisationsgeschichte. Der bürgerliche Zustand liefert nur eine Befestigung und Sicherung der den kontraktualistischen Naturzustand prägenden Vergesellschaftungsprozesse. Insofern gipfelt in ihm die Entfremdung. Das in ihm wirklich werdende Recht ist nichts anderes als die legalisierte Gewalt des Naturzustandes, die alte Gewalt des vorvertraglichen Zustandes, die nicht überwunden ist, sondern sich in der Form des Rechts reproduziert. Und der Vertrag selbst ist das symbolische Konstitutionsereignis der staatlich gesicherten bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft, betrügerisch, widerrechtlich und unsittlich wie diese selbst.8
Überblickt man die Gesamtstruktur der geschichtsphilosophischen Abhandlung, dann zeigt sich, dass Rousseau mit zwei Naturzustandskonzepten operiert. Da ist zum einen die vorgeschichtliche Idylle des Naturmenschen, die ihm den Maßstab liefert, um das Ausmaß der sittlichen Depravation des vergesellschafteten Menschen zu erkennen. Da ist zum anderen der geschichtliche Zustand fortschreitender Vergesellschaftung, der nach dem Vorbild des kontraktualistischen Naturzustandes gedeutet wird. Beide Naturzustandskonzeptionen fügen sich jedoch nicht in den normativen Kontraktualismus des Contrat social: der Paradieszustand nicht, weil er als Vollkommenheitszustand nichts zu wünschen übrig lässt, in Sonderheit keinen Grund liefert, ihn zu verlassen und einen Staat zu gründen; der Zustand der Vergesellschaftung ebenfalls nicht, weil ihm nicht die normativen Bestimmungen innewohnen, aus denen dann kontraktualistisch die Prinzipien des Staatsrechts entwickelt werden könnten. Es gibt keine Brücke zwischen dem explanativen Kontraktualismus der Gesellschaftskritik des Ungleichheits-Diskurses und dem normativen Kontraktualismus des Gesellschaftsvertragsbuches.
Der Betrugsvertrag der Reichen
Paradiese sind nicht von Dauer. Der Sündenfall ist unvermeidbar. In der Rousseau'schen Geschichtsphilosophie übernehmen kontingente, naturverursachte Überlebensrisiken die Rolle des Sündenfalls. Die Geschichte

entsteht durch Naturkatastrophen. Eine feindselige Natur verwehrt den selbstgenügsamen Solitären, auf gewohnte Weise weiterzuleben; sie müssen zueinander finden, sich gegen die Widrigkeiten verbünden, kooperieren. Damit beginnt die Vergesellschaftung, die im Zuge der Entstehung von Eigentum und der Entwicklung von Ackerbau, Viehzucht, Bergbau und Metallurgie die Menschen immer weiter von der heilen und naturharmonischen Welt der Vorgeschichte entfernt. Im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens wird die Knappheitserfahrung auffällig und verhaltensbestimmend. Dem friktionslosen Nebeneinander in der Urzustandsidylle folgt ein Zustand des polemischen Gegeneinanders, der Konkurrenz, des Verteilungskampfes, der Selbstbehauptungsanstrengungen. Ein sich unaufhörlich steigerndes Konfliktpotenzial entsteht. Die ursprüngliche Gleichheit weicht einer sich stetig vertiefenden Ungleichheit. Der gute homme de la nature mutiert allmählich zu einem bösen Gesellschaftswesen. Die unschuldigen Selbsterhaltungsinteressen der amour de soi werden duch die skrupellosen Selbstermächtigungsstrategien der amour-propre überlagert. Der Zustand der natürlichen Tugend geht in einen Zustand des gesellschaftlichen Lasters über. Denn durch den Prozess der Vergesellschaftung wurden die Menschen
„geizig, ehrsüchtig und böse. Zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des ersten Besitznehmers erhob sich ein fortwährender Konflikt, der nur mit Kämpfen und Mord und Totschlag endete. Die entstehende Gesellschaft machte dem entsetzlichsten Kriegszustände Platz: Das Menschengeschlecht, herabgewürdigt und niedergeschlagen, nicht mehr in der Lage, auf seinem Weg umzukehren oder auf die unglückseligen Errungenschaften, die es gemacht hat, zu verzichten, und durch den Missbrauch der Fähigkeiten, die es ehren, nur an seiner Schande arbeitend, brachte sich selbst an den Rand seines Ruins."9
Es ist offenkundig, dass Rousseau den Prozess der Vergesellschaftung nach dem Alphabet des Hobbes'schen Naturzustands buchstabiert. Der natürliche Mensch des Leviathan wird zum Modell des gesellschaftlichen Menschen der Rousseau'schen Geschichtsphilosophie. Sein vergesellschafteter Mensch weist genau die asozial-kompetitive Physiognomie auf, die die szientistisch angeleitete Anthropologie Hobbes' dem Menschen als Menschen zuschreibt. Konsequenterweise wirft Rousseau Hobbes dann auch vor, das Natürliche und Gesellschaftliche verwechselt und gesellschaftliche Verhaltensmuster als Gattungsprädikate missverstanden zu haben. „Hobbes' Irrtum besteht nicht darin, zwischen den unabhängigen und soziabel gewordenen Menschen einen Kriegszustand erblickt zu haben, sondern diesen Zustand als Gattungszustand, zur menschlichen Natur gehörig, verstanden und damit als Ursache eben der Laster angesehen zu haben, deren Wirkung er ist."10
Dieser Fehler ist nicht nur Hobbes anzulasten. Auch die anderen Kon- traktualisten haben in ihren Naturzustandskonstruktionen gesellschaftliche Prägungen als natürliche Eigenschaften ausgegeben: „Sie sprachen vom wilden Menschen und beschrieben den bürgerlichen Menschen."11 Sie haben allesamt den Abstraktionsprozess nicht weit genug getrieben und sind nie in dem Naturzustand angekommen, den Rousseau im Auge hat. Wie aber kann dieser erreicht werden? Rousseau ist sich darüber im Klaren, dass die Natur des Menschen schwer erkennbar ist, da der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung seine ursprüngliche Beschaffenheit erheblich verändert hat, diese von kulturell erworbenen Eigenschaften und Verhaltensmustern immer stärker überlagert worden ist. Der gesellschaftliche Mensch ist daher nach Rousseau der Gestalt des Meergottes Glaukos vergleichbar12, die, durch die Wucht der Wogen entstellt und mit einer dichten Kruste aus „Muscheln, Meertang und Steinen" überzogen13, unerkennbar geworden ist. Rousseau bezieht sich mit diesem Gleichnis auf eine berühmte Stelle in der Politeia, in der Platon seinerseits die Entstellungsgeschichte des Meergottes benutzt, um die Schwierigkeiten zu illustrieren, mit denen die empirische menschliche Selbstbeobachtung bei ihrem Bemühen, die wahre, durch die körperliche Umwelt nicht verdorbene Seelennatur zu erfassen, konfrontiert ist. Rousseau benötigt die wahre Menschennatur als normativen Maßstab, um die verderblichen Auswirkungen der Vergesellschaftung bestimmen zu können, um das Ausmaß der zivilisationsverursachten Verderbnis sichtbar machen zu können, um auch die sittlich unbedenkliche empirische Ungleichheit der Menschen von der sittlich bedenklichen gesellschaftlich produzierten Ungleichheit an ökonomischer, sozialer und politischer Macht, an Ansehen, Ruhm und Erfolg unterscheiden zu können.
Die Verwirklichung dieses gesellschaftskritischen Programms wirft aber ein großes Problem auf, da die Wahrheit der Kritik ihre eigene Unmöglichkeit impliziert: Die normative Vergleichsgröße steht aufgrund der erfolgreichen Vergesellschaftung nicht mehr zur Verfügung. Wie kann in einer Zeit der totalen Vergesellschaftung ein gesellschaftsexterner, ein vorgeschichtlicher Standort eingenommen werden? Wie kann die archäologische Suche nach den Umrissen der authentisch-lauteren Anfangsgestalt je erfolgreich sein? Woher soll diese Scheidekunst stammen, die den Naturmenschen aus den gesellschaftlichen Verwucherungen herauszutrennen weiß, die zu „entwirren" vermag, „was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, und einen Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird und von dem zutreffende Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen"14? Insgeheim war sich Rousseau darüber im Klaren, dass der Standpunkt der Unmittelbarkeit eine gesellschaftliche Konstruktion ist, dass nichts vermittelter ist als das gesellschaftskritische Ideal der Unmittelbarkeit.
In einer wichtigen Hinsicht weicht der gesellschaftliche Kriegszustand Rousseaus von dem Hobbes'schen status naturalis ab: Es ist kein Zustand der Gleichheit, sondern ein Zustand der Ungleichheit, und zwar einer sozio-ökonomisch verursachten, einer menschengemachten Ungleichheit. Folglich wird auch der Konfliktcharakter dieses Zustandes von Rousseau nicht als ein bellum uniuscuiusque contra unumquemque beschreiben, sondern sozio-ökonomisch interpretiert und auf einen fundamentalen Antagonismus zwischen Armen und Reichen zurückgeführt. Entsprechend ändert sich das Motiv, den Naturzustand zu verlassen, ändert sich auch die für die Naturzustandsmängel vorgesehene Therapie: Will bei Hobbes sich der Mensch vor den Menschen schützen, so wird bei Rousseau die staatliche Festigung der Gesellschaft mit dem Klasseninteresse der Reichen in Verbindung gebracht. Und ist bei Hobbes der Staat als Naturzustandsprävention für jedermann gleichermaßen von Vorteil, so gerät bei Rousseau der Staat vornehmlich als Selbstschutzvereinigung der Reichen, als Trutzburg des Eigentums in den Blick. Denn für die Reichen bedeutet die Unsicherheit des Naturzustandes die größte Gefahr, zumal ihnen ja nicht nur die Kräfte für eine ausreichende und dauerhafte Verteidigung ihrer Besitzungen fehlen, sondern ihre Besitztitel selbst ja auch nur auf den schwankenden Boden der Gewalt gegründet sind. Rousseau gibt den Appropriateu- ren nicht die soliden Rechtfertigungsmittel an die Hand, die ihnen von der naturrechtlichen Eigentumstheorie Lockes angeboten werden. In dieser Situation der Gefahr nun
„ersann der Reiche, von der Notwendigkeit gedrängt, [...] den ausgeklügeltsten Plan, der dem menschlichen Geist jemals eingefallen ist. Er bestand darin, die Kräfte selbst jener, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten einzuspannen, aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maximen einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig wären. In dieser Situation erfand er - nachdem er seinen Nachbarn die Entsetzlichkeit einer Situation dargestellt hatte, die sie alle die Waffen gegeneinander ergreifen ließ, die ihnen ihre Besitztümer ebenso zu einer Last machte wie ihre Bedürfnisse und in der keiner, weder in der Armut noch im Reichtum seine Sicherheit fand - leicht Scheingründe, um sie zu diesem Ziel hinzuführen. „Vereinigen wir uns", sagt er ihnen, „um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen in Schranken zu halten und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört: Lasst uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind, die kein Ansehen der Person gelten lassen und die in gewisser Weise die Launen des Glücks wieder gutmachen, indem sie den Mächtigen und den Schwachen gleichermaßen wechselseitigen Pflichten unterwerfen. Mit einem Wort: Lasst uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der
Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht hält [...] Dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben, die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen."15
Rousseau verteidigt seine Erklärung der Staatsentstehung mit der Cui- bono-Maxime: Es sei nur „vernünftig anzunehmen, dass eine Sache eher von denen erfunden worden ist, denen sie nützt, als von jenen, welchen sie schadet"16. Daher können vertragliche Vergesellschaftung und Staat keinesfalls auf das Interesse der Armen zurückgeführt werden: „Da die Armen nichts zu verlieren hatten als ihre Freiheit, wäre es eine große Torheit von ihnen gewesen, freiwillig das einzige Gut herzugeben, das ihnen blieb, um im Austausch dafür nichts zu gewinnen." Rousseau stellt damit die bekannte Staatsentstehungsthese der Sophisten auf den Kopf. Die Sophisten hatten Vergesellschaftung und Staatsentstehung auf ein Schutzbündnis der Schwachen zurückgeführt, das die Starken in die Knie zwingen sollte. Aber diese Gegensätzlichkeit ist nur scheinhaft, denn die beiden Oppositionen Starke-Schwache und Reiche-Arme sind nicht parallel geordnet. Die Reichen sind - bei Licht betrachtet - nicht den Starken im Naturzustand gleichzusetzen; sie werden zu den Starken erst durch den Vertrag. Im Naturzustand sind sie die Schwachen, und die Starken sind die Armen, die sich von den schwachen Reichen freilich hinters Licht führen und über ihre Stärke täuschen lassen und darum in Bedingungen einwilligen, die ihnen für immer ihre Stärke nehmen und sie für alle Zeit zu den gesellschaftlich Schwachen machen.
Dieser Gesellschaftsvertrag, in den die Reichen die Armen listig hineingelockt haben, ist nur die erste Stufe eines gesellschaftlich-politischen In- stitutionalisierungs- und Konstitutionalisierungsprozesses, der mit der Etablierung eines Systems gesetzlicher Regeln beginnt und mit der Errichtung einer staatlichen Herrschaftsorganisation endet. Rousseaus kontraktualis- tische Rekonstruktion dieser Entwicklung folgt dabei der „allgemeinen Meinung" über diese Dinge17, und das heißt der polemisch gegen Hobbes gerichteten und überaus einflussreichen Doppelvertragslehre von Pufen- dorf, die dem Gesellschaftsvertrag noch einen Unterwerfungsvertrag folgen lässt, der, zwischen dem Volk und einem Herrscher als gleichberechtigten Rechtssubjekten geschlossen, durch absorptive Vereinigung der Willen aller in dem einen Willen des Herrschers den gesellschaftsvertraglich konstituierten politischen Körper, der Einheit der Kräfte, Handlungs- und Entscheidungsmächtigkeit, Zielstrebigkeit und Effizienz verschaffen soll.18

Mit der Herrschaftserrichtung endet jedoch nicht der Prozess der Ungleichheitsvermehrung. Der Vertrag kann der freiheitszerstörenden Dynamik der Zivilisation keinen Widerstand entgegensetzen. Kulminationspunkt dieser Zersetzung der politischen Welt ist ein „Despotismus", in dem der latente Gewaltcharakter des gesellschaftlichen Zustandes offen zum Ausbruch kommt. Der Zivilisationsprozess hat mit ihm den Tiefpunkt seines sittlichen Niedergangs erreicht. Der Staat versinkt in der Gewalt. „Hier ist das letzte Stadium der Ungleichheit und der äußerste Punkt erreicht, der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem wir ausgegangen sind. Hier werden alle Einzelnen wieder gleich, weil sie nichts sind; und da die Untertanen kein anderes Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn und der Herr keine andere Regel als seine Leidenschaften, verschwinden die Begriffe des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit aufs Neue. Hier läuft alles auf das alleinige Gesetz des Stärkeren hinaus und folglich auf einen neuen Naturzustand, der sich von jenem, mit dem wir begonnen haben, darin unterscheidet, dass der eine der Naturzustand in seiner Reinheit war, und dieser letzte die Frucht eines Exzesses der Korruption ist."19

Der ideologische Charakter der zeitgenössischen Vertragslehre

Die Integration des zeitgenössischen Kontraktualismus in den geschichtsphilosophischen Rahmen einer gesellschaftskritischen Entfremdungsgeschichte entlarvt die Vertragstheorie als Ideologie einer ungerechten, unpolitischen Gesellschaft, welche die sich im sich beschleunigenden Prozess differenzvertiefender Vergesellschaftung verflüchtigende substanzielle Allgemeinheit durch die Surrogate des formalen Rechts und der rationalen Herrschaft ersetzt und zur Bildung eines wahren Gemeinwillens nicht fähig ist. Auch wenn Rousseaus Äußerungen zu pactum unionis und pactum subjectionis sehr gedrängt und nicht immer klar sind, lassen sich in ihnen doch vier kontraktualismuskritische Motive unterscheiden. Das erste, noch am deutlichsten herausgearbeitete, bezieht sich auf den Gesellschaftsvertrag und stellt seinen ungerechten und daher unsittlichen Charakter heraus. Der Vertrag zwischen den Reichen und Armen vertieft die Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsordnung des gesellschaftlichen Naturzustandes durch formale Verrechtlichung. Es ist ein Täuschungs- und Betrugsvertrag, den die Reichen als raffiniertes Instrument ihrer Interessen handhaben, der die Armen, die objektiv nicht das geringste Interesse an der Institutionalisierung der sozio-ökonomischen Ungleichheit und damit an ihrer sozialen Deprivilegierung haben können, mit einer bewusst falschen Darstellung der Interessenlagen einwickelt und so zu einer Stabilisierung einer ihrem Interesse diametral entgegengesetzten Macht- und Güterverteilung benutzt. Die von den Reichen fingierte Allgemeinheit bemäntelt ihre partikulare Interesssenlage, bemäntelt den tief greifenden Interessenkonflikt zwischen Arm und Reich.

Welch sittliche Ungeheuerlichkeit, welch gerechtigkeitsethische Perversion Rousseau in dem Betrugsvertrag der Reichen erblickt, macht folgende sarkastische Illustrierung seines Inhalts deutlich. Sie findet sich in seiner Abhandlung über die Politische Ökonomie, die 1755, im selben Jahr wie der Ungleichheitsdiskurs, im 5. Band der Enzyklopädie veröffentlicht wurde. Ungeschminkt und voller Hohn verkündet hier der Reiche: „Sie haben mich nötig, denn ich bin reich und Sie sind arm. Schließen wir einen Vertrag: Ich erlaube, dass Sie die Ehre haben, mich zu bedienen, unter der Bedingung, dass Sie mir das Wenige geben, das Ihnen bleibt; und ich biete Ihnen als Gegenleistung dafür die Mühe, die ich habe, Ihnen zu befehlen."20 Blickt man von dieser grell-zynischen Formel auf das berühmte Titelkupfer der Erstausgabe des Leviathan von 1650, dann will man nicht recht glauben, dass es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Sache handeln soll, dass für Rousseau kein nennenswerter Unterschied zwischen dem Betrugsstaat der Reichen und dem sich friedensstiftend über Stadt, Land und Meer erhebenden Vertragsstaat Hobbes' besteht. Aber genau so ist es. Die Erzählung vom Betrugsvertrag der Reichen ist eine geschichtsphilosophisch verbrämte ideologiekritische Abrechnung mit dem zeitgenössischen Kontraktualismus, gleichgültig ob dieser Hobbes'scher, Locke'- scher oder Pufendorfscher Provenienz ist. Rousseau liest den Kontraktualismus als Ausdruck seiner Zeit, als Selbstrechtfertigung des liberalen Zeitalters. Seine Begriffe bieten ein getreues Abbild der Unsittlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Illegitimität ihrer politischen Strukturen. Beginnt mit dem Vergesellschaftungsprozess selbst bereits der Prozess des sittlichen Abstiegs, dann kann die argumentationslogische Konsequenz der Vertragstheorie gegen sie selbst gekehrt werden. Da Rousseaus Bewertungsprämissen einem Naturzustand vor dem kontraktualistischen Naturzustand entnommen sind, der kontraktualistische Naturzustand hingegen ein Spiegelbild sich vertiefender gesellschaftlicher Entfremdung ist, muss das interne Entsprechungsverhältnis zwischen naturzustandstheoretischer Problemdiagnose und kontraktueller Problemtherapie zum Ausdruck sozialevolutionärer Folgerichtigkeit werden. Im Vertrag findet die Unwahrheit der gesellschaftlichen Verhältnisse symbolisch verdichteten Ausdruck.

Der Vertrag der Reichen hat die fundamentale metakontraktualistische und vertragsmoralische Bedingung der Gleichheit verletzt21: Nicht nur müssen sich die Vertragspartner als gleiche und freie Personen wechselseitig anerkennen, auch ihre Ausgangslage muss hinreichend gleich sein, damit der Vertrag sittlich unbeanstandet bleibt. Wenn die Lebensumstände und die Interessen nicht in die gleiche Richtung weisen, kann der Vertrag keine Ordnung entwickeln, die vernünftigerweise von allen Beteiligten als Verbesserung des vorvertraglichen Zustandes angesehen und folglich gewollt werden kann. Dabei ist es offensichtlich wichtig, den für die legitimationsverschaffende Gleichheitsbedingung relevanten Referenzbereich vollständig und einvernehmlich zu bestimmen. Natürlich haben die Rous- seau'schen Reichen ein Argument vorzubringen: nämlich das Sicherheitsargument. Ohne Zweifel gilt, dass auch für den Ärmsten ein Zustand des Rechts und der Gewaltlosigkeit einem Zustand der Gewalttätigkeit und der Rechtlosigkeit vorzuziehen ist.22 Aber um einen Zustand der rechtlichen Sicherheit zu erreichen, ist es keinesfalls notwendig, die kontingente Besitzverteilung des vorvertraglichen Zustandes unkorrigiert zu übernehmen und rechtlich fest- und fortzuschreiben. Insofern der Kontraktualis- mus der Reichen gerechtigkeitsrelevante Ungleichheitsbestände einer Korrektur duch die neue vertragliche Ordnung entzieht und damit den Vertrag zur Zementierung eines ungerechten Status quo einsetzt, ist der Vertrag ein Instrument der Ungerechtigkeit.

Es ist instruktiv, einen Seitenblick auf die Rawls'sche Vertragskonzeption zu werfen.23 Rawls lässt die Naturzustandsbewohner hinter einem Schleier des Nichtwissens agieren, der den Individuen alles Wissen über sich selbst nimmt und so garantiert, dass die gewählten Prinzipien auch allgemein anerkennungsfähig sind. Gerechtigkeit durch Verschleierung allen ungerechtigkeitsrelevanten Differenzwissens: das ist das Rawls'sche Rezept; Ungerechtigkeit durch Verschleierung allen gerechtigkeitsrelevanten Ungleichheitswissens, das ist das Rezept der Reichen. Bei Rawls dient der Schleier der Unwissenheit dazu, alle Beurteilungsperspektiven abzublenden, die nicht von allen anderen rationalen Individuen geteilt werden können. Bei den Reichen dient der „Verschleierungsvertrag"24 dazu, den Referenzbereich der gerechtigkeitsrelevanten Gleichheitsbedingung einzuschränken, die faktischen Ungleichheitsbestände zu verhüllen und damit die ihnen korrespondierende Interessenungleichheit zu verdecken. Sie tun so, als ob der Vertrag zwischen Menschen, und nicht zwischen Reichen und Armen geschlossen würde. Die menschenrechtliche formale Gleichheit wird jedoch zu einem Ideologem, wenn sie materiale Ungleichheit verhüllt. Der Begriff des Menschen wird selbst zu einem Ideologem, wenn mit seiner Hilfe die über Lebenschancen entscheidende sozio-ökonomische Verteilungsstruktur als gerechtigkeitsirrelevant erklärt wird.

Gerecht kann eine vertragsbegründete Ordnung nur dann sein, wenn sie samt ihrer Verteilung gesellschaftlicher Lebenschancen einmütig von allen Beteiligten gewählt werden kann, wenn also die unterschiedlichen Interessenlagen von Reichen und Armen keine urteilsprägende Rolle spielen können. Und das ist nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: entweder wenn die Prinzipienwähler nicht wissen, ob sie zu den Reichen oder zu den Armen gehören, oder wenn es keine Reichen und Armen gibt, wenn sich die Vertragspartner unter der Bedingung annähernder sozio-ökonomischer Gleichheit zusammenfinden. Den ersten Weg hat Rawls gewählt: Er führt ihn zu den Prinzipien einer gerechten, wohl geordneten Gemeinschaft. Den zweiten Weg hat Rousseau im Contrat social eingeschlagen; er führt ihn zu einer sozialen, material gerechten Lebensordnung, in der der wahre gemeinschaftliche Wille das allgemeine Leben bestimmt.

Man kann Rousseaus Kritik des Betrugsvertrags der Reichen in vielfältige gesellschaftskritische Zusammenhänge rücken. Man kann sie als Kapitalismuskritik, als Kritik am formalen Recht, an abstraktiver Rationalisierung, am ideologischen Charakter formaler Betrachtungsweisen lesen. Man kann sie als kontextualistische Kritik lesen, die den Zusammenhang zwischen Rationalität und Abstraktion herausstellt und im Gegenzug den Umriss einer unverkürzten Vernunftkonzeption andeutet; die alle materiellen und geistigen Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in ihre Überlegungen über den Aufbau und die Kontinuitätsbedingungen einer gerechten politischen Ordnung einzubeziehen verlangt und einer rational-universalistischen Verfassung äußerer Freiheit, die von all diesen sozio-ökonomischen und ethischen Komponenten systematisch absieht, alle Vernünftigkeit abspricht.

Stellen wir Rousseaus Kritik jedoch in den hier interessierenden vertragstheoretischen Kontext, lesen wir sie als vertragstheoretische Selbstkritik und nicht als ethische Kritik an der formalen vertragstheoretischen Rationalität, dann können wir ihr folgende allgemeine metakontraktua- listische Fassung geben: Die vertragliche Konstituierung einer Rechtsordnung kann nur dann sittlich überzeugen, wenn sie unter der Bedingung vollständiger Gleichheit zustande gekommen ist. Und das meint: Nicht nur die Regeln der Handlungsfreiheit und die Regeln der Herrschaftsorganisation müssen sich einer einmütigen Entscheidung aller Beteiligten verdanken, auch die Prinzipien der Eigentumsordnung müssen vertraglich festgelegt werden. Grundsätzlich kann ein Vertrag nicht als konstitutionelles Fundament einer rechtlich-politischen Gesamtordnung dienen, wenn freiheits- und glücksrelevante Ungleich Verteilungen von materiellen Gütern der Gestaltung durch vertragsförmige politische Entscheidungsprozesse von vornherein entzogen sind.

Die anderen kontraktualismuspolemischen Motive des zweiten Discours sollen hier nur noch genannt werden; sie treten bei weitem nicht so deutlich hervor wie die Verurteilung des Betrugsvertrags. Da ist die Kritik am Herrschaftsvertrag, der die vertragliche Begünstigung der Ungleichheit fortsetzt und dem gesellschaftlichen Gegensatz zwischen Armen und Reichen die politische Kluft zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen zugesellt.

Systematisch eng verbunden mit diesem Einwand ist natürlich die Kritik an der Verdoppelung der Verträge selbst, die der politischen Selbstorganisation der Gesellschaft den Weg verlegt und die politische Selbstenteignung der Gesellschaft paradoxerweise in vertragliche Form gießt. In einer interessanten Überlegung bezweifelt Rousseau zudem die ordnungspolitische Effizienz des durch Doppelvertrag konstituierten Herrschaftsverbandes. Die beidseitige Kündbarkeit des Vertrages, die Rousseau hier unterstellt, macht angesichts des Fehlens einer vertragsjenseitigen Schiedsinstanz jede Partei zum autonomen Interpreten ihrer Vertragspflicht und damit zum Herrn des Vertrages. Würde man nicht Gott als Garantiemacht bemühen, wäre der Unterwerfungsvertrag von Beginn an wirkungslos.25

Rousseau kehrt hier das souveränitätstheoretische Argument Hobbes' gegen den Hobbes-kritischen Doppelvertrag Pufendorf sehen Zuschnitts. Das antiabsolutistische Motiv der Doppelvertragstheoretiker, die vertragseigentümliche Verpflichtungswechselseitigkeit durch einen - dem Gesellschaftsvertrag nachgeordneten und ihn rechtlich voraussetzenden - Unterwerfungsvertrag zu retten, ist mit einem untragbaren Instabilitätsrisiko behaftet, nimmt man die Vertragsstruktur denn ernst und entschärft sie nicht durch die Ad-hoc-Klausel der Unkündbarkeit26 oder eben durch die Einbettung in einen religiösen Sanktionsmechanismus. Das Schiedsrichterargument, das die Notwendigkeit einer unangefochtenen letzten Instanz herausstellt, verlegt dem Doppelvertrag den Weg und spricht sich für den souveränitätstheoretischen Absolutismus des Leviathan aus. Rousseau hat dieses Argument nie revidiert und immer an der souveränitätstheoretischen Logik des Absolutismus festgehalten. Auch die Vertragslehre des Contrat social vertritt, wie noch zu zeigen sein wird, einen souveränitätstheoretischen Hobbesianismus.​